Großdemonstration in Tschechien: Zehntausende in Weiß-Rot-Blau

In Prag gehen Rechte und verunsicherte Bürger wegen hoher Energiepreise auf die Straße. Zudem sind sie gegen die Ukraine-Politik der Regierung.

Menschenansammlung mit Flaggen in Blau, Weiß und Rot

Im nationalistischen Fahnenmeer: 70.000 Demonstranten am Samstag auf dem Prager Wenzelsplatz

PRAG taz | Der Prager Wenzelsplatz ist kein Platz, sondern ein Boulevard: sechzig Meter breit und drei Viertel Kilometer lang, eingebettet zwischen Fluss und Weinbergen, der Altstadt und der Neustadt, mit Liebespaaren und Drogendealern. Der einstige Pferdemarkt bildet heute eine Kreuzung, auf der die Welt auf Tschechien trifft und Tschechien auf Prag: als Einkaufszentrum, Flaniermeile, Touristenfalle und Straßenstrich.

In schlechten Zeiten wird der Wenzelsplatz zum Forum der tschechischen Seele. Dabei gilt: je größer das Gedränge, desto ungehaltener die Bürger.

So demonstrierten am Samstag laut offiziellen Zahlen 70.000 Menschen in Prag gegen die Regierung. Unter dem Motto „Die Tschechische Republik an erster Stelle“ hat es eine Querfront aus Rechtspopulisten und besorgtem Kleinbürgertum geschafft, Menschen aus dem ganzen Land zu einer Massendemonstration auf den symbolträchtigen Prager Platz zu bringen. Die Demonstration war schon im Voraus als schicksalweisender Protest republikweit beworben worden – als Appell an den tschechischen Patriotismus.

Entsprechend symbolträchtig gestaltete sich auch die Dramaturgie der Kundgebung: In einem weiß-rot-blauen Meer aus tschechischen Nationalflaggen ertönte zum Auftakt die tschechische Nationalhymne, eine eher schwülstige Sehnsuchtsmelodie über eine idealisierte Heimatlandschaft. Dem tschechischen Gründungsmythos zufolge sollte der heilige Wenzel aus seinem Totenschlaf erschrecken, sobald der tschechischen Nation böses Unheil drohe, um ihr mit seinen Rittern zur Seite zu stehen. Dass er weiterhin nur als Reiterstandbild über dem Wenzelsplatz thront, mag darauf schließen lassen, dass es noch immer schlimmer kommen kann.

Planlose Regierung in Krisenzeiten

Schlimmer, so der Konsens des etwas über zweistündigen Protests, der laut Polizei ohne Zwischenfälle abgelaufen ist, sei alles außer Putin. „Jedes Schwein endet in heißem Wasser“, drohten verschiedene Transparente, wobei andere das „Schwein“ beim Namen nannten: EU oder Nato, Green Deal oder Ukrainekrieg, aber vor allem die Regierung von Ministerpräsident Petr Fiala.

Schon zuvor hat die Regierung seit ihrem Antritt im November vergangenen Jahres an Wählern und Legitimität verloren. Die breite Koalition aus fünf Parteien hatte sich schon vor den Wahlen im Oktober 2021 als Zweckbündnis zusammengeschlossen, um einen weiteren Wahlsieg des Oligarchen Andrej Babiš und seiner ANO-Bewegung zu verhindern. Angesichts der derzeitigen Krise hat sich die Regierung bestenfalls als planlos erwiesen.

Dabei war es nicht die Regierung von Petr Fiala, die die tschechische Energieversorgung an Deutschland gebunden hat. Aber Fiala muss jetzt erklären, warum Tschechien sein Gas nicht direkt von Russland einkauft, sondern über den Zwischenhändler Deutschland. Und daran scheitern er und sein Kabinett gerade grandios.

Auch Marketa Pekarova-Adamova. Die junge Vorsitzende der proeuropäischen Regierungspartei TOP 09 und Chefin des Abgeordnetenhauses entgegnete den Ängsten der Tschechen vor dem kommenden Winter mit dem Rat, man solle halt einen Pulli mehr anziehen. Verteidigungsministerin Jana Černochová wiederum freut sich auf Twitter über den Tod von Darija Dugina, Tochter eines Putin-Vertrauten, und setzt den Anschlag gleich mit dem Attentat tschechischer Widerstandskämpfer auf Nazi-Scherge Reinhard Heydrich 1942. Ministerpräsident Fiala wie auch Innenminister Vit Rakušan beschwören indes den Ukrainekrieg als Grundsatzkonflikt, dessen Front bis nach Tschechien reiche.

Nächster Protest angekündigt

Derweil naht der Winter, die Strompreise sind bereits gestiegen und immer mehr kleine und mittelständische Unternehmen schließen. Die Regierung findet keine Antworten. Und die unzufriedenen Wähler keine richtige Opposition, die sich ihrer Interessen annehmen könnte.

Stattdessen gibt es Andrej Babiš und Tomio Okamura. Babiš nutzt die Krise, um Stimmen zu sammeln für die Präsidentschaftswahl, die im Januar 2023 ansteht. Okamura zündelt mit dem Ziel, auch weiterhin viel Wählerpräferenzen zu erhalten, ohne je Verantwortung übernehmen zu müssen.

Zusammen mit weiteren selbsternannten Patrioten aus dem politischen Randspektrum, einschließlich der Kommunisten, haben sie die reale Existenzangst vieler Tschechen und damit den Wenzelsplatz für sich eingenommen. Der nächste Protest ist für den 28. September geplant. Dann wird sich zeigen, ob der kalte Winter auch heiß werden wird.

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