Großdemonstration in Israel: Vereint gegen die Männergewalt
Nach dem Mord an zwei jungen Frauen protestieren in Tel Aviv zehntausende arabische und jüdische Aktivisten gegen häusliche Gewalt.
Nachdem zwei junge Frauen getötet worden waren, ist eine landesweite Debatte über Gewalt gegen Frauen entbrannt. In beiden Fällen waren die mutmaßlichen Täter Männer aus dem Umfeld der Opfer. Am Montag vor einer Woche wurde in Tel Aviv ein 12-jähriges Mädchen aus Eritrea mutmaßlich von einem Ex-Partner ihrer Mutter vergewaltigt und getötet. Am selben Tag wurde im arabischen Dorf Jish im Norden des Landes eine 16-Jährige ermordet in einer Mülltonne aufgefunden. Tatverdächtig ist ein ebenfalls aus Jish stammender 28-Jähriger.
Bereits 24 Frauen sind in Israel in diesem Jahr von männlichen Familienmitgliedern oder Partnern getötet worden. Das ist im Verhältnis etwa ein Drittel mehr als in Deutschland. Mehr als die Hälfte der Opfer hatte wegen häuslicher Gewalt zuvor die Behörden eingeschaltet – auch die beiden getöteten Teenager baten die Polizei wenige Tage vor ihrem Verschwinden um Hilfe. Auch deshalb ist die Wut der Demonstranten groß.
Viele Menschen am Rabin-Platz sind rot gekleidet. Über den Tag haben Aktivisten das Wasser in mehreren Brunnen in Tel Aviv rot gefärbt – Symbol für das Blut der ermordeten Frauen. Die 27-jährige Noga hat sich eine rote Mütze aufgesetzt, um ihrer Anteilnahme für die Opfer Ausdruck zu verleihen. Etwas abseits von der Kundgebung verteilt sie Plakate und Klatschstäbe. „Das ist ein historischer Moment“ sagt die frisch diplomierte Wirtschaftswissenschaftlerin mit den kurzen Haaren und der Nickelbrille. „Endlich tun sich Frauen zusammen, die sonst wenig miteinander zu haben – zum Beispiel arabische und jüdische Frauen.“ In der Tat sind Schilder und Slogans auf der Kundgebung zweisprachig arabisch und hebräisch. Auf der Bühne wechseln sich arabische und jüdische Rednerinnen ab.
Kritik an der Regierung
Der Kundgebung vorangegangen war am Dienstag ein landesweiter Frauenstreik, der von mehr als 300 Organisationen, Kommunen und Unternehmen unterstützt wurde. Aktivistinnen blockierten öffentliche Plätze und Straßenkreuzungen in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem, sogar am Flughafen Ben Gurion legten Mitarbeiterinnen die Arbeit nieder. Die Stadtverwaltung von Tel Aviv hat ihren Beschäftigten frei gegeben, um an den Veranstaltungen teilnehmen zu können. Man scheint sich der Tragweite des Problems bewusst zu sein. Sogar Staatspräsident Reuven Rivlin schloss sich den Protesten an – nicht aber Premierminister Benjamin Netanjahu.
Eine Studie der Ben Gurion Universität kommt zu dem Schluss, dass 40 Prozent der 16 bis 48-jährigen Frauen in Israel verbale, physische oder psychische Gewalt durch Partner erfahren haben.
Laut Angaben des Netzwerks gegen sexuelle Gewalt (ARCCI) hat jede dritte israelische Frau sexuelle Übergriffe erfahren, jede siebte wurde demnach vergewaltigt.
In 85 Prozent der Fälle kannte das Opfer den Täter, berichtet ARCCI.
Aktivisten werfen der rechten Regierung unter Netanjahu vor, Gewalt gegen Frauen nicht entschieden genug zu bekämpfen. „Wenn junge Mädchen bei einem Terroranschlag ermordet würden, würde die Regierung das in aller Welt verurteilen. Gewalt gegen Frauen wird aber nicht als Akt des Terrors verstanden“, sagte Orit Sulitzeanu, Direktorin eines Netzwerks gegen sexuelle Gewalt (ARCCI), der israelischen Zeitung Haaretz am Dienstag.
„Die Behörden müssen Beschwerden wegen häuslicher Gewalt ernster nehmen“, fordert auch Aktivistin Noga. Außerdem sollen endlich die knapp 60 Millionen Euro für Präventionsprojekte und Frauenhäuser bereitgestellt werden, die die Regierung seit 2017 verspreche.
Der politische Druck auf Netanjahu dürfte sich durch die Kundgebung am Dienstag erhöht haben. Trotz der großangelegten israelischen Militäraktion gegen die Hisbollah an der libanesischen Grenze berichteten alle großen israelischen Medien prominent über die Anti-Gewalt-Kundgebungen. Auch Aktivistin Noga ist deshalb überzeugt: „Das könnte der Beginn von etwas Großem sein!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen