Graphic Novel über Subkultur Westberlins: Von Wave zu Rave
Die Graphic Novel „Die heitere Kunst der Rebellion“ ist Chronik der Subkultur West-Berlins der 80er und 90er. Die Verfasserin war mittendrin.
Wie soll man Danielle de Picciotto nur diesen Satz glauben, der im Vorwort ihrer neuen Graphic Novel steht? „Ich bin kein großer Freund von Nostalgie“, schreibt die Künstlerin in „Die heitere Kunst der Rebellion“. Das Buch handelt von den späten Achtzigern und frühen Neunzigern in (West-)Berlin, von der Zeit also, in der Wave von Rave abgelöst und vieles ausprobiert wurde, was bis in die Gegenwart wirkt: Die Schönen der Nacht kleideten sich geschlechtlich ambivalent, Frauen waren dominant und Männer geschminkt.
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Es ist eine Zeit gewesen, an die sich viele schon sehnsüchtig erinnerten, als der Bundestag noch nicht mal von Bonn nach Berlin gezogen war.
Spätestens mit Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ lief die Erinnerungsmaschine heiß. Im Jahrestakt spuckt sie seitdem so beständig Hommagen an die Mauerstadt aus, dass selbst Nachwendekinder längst alles zu kennen glauben: Blixa Bargeld und Nick Cave im legendären Club „Dschungel“, die Hausbesetzer:innen, die Genialen Dilletanten. Und die Mieten erst.
Zu den wüsten Achtzigern und den ganz anders wüsten Neunzigern in Berlin ist schon alles gesagt worden, könnte man denken. Aber eben noch nicht von jedem. Oder vielmehr: von jeder.
Avantgarde-Mode und die Space Cowboys
Danielle de Picciotto war 1987 von New York City nach Berlin übergesiedelt und hat hier so ziemlich alles getan, um ja nicht reich, aber als Off-Kultur-Allrounderin bekannt zu werden: Sie entwarf Avantgarde-Mode, spielte in der Band Space Cowboys, malte, kuratierte und betrieb einen Kunstraum. Mit ihrem Ex-Partner Matthias Roeingh, bekannt als Dr. Motte, gründete sie die Love-Parade.
Heute ist sie Teil der Band Crime & the City Solution, gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Hacke, Bassist der Einstürzenden Neubauten. Den hat man kurz am Apparat, wenn man de Picciotto anruft, um über ihr Memoir zu reden, das sich streckenweise wie ein „Was ist was“-Buch für geschichts- und popaffine Erwachsene liest. Vor allem, weil sie eine penible Chronistin der damaligen Lebensart ist.
De Picciotto beschreibt die nervenaufreibenden Fahrten über die Transitautobahnen in der DDR, erklärt genau, was die türkischen Bäckereien ihres Vertrauens führten, wie man die Bruchbuden mit Kohlen heizte, Soljanka kochte und mit Kodakfilmen Arthouse-Produktionen bastelte.
Museum der Dinge
Ihre Graphic Novel ist eine Art Museum der Dinge, vollgestopft mit Alltagskultur und vermeintlichen Marginalien. Die waren ihr wichtig, weil man viel zu selten darüber nachdenke, wie rasend schnell sich Technologien und Gegenstände des täglichen Gebrauchs damals entwickelten, sagt Picciotto. „Es war, als ob die Zeit mit dem Dekadenwechsel dreimal so schnell vergeht.“
So ausgiebig wie an Telefonmodelle und Disketten erinnert sie sich an Modetrends, die Zeitenwenden markierten – zum Beispiel an den verschnürten Vampirlook der Wave- und Postpunkszene, der erst verschwand, als die Technofans unter ihren Rüschen zu schwitzen begannen.
Manchmal, erzählt de Picciotto, habe sie in Ostberlin Design-Ideen gesehen, die sie und die befreundete Designerin und Hutmacherin Fiona Bennett drüben im Westen auch hatten. „Ich habe mich immer gefragt, wie das sein kann“, sagt sie. Manche Ideen hätten einfach in der Luft gelegen, heißt es in der Graphic Novel.
Was genau da in der Luft lag, kriegt man nicht nur erklärt, sondern zu sehen. Durch de Picciottos flächige Schwarzweißzeichnungen, durch aufwendige Schraffuren und Texturen überträgt sich viel von der Räudigkeit des damaligen Stadtbildes, aber auch die Dekadenz ewiger Nächte in Läden wie dem Kumpelnest 3000 (das vor der Jahrtausendwende Kumpelnest 2000 hieß).
Den oft textlastigen Zeichnungen stellt sie Foto- und Artikel-Collagen aus Magazinen wie Tempo, Tip Berlin oder 030 zur Seite. De Picciotto erzählt, sie habe früher so ausdauernd Beiträge über Bekannte gesammelt, dass ihr Archiv Ende der Neunziger drei dicke Ordner umfasste. Der Vorteil von so viel Sorgfalt: Niemand wird vergessen.
Obwohl die Graphic Novel die Geschichte von de Picciottos Künstlerinnenwerdung erzählt, hält sie sich selbst dezent zurück und richtet lieber – gern in seitenumspannenden Porträts – die Scheinwerfer auf ihre Zeitgenoss:innen. Weil de Picciotto in vielen Szenen zugleich steckte, lungert man in ihrem Memoir nicht nur mit kajalgeschminkten Existenzialist:innen am Tresen herum, sondern kehrt auch zum Beispiel, wie undüster, auf ein Stück Kuchen im ehrwürdigen Café Kranzler ein.
Manchmal reibt man sich die Augen, weil de Picciotto wirklich überall mitwirkte oder vorbeischneite, wo Berliner Club- und Subkulturgeschichte geschrieben wurde: Sie kellnerte in Dr. Mottes Laden Turbine Rosenheim und machte Popcorn im Fischlabor, dem ersten Club des Techno-Empresarios Dimitri Hegemann. „In den Achtzigern ist so vieles gleichzeitig passiert, es war eine große Welle mit vielen Fischen“, sagt sie.
Gudrun Gut und Christiane Rösinger
Besonders ausgiebig widmet sich de Picciotto den Frauen der Szene(n), wobei sie neben den späteren Independent-Berühmtheiten wie Gudrun Gut und Christiane Rösinger auch heute weniger bekannte Künstlerinnen würdigt, etwa die Tänzerin Oxana Chi.
„Ich schreibe auch über Blixa und Westbam. Aber vor allem wollte ich zeigen, dass die Vielfalt größer war, als man oft in Filmen sieht“, sagt sie. „Die Frauen in der Szene werden oft vergessen. Als ich nach Berlin gezogen bin, haben mich aber gerade die Frauen extrem beeindruckt. Die waren sehr stark und präsent, haben ihren Platz eingefordert und schließlich das Gleiche wie die Männer gemacht. Mitte der Neunziger ist diese Entwicklung wieder ein bisschen abgeflacht.“
Musikerinnen-Memoiren wie Kim Gordons „Girl in a Band“ oder Viv Albertines „Typical Girl“ haben gezeigt, wie viele neue, unbeachtete Aspekte der Pop- und Zeitgeschichte es zu entdecken gibt, wenn sich mal nicht nur berühmte Männer erinnern. Auch in de Picciottos Graphic Novel werfen vor allem subjektive Details ein neues Licht auf die Zeit.
Frauenpräsenz in Westberlin
Ein Grund für die Frauenpräsenz sei zum Beispiel gewesen, dass das eingemauerte, abgeriegelte Westberlin im Vergleich zu anderen Großstädten nicht besonders gefährlich war, schreibt de Picciotto im Buch. „Die Gewalt ist einer der Gründe gewesen, warum ich aus New York City weggegangen bin. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen“, sagt sie.
„Ein Lehrer von mir wurde erschossen, Freundinnen wurden überfallen und vergewaltigt. Es war der Horror. Als ich nach Berlin zog, dachte ich: Das kann doch nicht wahr sein! Ich kann nachts um drei allein draußen rumlaufen und muss keine Angst haben.“
Ihr Westberlin ist also rau, hat mit dem grimmigen, grindigen Moloch aus anderen Erzählungen aber nicht viel zu tun. Sie habe die gesamte Szene als sehr humorvoll empfunden, sagt de Picciotto. „Ob bei dem Künstler Wolfgang Müller oder den Einstürzenden Neubauten, man hat sich die ganze Zeit über irgendwelche Absurditäten totgelacht.“
Einen besonderen Platz räumt de Picciotto den Kabarett- und Drag-Bühnen der späten Achtziger ein: Es waren Entertainer:innen wie Gérôme Castell, Bev Stroganov oder Ades Zabel, so ihre Botschaft, die Westberlin Opulenz und bissigen Humor brachten.
De Picciottos Erinnerungen enden, wenn sich die Kräne über dem Potsdamer Platz drehen. Im Gegensatz zu vielen Rückschauen liest sich „Die heitere Kunst der Rebellion“ allerdings sehr untragisch, niemals bitter. Als die Disney- und Gentrifizierung der Stadt de Picciotto und Alexander Hacke vor einigen Jahren zu doof wurden, reisten sie eine Weile ohne festen Wohnsitz umher. Über diese Zeit veröffentlichte de Picciotto 2013 die Graphic Novel „We Are Gypsys Now“.
Danielle de Picciotto: „Die heitere Kunst der Rebellion“. Walde + Graf, Berlin 2020, 200 Seiten, 19,95 Euro. Erscheint am 27. 11.
„Während unserer Wanderungen hat sich Berlin verändert“, sagt de Picciotto heute. „Zum ersten Mal seit Langem habe ich jetzt das Gefühl, dass Berlin seine Künstler wirklich ernst nimmt. Und nicht nur den Tourismus. Politiker kennen sich besser als früher mit der Kulturszene aus, das macht einen großen Unterschied.“
Danielle de Picciotto mag kein nostalgischer Mensch sein, ganz ohne Nostalgie kommt ihr Memoir natürlich trotzdem nicht aus. Aber das ist in Ordnung – weil ein Weg aus dem „Dschungel“ immer in die Gegenwart führt.
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