Graphic Novel „Das Gutachten“: Im Schatten des Deutschen Herbstes
Süffisante Illustration der Bonner Republik: Jennifer Daniel erzählt eine westdeutsche Nachkriegsgeschichte zwischen RAF, Crime und Kuriositäten.
Miriam Becker – jung, links, alleinerziehende Mutter – sympathisiert mit der RAF. Wir befinden uns im Jahr 1977. Miriam ist auf dem Weg zu einer politischen Aktion vor dem Bonner Kanzleramt in der alten Bundesrepublik, als sie mit ihrem Auto auf einer Landstraße verunglückt. Der Unfallverursacher begeht Fahrerflucht.
Jennifer Daniel: „Das Gutachten“. Graphic Novel. Carlsen Verlag, Hamburg 2022, 208 Seiten, 25 Euro
Miriam stirbt mitsamt ihrem kleinen Sohn. Doch auch ein alkoholisierter Herr Martin beobachtete den Unfall und wird zum Zeugen. Am nächsten Tag liegt Miriams Leiche im Rechtsmedizinischen Institut. Herr Martin, Fotoassistent des Chef-Forensikers, verliert bei ihrem Anblick das Bewusstsein.
Die in Düsseldorf lebende Zeichnerin Jennifer Daniel hat sich für ihre zweite, beim Hamburger Carlsen Verlag erschienene Graphic Novel „Das Gutachten“ von alten Familienfotos aus den 1970ern inspirieren lassen. Ihr eigener Großvater stand Modell für ihren Protagonisten, „Herr Martin“. Die im Anhang des Buches abgebildeten Fotos zeigen den Großvater als Assistenten der Rechtsmedizin oder vor seinem Auto, einem VW Käfer.
Ein weiteres Bild zeigt ihn mit dem geliehenen Porsche seines Chefs, der am Ende des Buches eine nicht unwichtige Rolle spielen wird. Außerdem ist da auch eine Ente abgelichtet, ein etwas ramponierter „2 CV“, wie ihn Miriam Becker im Comic fährt.
Höhepunkt des linksextremistischen Terrors
Die leicht vergilbten Fotos aus Opas Kiste gaben den Anstoß für diese fiktive Kriminalerzählung, den die Zeichnerin nun im Sommer 1977, am Vorabend des „Deutschen Herbstes“ angesiedelt hat. Der linksextremistische Terror erreichte damals in der Bundesrepublik seinen Höhepunkt.
1977:Dieses Jahr steht in der Geschichtsschreibung für die Entführung und Ermordung des Unternehmerpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch ein RAF-Kommando, die Flugzeugentführung der „Landshut“ durch palästinensische Terroristen, die die RAF unterstützen wollten, und schließlich die Selbstmorde der in Stuttgart-Stammheim einsitzenden RAF-Anführer.
In der Graphic Novel wollen Miriam Becker und ihre Mitstreiter mit einer relativ harmlosen Aktion beim Kanzlerfest auf die Freilassung der „politischen Gefangenen“ in Stammheim hinwirken. Im Zentrum der Erzählung steht nun die Frage: Wer hat den Tod der jungen Aktivistin auf dem Gewissen?
Zunächst steht der etwas linkisch wirkende Herr Martin selbst unter Verdacht. Der zieht gerne, wenn er sich unbeobachtet wähnt, einen Flachmann aus der Jacke, um sich ein wenig zu betäuben – oder vielmehr, um zu vergessen. Immer wieder flackern Erinnerungen auf, die Herrn Martin bedrängen: Bilder vom Kriegsende, als der damals gerade 18-Jährige als Soldat an der Westfront eingesetzt wurde und getötet hatte.
Nie vergessene Kriegsbilder
Die traumatischen Bilder hat er nach 1945 nie vergessen können, und darüber zu reden, ist auch nie eine Option gewesen. Die Bilder der jungen Mutter und ihres toten Kindes bedrängen ihn jetzt.
Herr Martin, Ende 40, führt ein damals typisches deutsches Biedermann-Leben. Sein Eheleben ist eher funktional und wenig zärtlich, die Schwiegermutter scheint ein Drachen und sein Sohn macht gerade die Führerscheinprüfung – einst der wichtigste Einstieg ins Erwachsenenleben. Doch um seine Familie sorgt sich Herr Martin eher wenig.
Er versucht vielmehr, dem unfallflüchtigen Fahrer auf die Schliche zu kommen. Und das führt ihn in die „besseren“ Bonner Kreise. Doch da stößt er auf unerwartete Seilschaften, die hinter den Kulissen verhindern, dass das „Gutachten“ von Herrn Martins Chef, dem Professor, die Wahrheit ans Licht bringt.
Jennifer Daniel erzählt diese vielschichtige Geschichte auch als Generationenkonflikt: zwischen jenen Menschen, die in Deutschland die Nazizeit als Erwachsene miterlebt haben (wie Herr Martin und sein Vorgesetzter) und der damals jungen 68er-Generation (Miriam, ihre Freundinnen und ein paar unbeholfene linke Aktivisten).
Siebzigerjahre mittels zeittypischer Accessoires abgebildet
Während die Selbstherrlichkeit der Älteren, für die insbesondere der Professor steht, recht präzise getroffen sind, erscheinen die Alltagsprobleme der jungen Mutter Miriam bisweilen jedoch etwas banal und allzu bekannt. Doch fällt das nicht zu sehr ins Gewicht, da Daniel den Spannungsbogen ihrer Kriminalerzählung stetig anzieht.
Die grafische Gestaltung wirkt dabei überaus zeitgemäß und gelungen. Schon „Earth Unplugged“, das 2013 im Jaja Verlag erschienene Debüt und die Abschlussarbeit der 1986 in Bonn geborenen, studierten Grafikdesignerin, zeugte neben einer intelligenten Öko-Science-Fiction über einen totalen Blackout von grafischer Raffinesse wie inhaltlicher Originalität.
In „Das Gutachten“ (das dieses Jahr wie ihr Debüt für den Max-und-Moritz-Preis des Comicsalons Erlangen nominiert war, aber nicht reüssierte) beschwört Jennifer Daniel die siebziger Jahre mittels zeittypischer Accessoires wieder herauf: historische Automarken, Zigaretten, Hüte, Manschettenknöpfe und nicht zuletzt der Flachmann als bester Freund charakterisieren ihre Figuren und dienen ebenso zur süffisanten Illustration einer Epoche.
Obwohl im Grunde eine dichte Personenstudie, kreiert die Zeichnerin auch so manche „Massenszene“, um die Machtverhältnisse der alten Bonner Republik sichtbar zu machen. Insbesondere im Vorlesungsraum an der Uni, wo der autoritäre Professor es mit einer renitenten Studentin zu tun bekommt. Oder im Bonner Theater, wo (die sofort erkennbaren) Helmut und Loki Schmidt ihr Kanzlerfest für die damalige Bonner Hautevolee ausrichten.
Gezeichnet ist das alles in sehr stimmigen, ausgewählten Farbflächen (Cordsakko-Braun und Polizeiuniform-Grün dominieren) und unter weitgehendem Verzicht auf Konturierungen der Figuren, Gegenstände und Architekturen. Was wie aquarelliert aussieht, hat die Zeichnerin komplett am Computer kreiert – eine Technik, die vor allem der Franzose Alexandre Clérisse (u. a. „Ein diabolischer Sommer“) zur Perfektion gebracht hat.
Die Düsseldorferin hat jedoch durchaus ihren eigenen Stil entwickelt, der, durch vielfältige Illustrations- und Grafik-Design-Erfahrungen trainiert, auf klare, gut lesbare Bilder setzt und sich durch eine große Leichtigkeit auszeichnet.
So gelingt Jennifer Daniel ein spannender, von subtiler Komik geprägter Krimi über zwei Schicksale in einer politischen Umbruchszeit. Die hochpolitischen siebziger Jahre stellt sie dabei wohltuend nüchtern dar, ohne jede romantisierende Verklärung. Mit ihrer Hauptfigur des Herrn Martin ist ihr ein berührendes Psychogramm eines im Gestern gefangenen Kriegsbeteiligten gelungen, der an seinen Erinnerungen und Gewissensbissen zerbricht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!