Gesundheit global ist machbar. Vier Vorschläge zur Genesungder Welt

International koordinierte Versorgung für alle statt Nothilfe. Medizinische Güter als Gemeinwohl statt Patentschutz. Demokratisierung statt Marktlogik. Nord-Süd-Kooperation statt Braindrain und Ausbeutung. Das wären die Eckpunkte einer neuen globalen Gesundheitsordnung

:

Tine ­Hanrieder

leitet die Forschungsgruppe „Globale humanitäre Medizin“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)

Von Tine Hanrieder

Die globale Gesundheit ist nicht erst seit der Covid-19-Pandemie in der Krise. Dies lässt sich an Statistiken zu weltweitem Hunger, zur Kindersterblichkeit und Lebenserwartung in Subsahara-Afrika oder auch am akuten Mangel vieler Länder an Gesundheitsfachkräften ablesen. Auch die Ungleichheiten innerhalb von Ländern sind eklatant, zum Beispiel zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen in den USA oder zwischen Gruppen mit verschiedenem sozioökonomischem Status in Europa. Nun, da die Pandemie diese Zustände dramatisch verschärft, stellt sich wieder die Frage, welche Gesundheitspolitik eigentlich wünschenswert wäre.

So viel vorweg: Dabei sollte nicht zu eng gedacht werden. Ohne grundlegende Änderungen der Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse weltweit wird es nicht gehen. Dazu zählen beispielsweise die universelle soziale Grundsicherung, die Gewährleistung des Rechts auf Wasser und auf Nahrung, die Stärkung von Minderheiten- und Frauenrechten oder ein fairer Welthandel. Dies sind einige der wesentlichen sozialen und politischen Determinanten von Gesundheit.

Doch nicht zuletzt unterstreicht die Krise, was ebenfalls längst bekannt war: Die Ordnung der globalen Gesundheit ist gelinde gesagt reparaturbedürftig. Sie ist von einer unguten Mischung aus nationalen Egoismen, bestürzenden Akten der Selbstentmachtung von Staaten gegenüber privatwirtschaftlichen Partikularinteressen und von häufig neokolonialen Verhältnissen in der Nord-Süd-Kooperation geprägt.

Eine Wunschliste für eine faire und lebenswerte Weltgesundheitspolitik müsste also noch viel länger ausfallen, als es hier möglich ist. Doch vier wichtige Bereiche seien im Folgenden skizziert.

Erstens gehört dazu der Aufbau starker Gesundheitssysteme, die für alle gleichermaßen zugänglich sind. Sogar viele wohlhabende Staaten machen hier ihre Hausaufgaben nicht oder nur zum Teil – denken wir nur an die Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten, auch in Deutschland. Doch noch schlimmer trifft es Länder mit niedrigem Einkommen, die auf internationale Zuwendungen angewiesen sind. Diese kommen insgesamt zu wenig und zu unregelmäßig, und überdies haben sie meist die Form krankheitsspezifischer Sonderprojekte – ein Labor für dies, eine Impfkampagne gegen jenes.

Viele Projekte, die den Einsatz neuer Technologien zum Hauptrezept machen, schreiben von vornherein die Aussicht auf stärkere Gesundheitssysteme ab und stellen sich geradezu zynisch auf chronische Notversorgung ein. Noch dazu sind die Empfänger in der Pflicht, internationale Zuschüsse mit eigenen, nationalen Mitteln „nachhaltig“ zu machen und damit ihre Gesundheitspolitik den Prioritäten der unzähligen Geber anzupassen.

Ist es zu verwegen, sich zu wünschen, dass diese Geber sich bindend verpflichten, ihre Investitionen verlässlich zu gestalten und in den Dienst nationaler Gesamtkonzepte zu stellen? Und sich dabei einer verbindlichen Koordinationsinstanz unterzuordnen? Sodass beispielsweise Technologien, Personal und Ausbildungswege so gestaltet werden, dass sie neben der internationalen Pandemieabwehr für die vielen anderen drängenden Probleme der Empfängerländer zumindest einen Nebennutzen haben? Und wie ist das zu schaffen, ohne wieder bei Absichtserklärungen zu verbleiben oder einfach eine weitere Organisation dem bestehenden Institutionenwirrwar hinzuzufügen? Bei aller Kritik an mancher Entscheidung oder Strukturschwäche: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Anlaufstelle der Gesundheitsministerien aller Länder sollte hierbei eine zentrale Rolle spielen.

Zweitens steht auf dieser Liste eine Entkoppelung der Produktion öffentlicher Güter – wie Medikamente, Tests, medizinische Hilfsmittel – vom Patentsystem. Dass das globale Regime für intellektuelles Eigentum mit seinem starkem Monopolschutz nicht funktioniert, ist keine Neuigkeit. Dieses System scheitert erstens bei der Gesundheitsvorsorge, etwa wenn keine neuen Antibiotika produziert werden, obwohl die alten immer weniger wirken. Es scheitert ebenso in Bezug auf fairen Zugang zu Arzneimitteln, wenn lebenswichtige Wirkstoffe immer wieder hinter Patentmauern verschwinden.

Freiwillige Patentpools und Arzneispenden, wie sie in der aktuellen Krise debattiert werden, sind bestenfalls die karitative Notlösung. Die kommt bestenfalls da zum Einsatz, wo der öffentliche Druck besonders hoch ist. Dabei haben Forschende und zivilgesellschaftliche Netzwerke längst eine Reihe von Modellen entwickelt, mit denen sich die Forschung und Entwicklung vom Patentsystem entkoppeln lässt, im Sinne des Gemeinwohls. Die Zeit ist überreif, diese Modelle in der Praxis zu erproben.

Drittens gehört die Demokratisierung der Gesundheitswirtschaft auf die Liste. In vielen Ländern versuchen Regierungen bereits, privatisierte Gesundheitseinrichtungen wieder in die öffentliche Pflicht zu nehmen, etwa in Spanien oder Irland. Gerade wird vielerorts das Ausmaß sichtbar, in dem private Ausgliederungen und Rentabilitätsmodelle den Gesundheitssektor ausgehöhlt haben. Wird uns die Krise dauerhaft an die öffentliche Verantwortung für Gesundheit gemahnen – national wie international?

Demokratisierung hieße dabei nicht nur, auf Marktversagen mit öffentlicher Gesundheitspolitik, von der nationalen bis zur Gemeindeebene, zu reagieren. Sie hieße auch, Ge­sund­heits­ar­bei­te­rinnen, von der Community-Health-Arbeiterin in Pretoria über die Hygienekraft in Ma­drid bis hin zur Ärztin in Paris, stärker mitbestimmen zu lassen. Diese Menschen werden heute gefeiert. Damit sie morgen nicht wieder vergessen werden, brauchen sie Einfluss. In einer Welt, in der siebzig Prozent aller Gesundheitsarbeiterinnen Frauen sind, wäre dies auch ein Schritt hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit.

Schließlich, viertens, eine Entkolonialisierung der globalen Gesundheit. Die vielen Forschungsinitiativen und internationalen Partnerschaften, mit denen reiche und arme Länder gemeinsam Gesundheit verbessern wollen, haben zwar oft den Anspruch, lokale Kapazitäten aufzubauen. Die globale Hilfsmaschinerie verstetigt aber immer noch Wissensmonopole in den reichen Ländern, abgesichert durch Elite-Institute, Patente, und Produktionskapazitäten. Hinzu kommt eine unzureichend gesteuerte Fachkräfteabwanderung in der Forschung und in der Primärversorgung etwa mit Krankenschwestern und Pflegekräften.

Dass die Kompensationen für diesen Braindrain von Süd nach Nord nicht ausreichen, können wir jetzt live beobachten. In einer besseren globalen Gesundheitswirtschaft hätten die vielen Menschen in aller Welt, die etwas für die Gesundheit bewegen wollen, auch die Möglichkeit, das zu guten Bedingungen dort zu tun, wo sie am meisten gebraucht werden.