Gianna Nannini über Lebenskrisen: „Die Frau muss entscheiden“
Vor 40 Jahren erlangte sie Ruhm als feministische Rebellin und Rockstar. Jetzt hat Gianna Nannini ein neues Album – und Kritik an der Wahl in Italien.
taz: Gianna Nannini, Sie haben die Rock-’ n’- Soul-Stimme einer Tigerin, aber in einigen Ihrer Liebeslieder klingen Sie plötzlich wie ein sehr verletzlicher Tiger. Fragil.
Gianna Nannini: Ich bin ein tigre fragile? (Lacht.) Das ist schön …
Liebe macht uns stark und verletzlich, oder?
Ja. Aber mir gefällt das auch, weil Fragilität ein Ausdruck der Rockmusik ist. Der wunde Punkt einer Person ist oft auch der stärkste. Wenn du Lieder schreibst, hat es manchmal keinen Sinn, deinen wunden Punkt zu verstecken.
Sie haben international Karriere gemacht – in ihrer Muttersprache Italienisch.
Warum immer und überall auf Englisch singen? Auch Europa ist fragil – in diesen Fragen der Sprache. Es ist sehr schwer, Gefühle genau auszudrücken in einer Sprache, die nicht deine eigene ist. Im Italienischen haben wir unsere Wurzeln mehr in der folk tradition, auch deshalb singe ich nur italiano. Das Lied klingt besser auf Italienisch, weil wir einfach mehr Vokale in unserer Sprache verwenden.
Berühmt geworden sind Sie als feministische Rebellin – große Stimme, großes Herz, ganz viel Mut. Aber das war alles nicht immer einfach, oder?
Nein. Mit 18 wollte ich nur weg von zu Hause, von Siena. Ich bin nach Mailand gegangen. Für meine Musik. Ich habe damals auch mit Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern gearbeitet, ich wollte helfen, aber wir haben schnell gemerkt, dass wir selbst mehr Probleme hatten als die Leute im Hospital. (Lacht.) Das war immer mein Traum – als Psychologin zu arbeiten. Auf meinem ersten Album habe ich eines der Lieder einer Frau gewidmet, die in der Psychiatrie war. Wir hatten in den 70er Jahren eine große antipsychiatrische Bewegung in Italien – kennen Sie Franco Basaglia?
Oh, ja! Basaglia hat dafür gekämpft, die Anstalten zu öffnen. Heute gehen wir leider rückwärts, einige Psychiater machen sogar wieder Werbung für Elektroschocks – in Deutschland.
Was? Nein!
Geboren ist die italienische Komponistin, Texterin und Sängerin 1956 in Siena. Ihren ersten Welterfolg landete sie 1979 mit „America“ und einem LP-Cover, auf dem die Freiheitsstatue statt Fackel einen Dildo trägt. Sie lebt heute in London und ist mit ihrem neuen Album „Amore Gigante“ im März auf Deutschland-Tour.
Ja, sie nennen es heute „Elektrokrampftherapie“. Vielleicht sollten Sie eine neue Version Ihres Songs „Scandalo!“ schreiben.
Ich werde „Scandalo“ auf der neuen Tour singen, auf jeden Fall. Aber ich wusste nicht, dass heute wieder Elektroschocks verabreicht werden. In Deutschland? Das ist furchtbar! 2016 habe ich ein Buch geschrieben, es ist noch nicht übersetzt. Es heißt „Cazzi miei“: „Mein eigener Scheiß“. Das Buch erklärt, was mir 1979 bei Studioaufnahmen in Köln passiert ist: Ich bin selber verrückt geworden. Mit sehr viel Hilfe von Freunden habe ich wieder rausgefunden aus meinen Problemen. Es war sehr schwer, zurückzukommen. Aber es war auch eine große Erfahrung. Wäre ich damals in eine normale Psychiatrie geschickt worden, ich hätte wahrscheinlich Elektroschocks bekommen.
You can read this interview in English here.
„Amore Gigante“, der Titelsong Ihres neuen Albums, klingt fast wie ein Motto für Ihr gesamtes Werk.
Wir leben in einer Zeit, in der Hass wieder groß wird. In „Amore Gigante“ geht es mir um die Chance, die wir immer noch haben – wir können auf dem gleichen Planet leben, mit all unseren verschiedenen Farben. Respekt zeigen für alle Menschen dieser Welt, ohne uns in Rassismus, Sexismus und Homophobie einzureihen. „Amore Gigante“ ist meine Antwort auf diesen Kampf jeder gegen die anderen. Das muss im Kopf passieren! Wir müssen unsern Verstand öffnen! Freedom of spirit – das ist unsere Chance.
Sie nennen sich selbst pansexuell.
Ich will dieses Brandzeichen homosexuell oder heterosexuell nicht haben. Heterosexismus, Ageism – die Welt ist voller Gefängniswörter. Worte können dich einsperren! Pansexualität steht für alle Formen der Liebe, sie ist so groß, dass keiner sie anrühren kann. Liebe sollte nie in eine bestimmte Ecke verbannt werden. Wenn wir das tun, dann drängen wir reale Menschen in die Ecke – wir spalten.
Zurzeit attackieren Rechtspopulisten die Freiheit Andersdenkender in Europa massiv. Was erwarten Sie von den italienischen Wahlen?
Zu viel Marketing: „Bla, bla, bla“. Wir haben im Moment keine wirkliche politische Kultur. Ich glaube, Italien braucht eine Frau – einfach, um diese politische Kultur zu verändern. Wir müssen verstehen, dass keine einzige Kultur besser ist als alle anderen. Sehen Sie, ich bin in den Irak gefahren, als entschieden wurde, diesen dummen Krieg anzufangen. Ich bin hingegangen, um die Wahrheit herauszufinden. Ich wollte mit den Menschen dort reden. Und ich habe die Wahrheit gesehen: Es war ein Krieg, um Geschäfte zu machen, ein Krieg um Öl und Benzin, der die Menschen umgebracht hat und ihre Kultur.
Sie haben damals einige irakische Künstler unterstützt.
Ja. Alle Museen und Kunstorte wurden im Krieg zerstört. Alle Universitäten standen in Flammen. Warum haben sie alle Bücher verbrannt? Die Kinder hatten nichts mehr, um zu lernen. Wir sind zurück nach Italien und haben Bücher und Computer eingesammelt, um wenigstens ein bisschen zu helfen.
Was hat sie am Irak fasziniert?
Die Wüste, sie ist so friedlich. Ich war zweimal im Irak während des Krieges, aber in der Wüste habe ich Frieden gefunden.
In Ihrer Autobiografie schreiben Sie, dass am Anfang Ihrer Karriere alle zu Ihnen gesagt haben: Du musst ins Bett springen mit einem guten Produzenten, sorry, aber so läuft’ s nun mal. Und Sie haben geantwortet: „Auf keinen Fall! Meine Großmutter hat mir immer gesagt, mach das bloß nicht!“ 40 Jahre später haben wir endlich eine #MeToo-Kampagne.
Vor der Wahl in Italien
In meinem Job war Prostitution in den letzten Jahrzehnten die Standardsituation für Frauen. Heute ist es anders, aber manchmal sind Frauen immer noch in der Zwickmühle. Es ist so wichtig, zu verstehen, dass wir keine Angst haben dürfen. Ich denke, dass Frauen immer für sich selbst entscheiden müssen. Wenn du dich verkaufen willst – verkauf dich! Aber die Frau muss entscheiden.
Eine Ihrer wichtigsten musikalischen Inspirationen war Janis Joplin. Sie haben mal gesagt, sie bedauern, dass alle über Joplin hergefallen sind wegen ihrer Drogensucht, anstatt ihr echte Anerkennung zu geben als Sängerin.
Janis wurde nicht genügend wertgeschätzt als Musikerin. Wenn wir von ihr als Sängerin sprechen, reden wir von ihr als Interpretin. Sie verdient aber unsere volle Anerkennung als Musikerin und als Dichterin.
Sie haben über Joplin geschrieben, in Ihrer Doktorarbeit in Philosophie und Musik. Ihr Thema war Stimme und Körper in der weiblichen Kultur.
Ich habe zu mehreren ethnischen Kulturen gearbeitet: Nepal, Neapel, Marokko, Mali und Senegal. Janis Joplin war mein Beispiel für die Rockmusik. Kurz gesagt, ich habe versucht, herauszufinden, wie die Gestualität der Bewegung den Gesang beeinflusst. Du musst fit sein, um deiner Stimme sicher zu sein, du musst dein Körper sein. Ich mache sehr viel Sport, aber es ist ein Riesenunterschied, ob du Sport machst oder einen tribal dance aufführst! Ich habe die Bewegungen von Janis Joplin in einem tribal context analysiert. Erinnern Sie sich an „Cry baby“? Hören Sie: Tryyyyiiyyeieieiyyyy.
Wow, jetzt klingen Sie wie Janis Joplins Schwester!
Das Drama wurde natürlich von ihrer Stimme geprägt, aber Janis hat ihren ganzen Körper eingesetzt – sie hat ihrem Sound Action gegeben. Es ist sehr wichtig, sich auf die eigene Kultur zu besinnen, um zu verstehen, wie du dich bewegen kannst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste