Gewerkschaftsarbeit in der Ukraine: Arbeitsrecht im Schatten des Kriegs
Gewerkschafter in der Ukraine beklagen Benachteiligung, Einschüchterung und den Missbrauch des Kriegsrechts. Sie hoffen auf den Einfluss Europas.
Auch die Perspektiven der ukrainischen Gewerkschaften lassen keinen Optimismus aufkommen. Simwolokow und Prischedko sind in der in Dnipro tätigen „Freien Gewerkschaft Spartak“ aktiv. Ihre Mitglieder haben sie in Betrieben und Krankenhäusern vor Ort. Alexej Simwolokow war lange als Dreher bei Dnepropres, einem Unternehmen der Schwerindustrie, tätig, Anatolij Prischedko ist Gabelstapelfahrer bei Interpipe.
„Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll“, beginnt Simwolokow das Gespräch. Er kommt gerade von einer Gerichtsverhandlung, bei der über eine Klage seines Kumpels Prischedko gegen seinen Arbeitgeber verhandelt wurde. „Die gute Nachricht ist“, so Simwolokow, „das Gericht hat ihm recht gegeben.“ Sein Kollege, so habe das Gericht festgestellt, sei gegenüber seinen Arbeitskollegen benachteiligt worden und deswegen erhalte er nun eine schöne Lohnnachzahlung.
Die schlechte Nachricht jedoch sei, dass das Gericht die Begründung geändert habe. Im Gegensatz zur ersten Instanz habe es nicht mehr festgehalten, dass die Minderzahlung von monatlich 100 Euro nur wegen der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft erfolgt sei. „Und mir ging es nicht in erster Linie um mehr Geld“, erklärt Prischedko. „Ich habe gegen meine Firma geklagt, weil ich mich dagegen wehren will, dass ich nur wegen meiner Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft benachteiligt werde“, so Prischedko zur taz.
Gesetzesänderungen erschweren Gewerkschaftsarbeit
Prischedko war lange in der betriebseigenen Gewerkschaft gewesen, hatte vor zwei Jahren jedoch die Gewerkschaft gewechselt, war zur „Freien Gewerkschaft Spartak“ gegangen. Und damit hatten die Probleme in seiner Firma begonnen. Die Firmenleitung habe immer wieder auf ihn Druck ausgeübt, diese Gewerkschaft wieder zu verlassen. So hatte man ihn beispielsweise als Brigadier abgesetzt. „Aus Rache“, meint er.
Und als am 1. Juni 2021 alle seine Kollegen eine Gehaltserhöhung von 100 Euro bekommen hatten, war die Gehaltserhöhung bei ihm und einem weiteren Kumpel der „Freien Gewerkschaft Spartak“ beträchtlich niedriger ausgefallen.
Gewerkschaftsarbeit, so Simwolokow, sei in der jüngsten Zeit schwerer geworden. Im Sommer hatte das Parlament einige Änderungen an der Arbeitsgesetzgebung vorgenommen. Nun erlaube Artikel 43,1 der ukrainischen Arbeitsgesetzgebung, dass Mitglieder einer Gewerkschaft entlassen werden dürfen, ohne dass hierzu das Einverständnis der Gewerkschaft eingeholt werden müsse.
Lediglich bei der Entlassung von gewählten Mitgliedern eines Gewerkschaftsorgans müsse die Gewerkschaft zustimmen. Es wurden auch Änderungen eingeführt, die Arbeitnehmer von kleineren Betrieben gegenüber ihren Kollegen in großen Betrieben diskriminieren.
Angst, die Arbeit zu verlieren
Wütend mache ihn die Haltung von Arbeitgebern und deren Interessenvertretern im Parlament, der Werchowna Rada, die zwar Lippenbekenntnisse zur Europäischen Union ablegen, in Wirklichkeit aber skrupellose Gesetze verabschieden, die in direktem Widerspruch zu den Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft stehen, wie Redefreiheit, Gewissensfreiheit, Vereinigungsfreiheit – und die Grundsätze, die in der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte und in mehreren Konventionen des Völkerrechts verankert sind, missachten.
„Meine Kollegen sind alle verängstigt“, erklärt Prischedko, deswegen wolle sich auch kaum jemand in der Gewerkschaft betätigen. Denn jederzeit könne ein Mitarbeiter beurlaubt werden. Und das heiße, man müsse zu Hause bleiben, erhalte nur zwei Drittel des Lohns. Alle hätten Angst, ihre Arbeit zu verlieren.
Die Pandemie und nun der Krieg erschwerten Gewerkschaftsarbeit sehr, so Simwolokow. „Formal haben wir immer noch die Vorschriften der Pandemie“, so Simwolokow. „Und das heißt zum Beispiel, dass Gerichtsverhandlungen nicht öffentlich sind. Nur Kläger, Beklagte und Anwälte dürften an der Verhandlung teilnehmen.“ Wenn jedoch die Firma eine Versammlung abhalte, halte sich keiner an die Vorschriften der Pandemie. Auch im öffentlichen Verkehr sieht man niemanden mit Maske.
Gleichzeitig dürfe man im Kriegsrecht nicht demonstrieren und nicht streiken. Früher hätten bei derartigen Gerichtsverhandlungen immer Kollegen vor dem Gebäude gestanden und hätten Plakate hochgehalten. Heute sei das verboten, wegen des Krieges. „Alles, was uns an Möglichkeiten einer Öffentlichkeitsarbeit bleibt, sind Online-Veranstaltungen und Gerichtsverhandlungen“, resümiert Simwolokow traurig.
Europa könnte helfen
Hoffnung setzen beide auf Europa, in zweifacher Hinsicht. „Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als die Visafreiheit in die EU eingeführt worden war“, berichtet Simwolokow. Da hatten sich die Firmen in Dnipro geradezu überboten mit attraktiven Lohnerhöhungen, hatten sie doch Angst, dass die guten Fachleute nach Europa gehen. Doch jetzt sei das vorbei, im Kriegsrecht dürfen die meisten Männer das Land gar nicht verlassen. „Und schon sind die Löhne wieder runtergegangen.“
Aber auch in anderer Hinsicht ist Europa für ihn ein Hoffnungsschimmer. „Ich hoffe sehr, dass sich die Ukraine in ihrer Arbeitsgesetzgebung an der entsprechenden Gesetzgebung in Europa orientiert. Dann können wir wieder effektiv die Rechte der arbeitenden Bevölkerung verteidigen, werden wir wieder ein reales Recht auf Streiks haben“, so Simwolokow.
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