Gewerkschaften in Deutschland: Die neue Lust am Streik
Gewerkschaftliche Arbeitskämpfe werden unter dem Druck der wirtschaftlichen Lage selbstbewusster. Entscheidend wird die Debatte ums Streikrecht.
U nter dem Motto „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit“ ruft der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in diesem Jahr zu seinen Maikundgebungen auf. Angesichts gestiegener Mitgliedszahlen verspürt der Dachverband Rückenwind. „Wir Gewerkschaften sorgen dafür, dass sich die Menschen den vielen Umbrüchen unserer Zeit nicht schutzlos ausgeliefert fühlen müssen“, heißt es selbstbewusst in seinem Aufruf zum 1. Mai. Gleichzeitig warnt der DGB vor Einschränkungen des Streikrechts.
437.000 neue Mitglieder haben die im DGB organisierten Gewerkschaften 2023 hinzugewonnen – eine beeindruckende Zahl. Das sind weitaus mehr Menschen, als der CDU oder der SPD jeweils überhaupt angehören. Bei beiden liegt die Mitgliederzahl inzwischen unter 370.000. Gleichwohl fällt der Nettozuwachs deutlich schwächer aus. Denn die Abgänge durch Austritt oder Tod sind ebenfalls enorm. So haben die DGB-Gewerkschaften insgesamt nur knapp 22.000 Mitglieder mehr als im Jahr 2022. Was allerdings schon ein großer Erfolg ist.
Im Gegensatz zu früheren Zeiten ist der Eintritt in eine Gewerkschaft heute für viele lohnabhängig Beschäftigte keine Lebensentscheidung mehr. Von einem Trend zur „Hop-on-hop-off“-Mitgliedschaft spricht der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke. Das heißt, dass sie eintreten, wenn sie sich davon konkret etwas versprechen, aber auch bald wieder austreten, wenn das Erhoffte erreicht worden ist – oder ihre Hoffnungen enttäuscht werden.
Deshalb scheint es auch verfrüht, bereits von einer Trendwende zu sprechen. Seit dem Höhepunkt 1991, als 11,8 Millionen Menschen gewerkschaftlich organisiert waren, ging in den vergangenen Jahrzehnten die Mitgliederkurve bislang immer nur beständig nach unten. Ein Produkt dieser Schwächung der Gewerkschaften ist die stark gesunkene Tarifbindung der Beschäftigten. Im Jahr 2000 konnten bundesweit noch 68 Prozent auf tarifvertraglich festgeschriebene Ansprüche zählen, 2023 waren es nur noch 49 Prozent. Immer mehr Arbeitgeber:innen stehlen sich aus ihrer sozialen Verantwortung und verhandeln nicht mehr sozialpartnerschaftlich mit den Gewerkschaften.
Wo es keinen Tarifvertrag gibt, können Gewerkschaften auch nicht für einen besseren kämpfen. Das gehört zu den Gründen, warum in nicht tarifgebundenen Betrieben die Arbeitsbedingungen in der Regel in wesentlichen Punkten deutlich schlechter sind. So ist die regelmäßige Wochenarbeitszeit dort mit 39,5 Stunden im Schnitt um fast eine Stunde länger als in Betrieben mit Tarifvertrag (38,6 Stunden).
Auch beim Lohn klafft im Vergleich eine Lücke von mehreren hundert Euro. Sie erwarte, „dass die Politik endlich für bessere und mehr Tarifbindung sorgt“, sagt die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi – womit sie die Ampelparteien an deren Koalitionsvertrag erinnert, gleichzeitig jedoch auch eigene Schwäche eingesteht.
Die Notwendigkeit zu kämpfen
Die dramatisch gestiegenen Lebenshaltungskosten nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs haben einerseits bei vielen Beschäftigten die Einsicht in die Notwendigkeit erhöht, für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen zu müssen. Andererseits war und ist das mit der Erwartung verbunden, dass auch die Gewerkschaften bereit sind, wieder kämpferischer zu werden. Das Ergebnis war eine Reihe von Tarifrunden im vergangenen und in diesem Jahr, die wieder konfliktreicher geführt wurden – und zwar nicht nur im Verkehrsbereich, auch wenn die Streiks und Warnstreiks bei der Deutschen Bahn, im öffentlichen Nahverkehr und an den Flughäfen am aufsehenerregendsten waren.
Wobei anders als bei dem spektakulären Arbeitskampf der im Beamtenbund organisierten Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) für die 35-Stunden-Woche bei den meisten aktuellen Tarifauseinandersetzungen Lohnforderungen im Mittelpunkt standen und stehen. Fast überall ist es dabei gelungen, drohende Reallohnverluste abzuwenden.
Die erkämpften Gehaltssteigerungen bewegen sich bei etlichen Tarifabschlüssen im zweistelligen Prozentbereich. Die Erhöhungen sind allerdings in der Regel auf mehrere Etappen verteilt. Die Tarifvertragslaufzeiten sind denn auch deutlich länger als von den Gewerkschaften gefordert. Was sie auch nicht durchsetzen konnten: bereits erlittene Reallohnverluste wieder auszugleichen. Aber wenigstens ist es ihnen gelungen, dass neben prozentualen Lohnerhöhungen mehr als drei Viertel aller Tarifbeschäftigten zusätzlich eine steuer- und sozialabgabenfreie Inflationsausgleichsprämie erhalten, die im Durchschnitt bei 2.761 Euro liegt.
Noch unklar ist bislang, was die IG Metall bei der größten Tarifauseinandersetzung fordern wird, die in diesem Jahr noch ansteht. Im Herbst läuft der Tarifvertrag für die rund 3,9 Millionen bundesweit in diesem Bereich Beschäftigten aus. Ab Ende Oktober könnte es hier zu den ersten Warnstreiks kommen.
Zu viele Streiks?
Interessant wird sein, ob bis dahin die bemerkenswerte Diskussion über das deutsche Streikrecht wieder abgeflaut ist. Die Rufe aus den Reihen der Arbeitgeber:innen, der Union und der FDP nach Einschränkungen des angeblich viel zu liberalen Streikrechts waren in diesem Jahr nach den äußerst wirkungsvollen Ausständen der GDL bei der Deutschen Bahn und von Verdi an den Flughäfen und im öffentlichen Nahverkehr laut geworden. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz fantasierte von „Streikexzessen“. Und selbst der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck befand demagogisch, „dass im Moment zu viel für immer weniger Arbeit“ gestreikt würde.
Doch das – ohnehin in Deutschland stark reglementierte – Recht auf Streik ist das einzige wirkliche Druckmittel, das die Gewerkschaften haben. Sonst bliebe ihnen nur noch „kollektives Betteln“, wie DGB-Chefin Fahimi konstatiert. Deswegen wollen die Gewerkschaften an diesem 1. Mai auch für den Erhalt ihres Grundrechts auf die Straße gehen.
Wozu es führt, wenn die gewerkschaftliche Durchsetzungsmacht nicht stark genug ist, zeigt das Beispiel der festgefahrenen Tarifrunde im Einzelhandel, wo es seit Mitte vergangenen Jahres keinerlei Bewegung gibt. Die Arbeitgeber:innen sind nicht bereit zu einem Lohnabschluss, der keinen Reallohnverlust bedeutet. Sie haben einfach auf stur geschaltet, weil Verdi zwar immer wieder zu Warnstreiks aufruft, der Gewerkschaft jedoch die Macht fehlt, die Supermärkte dichtzumachen. Bei zu schwachen Armen stehen die Räder nicht still. Das gilt leider für viele Branchen, in denen die Beschäftigten nicht stark genug organisiert sind.
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