Gewalt gegen Frauen in der Türkei: Wo der Staat den Schutz verweigert

Vor zwei Jahren trat die Türkei aus der Istanbul-Konvention aus. Doch ernst gemeint hat das Land es nie damit, Frauen vor Gewalt zu schützen.

Zur Faust gereckte Hände vor fünf Polizisten mit Helmen

Demonstrierende am Internationalen Frauentag in Istanbul Foto: Sedat Suna/epa

Es ist tragisch: Dass der Europarat heute ein „Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“ hat, ist auch den Frauen in der Türkei zu verdanken. Das Übereinkommen heißt im allgemeinen Sprachgebrauch „Istanbul-Konvention“. Und dennoch ist die Türkei vor zwei Jahren aus der Istanbul-Konvention ausgetreten – während Männer im Land im Schnitt jeden Tag einen Femizid begehen.

Um zu verstehen, wie das passieren konnte, lohnt sich ein Blick auf die Geschichte der Konvention. Die Türkei war 2011 Erstunterzeichnerin und hatte sogar erreicht, die Unterzeichnung in Istanbul stattfinden zu lassen. Das war kein Zufall. Denn einer der Gründe für das Zustandekommen des Übereinkommens war ein Fall aus der Türkei.

Am 9. Juni 2009 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Nahide Akgün. Seit den 1990er Jahren hatte sie, damals noch mit Nachnamen Opuz, immer wieder Anzeige gegen ihren Mann erstattet – insgesamt 36-mal. Trotzdem war Akgün weiter seiner systematischen Gewalt ausgesetzt.

Hüseyin Opuz bedrohte sie mit dem Tod, fuhr sie mit seinem Auto an, stach auf sie ein. Nur zweimal wurde er zu vergleichsweise geringen Strafen verurteilt. Mehrfach wurden die Anzeigen wegen Mangels an Beweisen fallengelassen. 2002 beschloss Akgüns Mutter Minteha Beybur, mit ihr nach Izmir umzuziehen. Doch Hüseyin Opuz verfolgte den Möbeltransporter und erschoss Beybur auf dem Beifahrersitz.

Nicht ausreichend geschützt

Im Jahr 2008 wurde Hüseyin Opuz zunächst zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch das Gericht reduzierte seine Strafe auf 15 Jahre und 10 Monate sowie eine Geldstrafe von 180 Lira. Der Grund: Opuz’ Handeln sei das „Resultat von Provokation“ gewesen, zudem habe er vor Gericht gute Führung gezeigt. Wegen der bereits in Untersuchungshaft verbrachten Zeit und seiner eingelegten Berufung wurde Opuz auf freien Fuß gesetzt.

Warum beschäftigen wir uns in einem Dossier mit Antifeminismus? Schon in vielen Liedern wird besungen: „Know your enemy“. Oft ist Antifeminismus subtil. Wie wir ihn entlarven können, wird klar, wenn wir uns mit ihm auseinandersetzen: Welche Formen nimmt er an? Wer sind die Akteur*innen? Und wie können wir ihm begegnen? Alle Dossiertexte gibt es im Online-Schwerpunkt zum feministischen Kampftag.

Der türkische Staat hatte Akgün nicht ausreichend geschützt. Zu diesem Schluss kam der EGMR und sprach damit erstmals einen Staat schuldig, und zwar wegen mangelnden Einsatzes zur Eindämmung häuslicher Gewalt. Ebenfalls zum allerersten Mal urteilte der Gerichtshof, dass geschlechtsspezifische Gewalt gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Form von Diskriminierung ist. Die türkische Regierung musste Nadihe Akgün 36.500 Euro zahlen.

Dieses Urteil sorgte für Aufruhr. Wenig verwunderlich, dass der Türkei daran gelegen war, sich im eigenen Land wie auch international wieder in ein positiveres Licht zu rücken. Doch eine echte Umsetzung des Gewaltschutzes hat es nie gegeben. Das zeigt schon die Anzahl der Femizide im Land – also der Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Einzig und allein im Unterzeichnungsjahr 2011 ging die Zahl zurück.

Gewalt nimmt rapide zu

So lückenhaft der Schutz auch war: Ohne ihn nimmt die Gewalt noch viel rapider zu. Im Jahr des Austritts 2021 wurden nach Angaben der Plattform „Wir werden Femizide stoppen“ 280 Frauen von Männern ermordet. Bei weiteren 271 Todesfälle stand der Verdacht im Raum, dass es sich um Femizide handelte – etwa, wenn Frauen während eines Streits mit dem Partner angeblich „plötzlich“ vom Balkon gesprungen sein sollen.

Nur ein Jahr später waren es bereits 334 Femizide und 245 Verdachtsfälle. Viele dieser ermordeten Frauen wurden von ihren Partnern in ihrem Zuhause getötet, obwohl sie zuvor versucht hatten, Schutz zu bekommen. All diesen Realitäten zum Trotz erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan: „Unser Kampf gegen Gewalt an Frauen hat nicht mit der Istanbul-Konvention angefangen und endet auch nicht mit dem Rückzug aus dieser Konvention.“

Schulterschluss mit Radikalen

Der Istanbul-Konvention beizutreten war vor allem ein symbolischer Akt. Und so war der Austritt letztlich nur konsequent. Erdoğan gibt inzwischen wenig auf die Zustimmung der Menschen. Immerhin waren 84 Prozent der Bevölkerung gegen den Rückzug aus dem Übereinkommen, darunter auch viele konservative Frauen.

Wichtiger ist der Regierung offenbar der Schulterschluss mit radikalen religiösen und auch nationalistischen Kräften, für die die Gleichberechtigung von Frauen vor allem eine Bedrohung der traditionellen Familie bedeutet. Und nicht zuletzt war der Schritt für Erdoğan eine weitere Machtdemonstration gegenüber einer demokratischen Zivilgesellschaft.

Der türkische Rückzug aus dem Übereinkommen wurde von vielen Demonstrationen flankiert. Die Plattform „Wir werden Femizide stoppen“ stellt klar: „Wir kämpfen für eine Zukunft, in der die Gewalt nicht zunimmt, sondern verschwunden sein wird und in der Frauen frei leben können. Wir werden die Istanbul-Konvention Wirklichkeit werden lassen.“ Doch angesichts der bestehenden Machtverhältnisse ist diese Zukunft in weiter Ferne. Die kommende Präsidentschaftswahl ist somit auch eine über die Rechte von Frauen.

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Dieser Text ist Teil der Sonderausgabe zum feministischen Kampftag am 8. März 2024, in der wir uns mit den Themen Schönheit und Selbstbestimmung beschäftigen. Weitere Texte finden Sie hier in unserem Schwerpunkt Feministischer Kapmpftag.

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