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NGOs in der Türkei„Sie wollen uns einschüchtern“

Die Türkei geht juristisch gegen NGOs vor, vor allem gegen Frauengruppen. Eine, die Femizide dokumentiert, soll verboten werden.

Für Frauenrechte: Demonstration zum Internationalen Tag der Frau am 8. März in Istanbul Foto: Kemal Aslan/reuters

Istanbul taz | „Sie wollen uns einschüchtern. Frauen sollen den Mund halten. Doch das wird nicht passieren. Wir werden uns nicht einschüchtern lassen.“ Fidan Ataselim, Generalsekretärin der Frauenorganisation „Kadın Cinayetlerini Durduracağiz“, („Wir werden Femizide stoppen“) gibt sich unbeeindruckt. Dass die Organisation verboten werden könnte, befürchtet sie dennoch.

Vergangene Woche hatte die Staatsanwaltschaft angekündigt, dass sie ein Verfahren gegen die Anti-Femizid-Gruppe eingeleitet habe. Anlass seien „Beschwerden besorgter Bürger“, die der Gruppe vorwerfen, „Familien zu zerstören unter dem Vorwand, sich für Frauenrechte einzusetzen“. Tatsächlich ist die Organisation Konservativen und Islamisten in und außerhalb der regierenden Partei AKP, der Präsident Recep Tayyip Erdoğan vorsitzt, ein Dorn im Auge. Denn sie prangert erfolgreich Gewalt gegen Frauen in der Türkei an – darunter vor allem Gewalt in der Familie, die immer wieder zu Morden an Frauen durch Ehemänner, Väter, Brüder oder Freunde führt. Oft geht es darum, dass sich die Frauen ihren patriarchalen Vorstellungen nicht unterwerfen wollen.

Ataselims Gruppe hat solche Frauen seit der Gründung 2010 unterstützt und – in Fällen, wo es zu spät war – Morde an Frauen dokumentiert. Sie veröffentlicht auch die Anzahl getöteter Frauen: Im Jahr 2021 waren es 280, im Jahr 2022 bereits 73. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer von Todesfällen, in denen Mord nicht eindeutig nachgewiesen werden kann, weil etwa Polizei und Betroffene behaupten, es sei Selbstmord gewesen.

Durch ihre akribische Dokumentation führt die Gruppe die Behauptungen der Regierung, sie würde alles tun, um Frauen zu schützen, regelmäßig ad absurdum. „Die Regierung“, sagt Emma Sinclair, Vertreterin von Human Rights Watch in der Türkei, „will die Gruppe deshalb diskreditieren und womöglich ausschalten“. Außerdem kommt die Regierung damit – wie schon beim Ausstieg aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen – ihrer islamistischen Klientel und deren extrem patriarchalem Familienbild entgegen.

Konstanter Druck auf Zivilorganisationen in der Türkei

Frauengruppen und LGBTI-Organisationen sind in den letzten Jahren wiederholt Ziel islamistischer Angriffe und staatlicher Repression gewesen. So werden Frauendemonstrationen genauso wie die jährlichen Pride-Paraden regelmäßig verboten. Erst jüngst wurde ein Istanbuler Jugendzentrum geschlossen. Anlass war eine Veranstaltung, auf der über homosexuelle Jugendliche diskutiert wurde.

Im Jahr 2021 gab es 280 Femizide, 2022 bereits 73, dazu kommt eine hohe Dunkelziffer

Insgesamt sei der Druck auf Zivilorganisationen in der Türkei zwar nicht mehr so groß wie unmittelbar nach dem Putschversuch 2016, sagt der Leiter der Istanbuler Heinrich-Böll-Stiftung, Kristian Brakel, aber die Kontrollen „sind doch nach wie vor sehr scharf“. Die türkische Regierung macht sich ausgerechnet eine Initiative der Vereinten Nationen gegen Geldwäsche und Finanzierung von Terrororganisationen zunutze. Da die Türkei „Terrorunterstützung“ schwammig und weitreichend definiert, werden seit eineinhalb Jahren regierungskritische Organisationen immer wieder auf ihre Finanzquellen untersucht. Dadurch wurden einige von ihnen, darunter auch CHAOS, der Dachverband der LGBTI-Gruppen, monatelang lahmgelegt, berichtet Brakel. Ausländische Organisationen würden derzeit weitgehend in Ruhe gelassen, für kritische türkische Organisationen sei das aber nicht der Fall, so Brakel.

Am letzten Wochenende gab es in Istanbul und Ankara erste Demonstrationen zur Unterstützung von „Wir werden Femizide stoppen“. Anfang Juni soll die Anhörung vor Gericht beginnen.

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