Gewalt-Proteste in Baden-Württemberg: Wenn Stuttgart in Eritrea liegt
Erneut sorgt ein Eritrea-Festival für gewalttätige Proteste zwischen Regierungstreuen und Oppositionellen. Die Debatte um Verbote läuft.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte am Sonntag klar gemacht, dass die Ausschreitungen inakzeptabel sind: „Wir dulden nicht, dass Konflikte aus anderen Ländern bei uns gewaltsam ausgetragen werden und werden dem mit aller Härte entgegentreten.“ SPD-Fraktionschef Andreas Stoch wandte sich gegen Gesetzesverschärfungen, wie sie andere Oppositionsfraktionen forderten: „Es geht nicht darum, lautstark immer schärfere und schärfere Gesetze zu fordern. Es geht darum, unsere Gesetze anwenden und sie durchzusetzen.“
Der Linken-Politiker und Stuttgarter Stadtrat Luigi Pantisano erinnerte daran, dass die Diktatur in Eritrea in Freiheitsfragen noch hinter Nordkorea rangiert: „Wenn Politiker:innen in Baden-Württemberg fordern, Gewalttäter sofort auszuweisen, dann sollten sie bedenken, wohin sie die Menschen abschieben wollen. Zurück in einen Terrorstaat.“ Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl informierte sich zusammen mit Polizeipräsidentin Hinz bei den Beamten in Stuttgart. Am Mittwoch will er dem Innenausschuss des Landtags Auskunft geben.
Am Samstagabend hatten im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt eritreische Regimegegner eine Veranstaltung eines regierungsnahen eritreischen Vereins attackiert. Bei den teils gewalttätigen Protesten wurden insgesamt 27 Polizeibeamte verletzt, 7 von ihnen sind bis auf weiteres dienstunfähig. Die Polizei hat in der Nacht zum Samstag 228 Personen vorübergehend festgenommen und die Personalien festgestellt. Gegen sie wird jetzt wegen schweren Landfriedensbruchs, schwerer Körperverletzung, Sachbeschädigung und Diebstahls ermittelt. 63 von ihnen sind offenbar aus der Schweiz angereist.
Gegendemonstration kam überraschend
Für die Polizei sei die Gegendemonstration überraschend gewesen, erklärte der stellvertretende Polizeipräsident Carsten Höfler. Es sei zwar eine Gegenveranstaltung angemeldet gewesen, diese Anmeldung sei aber wieder zurückgenommen worden. Oberbürgermeister Frank Nopper und der Polizeivizepräsident verwiesen darauf, dass es zuletzt in Stuttgart störungsfreie ähnliche eritreische Veranstaltungen gegeben habe. Trotzdem sei die Polizei präsent gewesen, dies sei bei Veranstaltungen mit Bezug zu Eritrea üblich.
Die Stadt konnte nach eigenen Angaben die als „Eritrea-Seminar“ bezeichnete Veranstaltung nicht verhindern. Sie fand in den städtischen Räumen des Römer-Castells, einer ehemaligen Kaserne, statt. Im letzten Jahr hätten fünf solcher Veranstaltungen stattgefunden, nie sei es zu Auseinandersetzungen gekommen. Die Grüne Landtagsfraktion fordert von den Behörden nun weitere Aufklärung, ob die Ausschreitungen nicht doch vermeidbar gewesen wären.
Der Verband eritreischer Vereine in Stuttgart, der die Räume für die Veranstaltung angemietet hatte, hat für kommenden Samstag bereits eine weitere Eritrea-Veranstaltung in Stuttgart angekündigt. Johannes Russom vom Verband erklärte, Gewalt dürfe nicht das Sagen haben, der Schutz der Veranstaltung sei Aufgabe des Staates.
In anderen Städten waren regierungstreue und oppositionelle Eritreer bereits öfter zusammengestoßen. Anfang Juli hatte es in Gießen massive Ausschreitungen bei einem Eritrea-Festival gegeben. Hier war Johannes Russom gegenüber dem ZDF als Vorsitzender des Zentralrates der Eritreer in Deutschland aufgetreten. Der Zentralrat der Eritreer in Deutschland besteht laut eigenen Angaben aus vier Säulen: Eine Säule ist die PFDJ, die einzige legale Partei in der Diktatur am Horn von Afrika, eine zweite Säule der Jugendverband dieser Partei.
Eritreische Community in Deutschland gespalten
Den Zentralrat als den verlängerten Arm des diktatorischen Regimes zu bezeichnen, wäre also nicht übertrieben. Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Jochen Kopelke, forderte im SWR ein Verbot ähnlicher Veranstaltungen. Die Gewalt sei „ganz offensichtlich“ vom Ausland gesteuert gewesen.
Die eritreische Community in Deutschland ist tief gespalten. Wer während des Befreiungskampfes bis Anfang der 1990er Jahre aus Eritrea geflohen war, sympathisiert in der Regel mit dem Regime, das aus der nationalen Befreiungsbewegung hervorgegangen ist. Wer nach der Jahrtausendwende floh, lehnt das Regime meist ab. Dieses Konfliktpotenzial entlädt sich bei Veranstaltungen, die Gewalt geht meist von Teilen der Opposition aus.
Für das 3,8 Millionen Einwohner zählende Eritrea sind die rund eine Million Auslandseritreer enorm wichtig. Mit ihrer „Diasporasteuer“ in Höhe von 2 Prozent ihres Einkommens, zu der sie nach eritreischem Recht verpflichtet sind, sind sie wichtige Investoren in dem von internationalen Sanktionen betroffenen Land.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja