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Gesundheitsversorgung in DeutschlandDiagnose Gewinnsucht

Essay von Jens Hofmann

Das deutsche Gesundheitssystem ist auf Profite ausgerichtet. Die Patientinnen bleiben dabei auf der Strecke.

Was hier geschieht, hat oft mehr finanzielle denn medizinische Gründe Foto: Halfdark/fStop/imago-images

V or der letzten Bundestagswahl hatte ich versucht, mir einen Überblick über die gesundheitspolitischen Vorstellungen der zur Wahl stehenden Parteien zu verschaffen. Das war gar nicht so einfach, denn das Thema fand im Wahlkampf kaum Erwähnung, von einigen wenigen Schlagzeilen abgesehen wie: „Tod durch Hygienemängel!“ „Profitgier von Ärztinnen führt zu unnötigen Operationen“. Schwarzen Schafen musste das Handwerk gelegt, strengere Kontrollen mussten eingeführt werden.

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Dann kam Covid-19, und unser Gesundheitssystem wurde zum Medienstar. Es war präsent von der intellektuellen Wochenzeitung bis hin zur Stammtisch-Whatsapp-Gruppe. Hauptsächlich wurde es gefeiert, doch es gab auch kritische Stimmen. Die Kapazitäten der Intensivstationen wurden thematisiert und der Mangel an Impfstoffen, es gab Verschwörungstheorien, aber ja, natürlich, es gab auch den Applaus für das fleißige Pflegepersonal.

Jetzt stehen wieder Wahlen an, und damit besteht die Chance, Dinge zu verbessern. Gleichzeitig wird es um das Gesundheitswesen stiller. Dabei hat sich nichts verändert. Profitorientierte Mediziner, Hygienemängel und fehlendes Pflegepersonal, diskussionswürdige Kapazitäten der Intensivstationen, fehlende Ressourcen hier, Überkapazitäten dort. All das sind Symptome. Die eigentliche Frage ist: Warum ist es so? Die Antwort lautet: Es geht ums Geld.

Weil wir unser Gesundheitssystem genau so eingerichtet haben. Wir vertrauen auf die Gesetze der Marktwirtschaft und die sollen dazu führen, dass Patienten immer besser und effektiver behandelt werden. Es gibt aber drei grundsätzliche logische Fehler, die das verhindern: 1. Marktwirtschaft bedeutet Konkurrenz. Es setzt sich durch, wer mit geringstem Aufwand den größten Profit erzielt.

Deshalb werden Chefärztinnen in unseren Kliniken nicht nach ihrer medizinischen Kompetenz ausgewählt, sondern danach, ob sie Gewinne versprechen. Deshalb werden mit diesen Chefärztinnen nicht medizinische, sondern wirtschaftliche Ziele vereinbart. Deshalb ist das medizinische Angebot nicht danach ausgerichtet, was nötig ist, sondern was Profit verspricht. Die Verantwortung dafür liegt nicht bei den Klinikkonzernen. Wir sind es, die von ihnen verlangen, dass sie Gewinne machen.

Profitgier ist des Pudels Kern

Niemand kann zwei Herren dienen. Die höchste Priorität können wir entweder dem Wohl der Patientinnen einräumen oder der Gewinnmaximierung. Beides gleichzeitig geht nicht, deshalb müssen wir uns entscheiden. Das tun wir aber nicht. Stattdessen modifizieren wir das marktwirtschaftliche System ein wenig. Und damit sind wir bei Fehler Nummer 2: Üblicherweise verstehen wir unter Marktwirtschaft das, was auf einem Wochenmarkt geschieht: Ich, der Kunde, habe Verlangen nach Äpfeln.

Ich vergleiche die Ware und die Preise der verschiedenen Anbieterinnen und entscheide mich für die, deren Preis-Leistungs-Verhältnis mir am günstigsten erscheint. Sagen mir die gekauften Äpfel zu, werde ich die Händlerin häufiger besuchen und weiterempfehlen. Wäre der Wochenmarkt organisiert wie unser modifiziert-marktwirtschaftliches Gesundheitswesen, liefe es dagegen folgendermaßen ab: Die Verkäuferin bestimmt, ob ich einen Apfel brauche.

Ein Kartell aus Händlerinnen und Geldeintreiberinnen plant, woher ich das Obst beziehen kann. Die Geldeintreiberinnen ziehen nach ihrem Gutdünken regelmäßig von allen Beteiligten Geld ein, verhandeln die Preise, zahlen die Äpfel und beurteilen, ob sie den Preis wert sind. Ich erfahre weder, welche Äpfel ich bekommen habe, noch weiß ich, wer an wen welchen Betrag zahlt. Marktwirtschaft? Hier denkt man eher an Vito Corleone als an Ludwig Erhard.

Also schreiten wir ein – und zwar mit Kontrollen. Wenn es sein muss, sogar mit noch schärferen Kontrollen. Und damit wären wir beim 3. und fatalsten Fehler: Wir machen aus unserer Gesundheitsversorgung ein Spiel. Ich nenne es das Kuchenspiel: Es gibt einen Kuchen von begrenzter Größe. Der steht allen Akteurinnen zur Verfügung, und er wurde dafür geschaffen, Kranke gesund zu machen.

Kampf um den Kuchen

Weil es sich um ein marktwirtschaftliches Spiel handelt, wird von allen Mitspielerinnen gefordert, dass sie versuchen, das größte Kuchenstück zu bekommen. Der Kampf ist hart. Jeder Spielzug verbraucht Kuchen, wer keinen mehr hat, fliegt raus. Es geht also nicht ohne Tricks: Einen Teil ihres Kuchens setzen die Spielerinnen nicht zum Wohl der Patientinnen ein, sondern dafür, bessere Positionen im Spiel zu erreichen und sich damit weiteren Kuchen zu sichern. Das fällt natürlich irgendwann auf.

Also beschließt man, Kontrolleurinnen in das Spiel einzuführen, um die Tricksereien einzuschränken. Damit erhöht sich die Zahl der Mitspielerinnen, und es wird mehr Kuchen verbraucht. Die jetzt größere Zahl an Spielerinnen muss um den schrumpfenden Kuchen weiterkämpfen. Um die Chancen zu verbessern, werden die Mannschaften verstärkt. Man braucht zusätzliches Personal, das darauf spezialisiert ist, trotz der Kontrollen aus dem dezimierten Kuchen ein noch größeres Stück herauszuholen.

Die Zahl der Spielerinnen nimmt damit weiter zu, weitere Mittel werden verbraucht, und weiter schrumpft der Kuchen. Den neuen Tricks wird mit neuen Kontrollen begegnet, und schon bewegt man sich im Teufelskreis. Der Kuchen schwindet dahin, immer mehr Ressourcen werden dafür aufgebraucht, zu kontrollieren und Kontrollen zu umgehen. Für die Versorgung der Kranken bleibt immer weniger übrig.

Wir haben also ein Gesundheitswesen, das erstens auf Profit ausgerichtet ist, das zweitens nach dem Vorbild der Mafia organisiert ist und das sich drittens selbst auszehrt. Es ist offensichtlich, dass dieses System keine optimale medizinische Versorgung gewährleisten kann. Aber warum haben wir es nicht schon längst geändert? Wieder ist die Antwort so simpel wie eindeutig: Weil viele daran verdienen: Krankenkassen, Krankenhauskonzerne, Ärztinnen, Apothekerinnen und Pharmafirmen.

Zu viel Kontrolle, zu viel Personal

Das verdiente Geld und ihren Einfluss nutzen sie, um die Politik in ihrem Sinn zu beeinflussen. Nicht heimlich, sondern ganz offi­ziell: Das höchste Beschlussgremium in unserem Gesundheitswesen ist der „Gemeinsame Bundesausschuss“. Er setzt sich zusammen aus den Interessenvertreterinnen der niedergelassenen Ärztinnen und Zahnärztinnen, der Krankenkassen und der Krankenhauskonzerne. Genau diejenigen, die vom derzeitigen System profitieren.

Die Profiteurinnen des Status quo entscheiden darüber, ob sich etwas ändern soll. Wen wundert es, dass sich so wenig bewegt? Gesundheitspolitikerinnen folgen dem, was die Expertinnen empfehlen: Sie spielen das begonnene Spiel immer weiter mit neuen Kontrollen und Vorschriften. Was also ließe sich ändern? Zunächst einmal die ignorante Arroganz, mit der die Vorstände der Medizinkonzerne im Einklang mit den Regierenden behaupten, unser System sei im Grunde alternativlos.

Dafür gibt es nicht den geringsten Beleg. Tatsächlich kompensieren wir nur durch den Aufwand von sehr viel Geld die offensichtlichen Schwächen unseres Gesundheitssystems. Neue Denkansätze sind gefragt, eine breite, lebhafte, fantasievolle, kontroverse und tabulose Diskussion darüber, wie wir Medizin in unserem Land besser organisieren können. Es gibt Alternativen: staatliche Gesundheitssysteme zum Beispiel.

Hier regeln nicht undurchschaubare Kartelle, sondern gewählte Volksvertreter den Umgang mit Leib und Leben von Patien­tinnen. Halt!, werden hier viele rufen. Staatlich – das bedeutet Kommunismus! Keine Leistungsanreize, Schlendrian, schludriger Umgang mit Ressourcen! Noch schludriger als in unserer gegenwärtigen Marktwirtschaftsmedizin lässt sich mit den Ressourcen aber kaum umgehen: Kein anderes europäisches Land gibt so viel für Gesundheit aus wie wir.

Die Profiteurinnen entscheiden, wo´s lang geht

Im Hinblick auf die Lebenserwartung liegen wir trotzdem nur im Mittelfeld. Das viele Geld nützt also nicht den Patientinnen, wohl aber der Gesundheitsindustrie. Dagegen leben in den skandinavischen Staaten oder in Spanien die Menschen länger und gesünder, obwohl die dortigen staatlichen Systeme kostengünstiger sind. Leistungsanreize sind sicher wichtig, doch wir müssen uns fragen, zu welcher Art von Leistung wir reizen.

Bild: privat
Jens Hofmann

ist 52 Jahre alt, Anästhesist und Experte im Bereich der Intensivmedizin, Notfallmedizin und Krankenhaushygiene. Er ist Oberarzt der interdisziplinären Intensivstation einer mittelgroßen Klinik im Saarland.

Eine schlecht ausgebildete Ärztin, die schludrige Fließbandmedizin betreibt, dabei aber eine gute Kauffrau ist, verdient in Deutschland mehr als eine gut ausgebildete, gewissenhafte Kollegin, die sich Zeit für ihre Patientinnen nimmt. Ist das die Leistung, die wir belohnen wollen? Soll es Geschäftsleuten überlassen bleiben zu beurteilen, wie gute Medizin aussieht? Wäre es nicht wünschenswert, über solche Fragen demokratisch gewählte Organe entscheiden zu lassen?

Und wenn es Kommunismus bedeutet, dass der Staat wichtige Bereiche des Lebens seiner Bürgerinnen organisiert, dann sind auch unsere Polizei und Feuerwehr kommunistische Organisationen. Hier fordert glücklicherweise niemand privat organisierte Firmen, die leistungsgerecht von mehr Verbrechen und Bränden profitieren könnten.

Natürlich gibt es auch schlechtere Gesundheitswesen als unseres. Aber ist das schon Grund genug, nichts zu verbessern? Hätten wir immer so gedacht, wäre die Medizin nicht über Aderlass und Lebertran hinausgekommen. Wenn wir die Milliarden, die wir in Gesundheit investieren, zum Wohl der Patientinnen nutzen wollen, müssen wir den Mut haben, das System zu verändern.

Wir müssen uns entscheiden, wie unser Gesundheitssystem gestaltet sein soll: zeitgeistgemäß oder effektiv; wir müssen uns entscheiden, was wir fördern wollen: Gesundheit oder Profit; wir müssen uns entscheiden, was uns wichtiger ist: Geld oder Leben. Der Wahlkampf wird zeigen, wie die Parteien das Gesundheitssystem moderner, besser und patientinnengerechter gestalten wollen.

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