Gesundheitspolitiker über Chemikalien: „Allerhöchste Zeit für Regulierung“
Ewigkeitschemikalien sind ungesund, jetzt steht ein Verbot der sogenannten PFAS an. Politiker und Mediziner Armin Grau erklärt, warum es dringend ist.
wochentaz: Herr Grau, wo kann ich in Deutschland leben, wenn ich nicht mit Ewigkeitschemikalien in Berührung kommen möchte?
Armin Grau: Nirgendwo. Auf der ganzen Erde nicht. Selbst in der Arktis findet man inzwischen Rückstände von Ewigkeitschemikalien. Es gibt aber Hotspots, wo die Konzentration im Boden oder im Wasser besonders hoch ist. Sie können also an besonders ungünstigen Stellen leben.
Er ist Gesundheits- und Umweltpolitiker und sitzt seit 2021 für die Grünen im Bundestag. Grau ist Berichterstatter seiner Partei für Chemikalien- und Gesundheitspolitik sowie Neurologe.
Ewigkeitschemikalien – das klingt so poetisch.
Tatsächlich sind das vom Menschen gemachte, nicht in der Natur vorkommende Stoffe, die sich so langsam abbauen – das ist gar nicht messbar. Deswegen ist der Begriff Ewigkeitschemikalien schon passend.
Was genau sind das für Stoffe?
Es geht um sogenannte PFAS, per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen. Das sind Kohlenstoffketten, bei denen die Wasserstoffatome ganz oder teilweise durch Fluoratome ersetzt wurden. Und diese Kohlenstoff-Fluor-Verbindungen sind extrem stabil.
Wie klar ist inzwischen, dass diese Ewigkeitschemikalien gesundheitsschädlich sind?
Da gibt es keinen Zweifel mehr. Viele dieser Stoffe stören zum Beispiel das menschliche Hormonsystem. Es gibt gravierende Hinweise darauf, dass sie nicht nur an der Entstehung von Schilddrüsenerkrankungen und Diabetes beteiligt sein, sondern auch zu verringerter Zeugungsfähigkeit führen können. Außerdem können sie das Risiko unter anderem für Hoden- und Nierenkrebs erhöhen. Manche Substanzen sind neurotoxisch, greifen also das Gehirn an und könnten so zu Verhaltensauffälligkeiten führen. Bei belasteten Tieren zeigt sich das ganz deutlich. Auch höhere Cholesterinwerte und verminderte Wirkungen von Impfungen sind mögliche Folgen.
Woher wissen wir, wer besonders gefährdet ist?
Bei fast allen bisher untersuchten Menschen wurden PFAS im Blut gefunden, und wir wissen heute, dass bereits ganz niedrige Konzentrationen problematisch sein können. Es gibt Studien aus Deutschland, die zeigen, dass bei über 20 Prozent aller Jugendlichen kritische Grenzwerte überschritten werden.
Einsatz Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen (PFAS) kommen etwa bei Teppichen, Outdoortextilien, Pfannen, Backformen, Backpapieren, Einwegverpackungen, Zahnseide und Kosmetika zum Einsatz. Auf vielen Produkten ist das nicht vermerkt. Weil die Natur PFAS kaum abbauen kann, werden sie auch als Ewigkeitschemikalien bezeichnet.
Skandal Ein US-amerikanischer Hersteller von Teflon hatte über Jahrzehnte das Trinkwasser mehrerer Orte mit PFAS kontaminiert – mit dramatischen Folgen für die Bewohner und trotz interner Kenntnisse über die Gesundheitsgefahr. Die Aufdeckung des Skandals sensibilisierte Anfang der 2000er erstmals eine breitere Öffentlichkeit für das Thema.
Regulierung Einzelne PFAS wurden – auch infolge des Teflon-Skandals – verboten. In Europa wird jetzt eine umfassende Regulierung der Stoffgruppe angestrebt.
Sind PFAS vor allem für junge Menschen gefährlich?
Die besonders vulnerablen Gruppen sind Schwangere sowie Kinder und Jugendliche, die sich noch im Entwicklungsprozess befinden. Es gibt auch Hinweise, dass sich die Auswirkungen einer hohen PFAS-Belastung zum Teil erst in der nächsten Generation zeigen. Das liegt daran, dass diese Stoffe in den Reproduktionsprozess eingreifen können.
Wodurch kommen wir in Kontakt mit Ewigkeitschemikalien?
Sie werden bereits seit den 1950er Jahren breit verwendet. PFAS sind zum Teil sowohl Wasser als auch Fett abweisend, und das passt ideal in bestimmte Alltagsbereiche: zur Beschichtung von Pfannen, Textilien und Papier zum Beispiel. Die PFAS sind eine vielfältige Gruppe, es gibt Schätzungen, dass über 10.000 Stoffe dazugehören. Manche sind fest, manche flüssig, manche gasförmig. Deshalb können der Mensch und andere Lebewesen sie auch mit der Luft, Nahrung oder Wasser aufnehmen.
Die Aufdeckung des Teflon-Skandals Anfang der 2000er (siehe Infokasten) hat gezeigt: Die Hersteller von Produkten, die PFAS enthalten, wissen zum Teil schon seit den Sechziger Jahren, dass es sich dabei um alles andere als harmlose chemische Innovationen handelte. Seit wann ist die Gefahr allgemein anerkannt?
Seit den 1990er Jahren sind unsere Erkenntnisse immer breiter geworden. Die Zahl der Studien nimmt deutlich zu. Gerade kürzlich gab es eine amerikanische Studie, die für die Jahre 1999 bis 2015 mit 382.000 zusätzlichen Todesfällen durch PFAS-Belastung rechnet – allein in den USA. Wir wissen jetzt jedenfalls seit vielen Jahren ausreichend Bescheid über die Gefährlichkeit dieser Substanzen, und es ist allerhöchste Zeit für eine Regulierung.
PFAS werden bei Teppichen, Outdoor-Textilien, Pfannen, Backformen, Backpapieren und Einwegverpackungen, Zahnseide und Kosmetika verwendet. Aber wenn ich zu Hause auf die Verpackungen schaue, steht dazu nichts.
Bisher müssen die Hersteller das tatsächlich nicht deklarieren und das ist der nächste große Punkt, der mir sehr am Herzen liegt. Wir müssen deutschlandweit und europaweit zu einer sehr viel besseren Verbraucherinformation kommen.
Noch mal ganz deutlich: Seit mehr als 60 Jahren sind Ewigkeitschemikalien in vielen Alltagsprodukten – und zwar ohne dass deren Unbedenklichkeit jemals nachgewiesen werden musste und ohne dass das auf den Produkten vermerkt werden muss?!
Das ist ein ganz grundsätzliches Problem. Wir in Europa sind eigentlich die Vorreiter auf der Welt, was die Regulierung von Chemikalien angeht. Und selbst wir haben uns bisher mit einem mehr oder weniger zahnlosen Tiger zufriedengegeben. Die Einführung der europäischen REACH-Verordnung (Anm. d. Red.: Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals/ Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien) im Jahr 2007 war ein Fortschritt. Aber wir wissen schon seit längerer Zeit, dass das überhaupt nicht reicht. Die Umwelt- und Gesundheitsbelastung durch unregulierte Chemikalien ist inzwischen so vordringlich, dass keine Verzögerung mehr zu rechtfertigen ist.
Glauben Sie, diese Dringlichkeit kommt in der Bevölkerung an? Wir haben Jahrzehnte aus beschichteten Pfannen gegessen, und die meisten machen das weiterhin …
Mit einem politischen Stopp können wir zumindest verhindern, dass die bereits in der Umwelt vorhandenen PFAS noch mehr werden. Damit haben wir immer noch jede Menge Rückstände, und unsere Nachkommen werden wohl noch in Jahrtausenden messen können, dass wir im 20. und 21. Jahrhundert dieses Zeug in die Umwelt gebracht haben. Aber dass sich ein Stopp günstig auswirkt, haben Studien schon gezeigt. Dänemark hat zum Beispiel PFAS in Fast-Food-Verpackungen verboten. Das ist sinnvoll, denn es zeigte sich, dass für regulierte PFAS die Rückstände im Blut zurückgingen.
Ewigkeitschemikalien, in Fast-Food-Einmalverpackungen. Das ist besonders absurd.
Ja, das ist es. Einmal Pommes und dann ewig in der Umwelt.
Einzelne PFAS sind aber schon in der EU verboten, oder nicht?
Ja, das sind vor allem zwei Stoffe, deren Gefährlichkeit in Studien nachgewiesen wurde. Aber was dann passiert, ist die sogenannte Regrettable Substitution – der bedauerliche Ersatz. Die Hersteller ersetzen den verbotenen Stoff einfach durch einen ähnlichen – wie gesagt, die Stoffgruppe der PFAS ist riesig, und es ist davon auszugehen, dass die meisten dieser Stoffe problematisch sind. Die Wissenschaft braucht dann aber wieder Jahre, um die Schädlichkeit einzelner Stoffe nachzuweisen.
Und so lange verdienen die Chemiekonzerne erneut Milliarden mit unregulierten Chemikalien?
Wissen Sie, ich bin auch Lokalpolitiker an einem Chemiestandort. Von meinem Krankenhausbüro in Ludwigshafen habe ich zwanzig Jahre auf die BASF geschaut. Das sind 35.000 Arbeitsplätze, mir ist es ein großes Anliegen, dass diese und andere Arbeitsplätze in der Chemie erhalten bleiben. Aber dazu gehört es auch, dass alle produzierten Chemikalien vertrauenswürdig und verträglich sind.
Es gab kürzlich ein europaweites Rechercheprojekt, das Hotspots der PFAS-Belastung kartiert hat. Ein roter Punkt zeigt eine nachgewiesene Kontamination. Deutschland ist voll von roten Punkten – an Fabrikstandorten, Flüssen, Feuerwehr-Übungsplätzen … Was bedeutet das für Menschen, die an so einem Hotspot wohnen?
Es ist eine Aufgabe für die Kommunen, da jetzt genauer hinzuschauen. Es gibt auch in meinem Wahlkreis einen Spot mit einem sehr hohen Wert. Hier muss sichergestellt werden, dass zum Beispiel das Grundwasser nicht gefährdet wird.
Sanieren lassen sich solche kontaminierten Orte nicht?
Bisher haben wir keine Technologien dafür. In geringem Maße können PFAS bei sehr hohen Temperaturen verbrannt werden. Aber das eignet sich natürlich nicht für eine breite Anwendung. Es wäre naiv zu sagen, wir können diese Stoffe zeitnah aus der Umwelt kriegen. Auch da müssen wir noch viel mehr Anstrengungen unternehmen, um Lösungen zu finden.
PFAS wurden sogar bei Eisbären in der Arktis nachgewiesen. Wie gelangen sie in die entlegensten Gebiete?
Über das Wasser und Nahrungsketten. Vor allem Wildfisch ist zum Teil stark belastet. Und dann der Regen: Es regnet Ewigkeitschemikalien auf uns nieder, auch das ist nachgewiesen.
Was ist mit dem Wasser aus dem Wasserhahn?
Das wird kontrolliert, und die Grenzwerte werden demnächst massiv runter gesetzt. Wie gesagt, wir wissen ja inzwischen, dass auch sehr niedrige Belastungen problematisch sein können. Ende März hat der Bundesrat eine Änderung der Trinkwasserverordnung auf den Weg gebracht, die ab 2026 greift.
Aber wann werden PFAS nun verboten?
Deutschland ist neben Schweden, Norwegen, den Niederlanden und Dänemark eines von fünf Ländern, die einen Antrag für ein europäisches Verbot der ganzen Stoffgruppe bei der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) eingereicht haben. Dieser Antrag geht jetzt in den normalen europäischen Prozess, eine Beschränkung wird frühestens 2026 in Kraft treten. Unabhängig davon muss die EU-Chemikalienverordnung REACH überarbeitet werden. Ein praktisch fertiger Entwurf der Kommission liegt vor …
… und wird von der Wirtschaftslobby blockiert?
Damit die Änderung noch in dieser Amtsperiode des Europaparlaments beschlossen wird, müsste das Verfahren bis Juni auf den Weg gebracht werden. Auch die Bundesärztekammer hat sich für eine entsprechende Beschleunigung ausgesprochen, in einem Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die ja ebenfalls Ärztin ist. Ich hoffe sehr, dass es den Wirtschaftslobbyisten jetzt nicht endgültig gelingt, diesen Prozess zu blockieren beziehungsweise zu verzögern.
Selbst wenn das Verbot in Kraft tritt, wird es vermutlich Jahre dauern, bis die PFAS aus unserem Alltag verschwinden.
Es gibt Stoffe, die lassen sich sofort ersetzen – in Verpackungen, Kosmetik und Kleidung zum Beispiel. Bei denen gibt es ganz kurze Übergangsfristen, wenn die Beschränkung erst einmal gilt. Andere Anwendungen sind schwieriger zu ersetzen – in der Halbleiterproduktion zum Beispiel, auch bei einigen medizinischen Anwendungen. Da braucht es noch Innovationen. Dort liegt die Übergangsfrist dann bei maximal zwölf Jahren.
Auch in Produkten für die Energiewende – Wärmepumpen zum Beispiel – sind PFAS enthalten.
Das ist richtig. Und da brauchen wir einen Innovationsbooster nicht nur durch das Verbot und entsprechende Übergangsfristen, sondern auch durch massive Unterstützung der Unternehmen, die moderne Ersatzprodukte entwickeln. Ich befürworte es daher, ein echtes Investitionsprogramm für grüne Chemie in Europa voranzutreiben.
Ihr Koalitionspartner FDP hat Sorge, ein generelles Verbot der PFAS könne die Wirtschafts- und Innovationsstandorte Deutschland und Europa schwächen.
Ich vertrete eine ganz andere Haltung. Die Fortsetzung der momentanen Politik schwächt uns massiv – die Individuen, die krank werden, die Gesellschaft, die das Vertrauen in die Politik verliert, und langfristig den Wirtschaftsstandort Europa. Innovativ kann nur das sein, was umwelt- und gesundheitsverträglich ist. Es kommt viel auf die Industrie zu, ja. Das ist ein gewaltiger Transformationsprozess. Aber wenn man einmal begriffen hat, wie falsch es ist, mit diesen Substanzen zu arbeiten, dann gibt es aus meiner Sicht keine vertretbare Alternative.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag