Gesundheitsamt in der Coronakrise: An der Infektionsfront
Wer kümmert sich in der Pandemie um Infizierte, Kontaktbeschränkungen und besorgte Bürger? Zu Besuch im hessischen Gelnhausen.
W ir haben in diesen zwölf Wochen eine intensive Zeit erlebt, Die Welt hat sich einmal umgedreht“, zieht Susanne Simmler eine erste Zwischenbilanz. Die 44-Jährige ist als erste Kreisbeigeordnete die Nummer zwei des Main-Kinzig-Kreises, nach dem Landrat.
Der Landkreis mit 420.000 Einwohnern ist nach Frankfurt am Main die zweitgrößte Gebietskörperschaft in Hessen. Simmler ist für das Gesundheitsamt, für Schulen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen zuständig. Seit Anfang März lastet deshalb auf ihr die Aufgabe, Verwaltung und Institutionen gleichermaßen durch die Untiefen der Coronapandemie zu steuern. Es gab im Landkreis in dieser Zeit 753 Corona-Erkrankungen, 148 Patienten sind noch nicht wieder gesundet, 43 sind an den Folgen der Infektion gestorben. Und noch ist die Pandemie keineswegs beendet.
In der Flüchtlingsunterkunft Sportsfield Housing in Hanau gibt es gerade zwei neue Infektionen, eine Lehrkraft in Gelnhausen ist an Corona erkrankt. Diese Fälle habe man im Griff, versichert Simmler. Ein dramatischer Umbau der Behörde im laufenden Betrieb sei nötig gewesen, sagt die Gesundheitsdezernentin. „Zu Beginn der Pandemie schien es fast unmöglich, die Flut der Anfragen zu bewältigen“, berichtet John Mewes, der Referent für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Kreises. Obwohl ein Bürgertelefon rund um die Uhr geschaltet und mit mehreren MitarbeiterInnen besetzt gewesen sei, seien Tausende Anrufe nicht mehr durchgekommen. Die Hotline sei völlig überlastet gewesen, zum Beispiel „mit Nachfragen nach Klopapier“, während gleichzeitig ein Anrufer nicht durchgekommen sei, der Rat in einem möglichen Verdachtsfall gesucht habe.
„Wir mussten einen Weg finden, um dringende Anfragen und Hinweise mit hoher Priorität abarbeiten zu können“, sagt Mewes. Die Lösung war CoroNet, eine Internetplattform mit verschiedenen Postfächern zu unterschiedlichen Themenbereichen, wie Schule, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen. Jede Anfrage, jeder Hinweis landet seitdem direkt im Postfach eines zugeordneten Teams aus Fachleuten. „Dort wird entschieden, was umgehend erledigt werden muss und was Zeit hat“, sagt Mewes.
Das Wort „Krise“ nimmt niemand in den Mund
Das Führungsteam des Gesundheitsamts in der rund 23.000 Einwohner zählenden Kreisstadt Gelnhausen wirkt erstaunlich unaufgeregt. Die Infektionszahlen sinken, die Krise gilt erst einmal als überstanden, das ist die Botschaft. Der Ortstermin mit der taz findet in dem hellen Besprechungsraum statt, in dem zwei bis drei Mal in der Woche der Corona-Leitungsstab der Kreisverwaltung tagt. Das Wort „Krise“ nimmt hier bewusst niemand in den Mund. Tische und Stühle sind im Raum locker verteilt, es gelten die üblichen Abstandsregeln. Eine Maskenpflicht gibt es nicht. Auf einem Tisch am Rand erinnern das Arsenal von Wasser- und Saftflaschen, Gläsern und ein paar Laugenbrezeln an die letzte Marathonsitzung vom Vortag.
Der Main-Kinzig-Kreis steht für den Landstrich zwischen Frankfurt am Main und Fulda. Im Westen prägen Industrie und Dienstleistungen den Landkreis, im Osten beschauliche Dörfer und ein paar Kurorte. Seitdem das Coronavirus auch diese Region in den Griff genommen hat, ist in der Kreisverwaltung nichts mehr so, wie es einmal war. Im zentralen Gesundheitsbereich des Amtes sind, zum Teil rund um die Uhr, drei- bis viermal so viel MitarbeiterInnen im Einsatz wie davor. SachbearbeiterInnen der KfZ-Zulassungsstelle helfen aus, Fachleute, die sonst Kinder auf ihre Eignung für die Einschulung untersuchen, stehen am Bürgertelefon Rede und Antwort, Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter, die eigentlich für psychisch Kranke oder hilfesuchende Eltern da sind, recherchieren in diesen Zeiten bei neuen Infektionsfällen die Daten möglicher Kontaktpersonen.
Flächendeckendes Netz Insgesamt 375 Gesundheitsämter mit regulär 17.000 Mitarbeitern sind in Deutschland für das öffentliche Gesundheitssystem zuständig. Jeder Landkreis und jede größere Stadt hat ein Gesundheitsamt mit Amtsarzt oder -ärztin an der Spitze.
Personelle Nöte Viele Gesundheitsämter klagen über zu wenige Mitarbeiter, gerade während der Coronapandemie, bei der den Ämtern die Aufgabe zufällt, die Kontakte Infizierter nachzuverfolgen. Zwar wurde die Zahl der Mitarbeiter in den Ämtern während der Krise aufgestockt, der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes fordert aber dauerhaft mehr Personal. Die Bundesregierung hat das jüngst versprochen. (taz)
Die Fachaufsicht liegt bei Siegfried Giernat, seit 2004 Leiter des Kreisgesundheitsamts. Der promovierte Mediziner kommt gerade aus einer Besprechung mit dem Geschäftsführer des größten Trägers von Pflegeeinrichtungen im Landkreis. Ihn treibt die kontroverse Debatte über die Besuchsregeln in Alten- und Pflegeeinrichtungen um. „Natürlich kann ich nachvollziehen, dass eine Tochter nicht einsieht, wenn sie ihre Mutter im Pflegeheim nicht berühren darf.“ Aus Sicht des Hygiene-Experten gebe es inzwischen auch keine fachlichen Gründe mehr für die Absonderung von Heimbewohnern, räumt er ein. „Wir haben keine neuen Infektionen, Plexiglasscheiben zwischen Bewohnern und Besuchern sind deshalb nicht mehr nötig“, sagt Giernat; „ich kann aber auch verstehen, dass Heimleitungen und Betreiber zögern, aus Sorge um ihre Bewohner und Pflegekräfte.“ Schließlich folge auf jeden neuen Infektionsfall eine völlige Isolierung der Einrichtung und ihrer BewohnerInnen. Es seien eben schwierige Abwägungen, die die Verantwortlichen im Austausch mit der Gesundheitsbehörde zu treffen hätten, sagt der 64-Jährige.
Das „Team Schule“ hat sich in dem Raum eingerichtet, in dem sonst die AfD-Kreistagsfraktion tagt. In zwei Reihen sind Arbeitstische aufgestellt, alle mit PCs und großen Monitoren bestückt. In der Ecke ein Whiteboard, zur Planung der Strategien. Alle Anfragen und Meldungen aus den Schulen, die über CoroNet eingehen, werden hier bearbeitet. Seit Tagen herrscht hier Hochbetrieb.
Die kaufmännische Berufsschule Gelnhausen hatte an Pfingsten gemeldet, dass eine Lehrkraft positiv auf das Coronavirus getestet worden war. Trotz der Feiertage lief die Suche nach den Kontaktpersonen an. In normalen Zeilen ist das die Aufgabe für ausgebildete HygienekontrolleurInnen oder GesundheitsaufseherInnen. Doch selbst in einem relativ großen Gesundheitsamt gibt es davon immer nur eine Handvoll. „Im Fachgebiet Hygiene waren auf dem Höhepunkt der Pandemie bis zu 90 Menschen aktiv, in ‚Friedenszeiten‘ sind es 14 bis 16“, erläutert Siegfried Giernat. Er nennt es „erstaunlich“, wie schnell seine Fachleute, die ja in der Regel als „Einzelkämpfer“ unterwegs seien, die Hilfe anderer hätten annehmen können. Im Team Schule arbeiten neben einer Kinderkrankenschwester und zwei ÄrztInnen auch drei vom Bund abgeordnete Beamte des Bundesverwaltungsamtes mit.
„Die Lage ist unter Kontrolle“
Teamleiter ist ein junger Lehrer, Christopher Hustedt, vom staatlichen Schulamt. Die Mittagspause lässt er an diesem Tag ausfallen. Nein, kriminalistische Arbeit sei das in diesem Fall nicht, gibt er sich bescheiden. „Wir kriegen von den Schulen saubere Listen mit den Anschriften der SchülerInnen, die müssen wir nur abtelefonieren“, sagt er. Am dritten Tag nach der Meldung der neuen Infektion sind alle Kontaktpersonen der infizierten Lehrkraft gefunden. Mehr als 50 SchülerInnen wurden inzwischen auf das Virus getestet, alle negativ. „Die Lage ist unter Kontrolle“, versichert Hustedt.
Sehr viel schwieriger war die Ausgangslage in dem Fall, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte. In Frankfurt-Rödelheim hatten sich bei einem Gottesdienst Ende Mai mehr als 200 Menschen angesteckt. Die Mitglieder dieser Baptistengemeinde stammten nicht nur aus Frankfurt, sondern auch aus sieben umliegenden Landkreisen. Ein Viertel der Infizierten lebt im Main-Kinzig-Kreis.
„Der Vorsitzende dieser Gemeinde hatte seine Erkrankung gemeldet. Über die Liste der Familien, die den Gottesdienst besucht hatten, konnten wir die Kontaktpersonen relativ schnell ausfindig machen. Hilfreich war in diesem Fall, dass die Verantwortlichen und alle Betroffenen sich sehr kooperativ zeigten“, erinnert sich Siegfried Giernat; bis auf einen Mann, der an einem Herzinfarkt verstorben ist, seien alle Gemeindemitglieder aus dem Kreis wieder gesund. Da in solchen Freikirchen jeder jeden kennt und viele Großfamilien betroffen waren, konnten die Kontaktpersonen zeitnah aufgespürt werden. Ein glücklicher Zufall.
Anders als Schulen oder Gaststätten sind Kirchen und religiöse Gemeinschaften nämlich nicht verpflichtet, Listen zu führen, mit denen mögliche Infektionsketten nachvollzogen werden können. Eine Lücke in der Verordnung? „Möglicherweise, aus der Sicht der Hygiene gibt es keinen Grund für diese Regelung“, sagt Giernat. Auf Nachfrage räumt das hessische Gesundheitsministerium Klärungsbedarf ein. „Vor dem Hintergrund der Glaubensfreiheit und der Tatsache, dass die Hygienekonzepte vieler Religionsgemeinschaften das Führen von Teilnehmerlisten vorsehen, wurde eine Listenpflicht bislang nicht für notwendig erachtet. Nach Aufklärung der aktuellen Ereignisse wird die Hessische Landesregierung die Frage noch einmal diskutieren“, erklärt die Sprecherin des Ministers.
Die betroffene Gemeinde hat ihre eigenen Schlüsse gezogen. Ihre Gottesdienste finden bis auf Weiteres nur online statt. „Im Nachhinein betrachtet wäre es für uns angebracht, beim Gottesdienst Mund-Nasen-Schutz-Bedeckung zu tragen und auf gemeinsamen Gesang zu verzichten“, stellen die Verantwortlichen der Kirche rückblickend fest.
Neue Ängste übers Wochenende
Noch immer gehen bei der Kreisverwaltung an jedem Tag Hunderte Nachfragen und Hinweise ein. „Die Anfragen werden weniger, aber spezieller“, berichtet Carmen Waldmann von ihrer Schicht am Bürgertelefon. „Jeder will sofort eine Antwort haben, doch die Gesamtlage ist dynamisch. Was gestern noch galt, kann heute schon wieder falsch sein“, sagt sie. Selbst für sie als Fachfrau seien die sich ständig ändernden Vorgaben und Verordnungen kaum noch zu überschauen. Bei jeder neuen Infektionswelle steige die Zahl der Anfragen, sagt sie und fügt hinzu: „Am Montag tanzt hier immer der Bär, weil sich über das Wochenende neue Ängste und Fragen ergeben haben.“
Siegfried Giernat, Leiter des Kreisgesundheitsamts
Nicht alle kooperieren und sind einsichtig. 600 Anzeigen von Polizei und Ordnungsbehörden wegen Verstößen gegen Hygieneverordnungen sind eingegangen. 200 Ordnungsgelder seien bisher verhängt worden. Die gesetzlichen Sanktionsmöglichkeiten empfindet Amtsleiter Siegfried Giernat als ausreichend: „Wer vorsätzlich Regeln bricht und so Erkrankungen herbeiführt, kann sogar mit Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren bestraft werden“, doch Strafen und Bußgelder seien nur das letzte Mittel. „Wenn wir alle Kontaktpersonen finden wollen, müssen wir vor allem eine Vertrauensbasis schaffen“, sagt Giernat.
Während der Kampf gegen die Pandemie alle Kräfte des Amtes in Anspruch nahm, blieb vieles auf der Strecke. „Wir haben seit Wochen keine amtsärztlichen Untersuchungen mehr durchführen können“, sagt der Leiter des Gesundheitsamtes; „ohne eine solche Untersuchung können Sie keinen Referendar oder Lehrer einstellen, obwohl die doch gebraucht werden“, bedauert er. Auch bei den Eignungsuntersuchungen für die Schulanfänger ist das Amt im Verzug. Seit zwei Wochen würden wenigstens wieder „Kann-Kinder“ getestet, damit entschieden werden kann, ob sie im Herbst eingeschult werden sollen oder nicht.
Nach Gelnhausen statt nach Afrika
Zum Stab des Gesundheitsamtes gehört seit Ende März auch Christoph Höhn. Der 38-jährige Facharzt für Kinder- und Jugendkrankheiten hatte eigentlich mit „Ärzte ohne Grenzen“ einen Einsatz in Liberia vereinbart. Dann kam der Lockdown. „An dem Freitag, an dem ich den Flug nach Liberia absagen musste, sah ich auf der Internetseite des Gesundheitsamtes, dass Fachleute gesucht wurden.“
Am Montag drauf war der Kinderarzt engagiert, mit einem ersten Zeitvertrag. Im Rahmen seiner Facharztausbildung hatte Höhn in anderen Ländern Erfahrungen im Kampf gegen Seuchen sammeln können. In Sierra Leone war das Ebola, in Tadschikistan eine multiresistente Tuberkulose. Von seinem dort gesammelten Know-how profitiere er jetzt, sagt er. Er steht für Anfragen von Ärzten, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen zur Verfügung und berät Pflegeteams. Beeindruckt habe ihn, wie in der Kreisverwaltung in Gelnhausen viele Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammengefunden hätten.
Höhns befristeter Vertrag läuft im Juli aus, doch mit dem zusätzlichen Know-how hätten sich seine persönlichen Zukunftsaussichten verbessert. Mit einer englischen Redensart warnt er vor dem „elefant in the room“, im Herbst mit dem kälteren Wetter und der nächsten Grippewelle könnte das Coronavirus zurückkommen, gibt er zu bedenken.
Betrieb ist an diesem Tag auch im Treppenhaus des „Main-Kinzig-Forums“. Ilona Anton, 54, und Ines Usinger, 60, haben auf einer Decke auf dem Boden Info- und Anschauungsmaterial ausgelegt: übergroße Zahn- und Gebissmodelle, Handpuppen mit erkennbaren Zahnlücken und verschiedene Spielsachen, alle mit Bezug auf Zähne oder Zahnpflege. Hobbyfotografin Anton knipst eifrig Fotos. Das Treppenhaus bietet die besten Lichtverhältnisse im Haus. In normalen Zeiten sind die beiden Frauen mit diesen Materialien in Kitas und Schulen unterwegs. Zahnputzmuffel sollen für eine effektive Zahnpflege gewonnen werden. Usinger führt die Geschäfte des Arbeitskreises Jugendzahnpflege. Anton ist als Mitarbeiterin im zahnmedizinischen Dienst des Gesundheitsamtes für Reihenuntersuchungen zuständig. Auch die finden coronabedingt nicht mehr statt. „Wir kommen ja nicht mehr raus“, sagt sie. Seit Wochen hilft sie stattdessen aus, Termine für Corona-Abstriche zu vergeben.
Auf dem Weg aus dem Gesundheitsamt passiert der Besucher eine großzügige Eingangshalle. „Bürgerportal“ heißt dieser Teil des Main-Kinzig-Forums, in dem die Kreisverwaltung ihren Sitz hat. Die Architektur bildet das Prinzip einer transparenten Verwaltung ab. Die Seiten der Halle sind verglast. Hohe Oberlichter sorgen für Lichtkegel. Überall grüne Kübelpflanzen, Sitzgruppen laden zum Bleiben ein. Es gibt hier einen Geldautomaten, die Kantine der Kreisverwaltung versorgt gerne auch externe Gäste mit preiswerten Speisen und Getränken – im Normalfall. Doch jetzt wirkt die Halle verwaist. Den Eingang kontrollieren zusätzliche Sicherheitskräfte, die hinter Plexiglasscheiben sitzen. Nur wer sich ausweist und einen Termin hat, kommt durch. Alle anderen Gäste müssen draußen bleiben.
An einem Nebeneingang befindet sich die Auszahlungsstelle der Tagegelder für Obdach- oder Wohnsitzlose. „Bitte einzeln eintreten! Ausweis ggf. Aufenthaltsgenehmigung auf den Tisch im Vorraum legen und den Raum verlassen“, steht da hinter Glas. MitarbeiterInnen der Kreisverwaltung prüfen dann mögliche Ansprüche und hinterlegen einen Auszahlungsbeleg auf dem Tisch. Den können sich die Klienten abholen und damit zum Kassenautomaten gehen. „Diese Maßnahmen sind notwendig, um einen direkten Kontakt zu vermeiden“, erfahren die Hilfesuchenden. Persönliche Ansprechpartner? Fehlanzeige! Auch das gehört zur Normalität in Zeiten von Corona.
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