Gesundheitsamt Frankfurt in NS-Zeit: Sensibles Erbe
In „Erbkarteien“ wurden Menschen vermerkt, die als „erbkrank“ und minderwertig galten. In Frankfurt unterstützt man die historische Aufarbeitung der Daten.
Auf einen ersten Blick finden sich nur wenige Informationen auf dem Papier: der Name der jeweiligen Person, das Geburtsdatum, der Geburtsort, die Wohnadresse. Bedeutsam auf den Karten war vor allem ein Kreuz, zum Beispiel bei: „Psychiatrische Klinik“, „Frauenklinik“ oder „Trinkerfürsorgestelle“. Dieses Kreuz verweist dann auf weiteres Papier – Akten, die damals von den Institutionen angelegt wurden und die teilweise ebenfalls hier im Magazin lagern.
Relevant waren die Karten ab 1933 unter anderem bei Anträgen auf Eheschließung, bei Bewerbungen um eine Stelle im städtischen Dienst, Adoptionen oder Entscheidungen über Zwangssterilisationen von Frauen und Männern. Auch für sogenannte Eheberatungsstellen wurde die Kartei damals genutzt.
Gerade aus der Zeit des Nationalsozialismus werde praktisch nichts weggeworfen, sagt die Mitarbeiterin des Instituts für Stadtgeschichte: „Das Forschungsinteresse zu dieser Zeit ist besonders groß.“ Die Kartei darf für wissenschaftliche Zwecke genutzt werden, „wenn sichergestellt werden kann, dass schutzwürdige Belange der betroffenen Personen oder Dritter nicht beeinträchtigt werden (zum Beispiel durch Anonymisierung) oder wenn das öffentliche Interesse an der Durchführung des konkreten Forschungsvorhabens die schutzwürdigen Belange überwiegt“, führt Sebastian Tripp, der den Arbeitsbereich als Kommissarischer Archivdirektor leitet, aus.
Die Frage nach der Vernetzung
Eine der Personen, die zur Erbkartei geforscht hat, ist der Historiker Jens Kolata vom Frankfurter Fritz Bauer Institut. „Krankheit, Wissen, Disziplinierung“ heißt sein in diesem Jahr erschienenes Buch über die „Öffentliche Gesundheitsfürsorge in Frankfurt am Main zwischen Sozialhygiene und Eugenik 1920–1960“. Kolata ging der Frage nach, wie das Gesundheitsamt Frankfurt in der Betreuung und Überwachung der Menschen agierte – und wie verschiedene Akteure dabei vernetzt waren: Behörden, Krankenhäuser, Heime und die Polizei.
Er stellt dabei fest, dass man die Tätigkeit des Stadtgesundheitsamts in einem Beziehungsgeflecht verstehen müsse. Und dass auch die Kontinuitäten, die die Papiere deutlich machen, interessant seien. So stamme der jüngste Eintrag auf einer Kartei der erhobenen Stichprobe aus dem Jahr 1968.
Im Gespräch sagt Kolata, dass dieser späte Eintrag auf eine Akte der „Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke“ verweist. Den Eintrag erklärt er sich durch personelle Kontinuitäten, viele Mitarbeitende blieben nach Kriegsende in ihren Positionen. „Ich habe mir die Personalakte der Leiterin der Abteilung für Erb- und Rassenpflege aus der NS-Zeit angesehen.“ Dieselbe Person war in den 60ern dann zugleich als Leiterin der „Beratungsstelle für Ehefragen“ und als Mitarbeiterin der „Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke“ tätig.
Auch die Adoptionsabteilung des Jugendamtes hat die Erbkartei bis in die 1960er Jahre genutzt – wohl um Daten zu ermitteln, die für oder gegen eine Adoption sprechen sollten. Kolata geht davon aus, dass die Abteilung vor einer Adoption prüfen wollte, ob Kinder als „erblich belastet“ galten, weil etwa ihre Eltern eine psychiatrische Diagnose bekommen haben, die die Nazis entsprechend ihrer eugenischen Vorstellungen als erblich und die Menschen als minderwertig ansahen. Das eugenische Schlagwort von der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ findet sich bereits im Titel einer 1920 vom Psychiater Alfred Hoche und dem Strafrechtler Karl Binding herausgegebenen Broschüre, „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Die Nazis knüpften daran an.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die „Erbkartei“ in Frankfurt noch weiterverwendet, jedoch hatte sich die Bezeichnung der zuständigen Dienststelle geändert. Die zwischenzeitliche Umbenennung der „Abteilung für Erb- und Rassenpflege“ erst zu „Abteilung für Erbpflege“ und schließlich zu „Beratungsstelle für Ehefragen“ betrachtet Kolata als bezeichnend. „In den ersten Nachkriegsjahren wurde das auf ausgeschriebenen Formularen zum Teil händisch umgeschrieben“, sagt er, man strich die Bezeichnung „Rasse“ einfach durch. Kolata erklärt sich das damit, dass der Begriff „Rasse“ im Unterschied zu „Erbpflege“ als politisch belastet galt.
Das Besondere am Gesundheitsamt in Frankfurt sei, dass die Stadt schon früh eine Erbkartei angelegt habe, erklärt Kolata. Während die Erbkarteien für alle Gesundheitsämter ab 1935 verpflichtend war, begann Frankfurt bereits 1933 mit der Erfassung. Besonders sei aber auch, dass sich das Gesundheitsamt Frankfurt heute mit seiner Geschichte auseinandersetze, sagt Peter Tinnemann, der das Gesundheitsamt leitet. Die Stadt hat Kolatas Forschung finanziell gefördert.
Die Bezüge zu heute
Tinnemann findet es wichtig, sich mit der Geschichte zu befassen – auch um Bezüge zu heute herzustellen. „Wir müssen uns immer wieder fragen, ob der Weg, den wir gehen, der Richtige ist“, sagt er. „Und wir Ärzte im Gesundheitsamt haben die historische Verpflichtung nachzudenken, was heute unsere Aufgabe ist.“
Wichtig sei auch, sich zu fragen, auf was etwa Rechtsradikale heute zugreifen könnten, wenn sie nochmal an die Macht kämen. Ein Gesundheitsamt erfülle seinen Auftrag auf gesetzlichen Grundlagen, die von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig sind.
Auch würden Daten weiterhin gesammelt werden. Das Besondere an den Gesundheitsämtern während des Nationalsozialismus sei jedoch die Tatsache gewesen, dass sie damals Zugriff auf Daten aus unterschiedlichen Behörden hatten und diese für den Versuch genutzt wurden, Menschen, die in der Naziideologie nicht gepasst haben, „auszusortieren“, sagt Tinnemann.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dass eben durchaus auch sensible Dokumente weiterhin aufgehoben werden, findet er wichtig. Es sei ein Abwägen, welche historischen Akten für eine künftige Gesellschaft von Interesse sein könnten. Als Beispiel verweist Tinnemann auf die Akte der ersten Alzheimerpatientin. Oder, als ganz junger Fall fürs Archiv: Unterlagen, die im Zusammenhang mit der Coronapandemie entstanden.
Das Archiv des Instituts für Stadtgeschichte füllt sich immer weiter – mit Material, das sich dann künftige Generationen von Historiker:innen ansehen können, wenn es auch Geschichte geworden ist.
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