Buch über Eugenik in Deutschland: „Unser Blut komme über euch!“

Die US-amerikanische Historikerin Dagmar Herzog hat eine Geistesgeschichte der Eugenik der letzten 150 Jahre in Deutschland vorgelegt.

Menschen schauen auf Ausstellungstafeln in der Ausstellung "Erbgesund - erbkrank", historische Aufnahme aus dem Jahr 1934

Einübung in Eugenik: Eröffnung der Ausstellung „Erbgesund – erbkrank“ in Berlin, 1934 Foto: Scherl/SZ Photo

Die Lektüre von Dagmar Herzogs „Euge­nische ­Phantasmen. Eine deutsche Geschichte“ ist stellen­weise nahezu un­erträglich. Das hat nichts mit der Qualität des Buches zu tun – es ­handelt sich im Gegenteil um eine brillante Studie –, sondern ­vielmehr mit dessen Themen­stellung.

Die New Yorker Historikerin geht darin dem nationalsozialistischen Genozid an Menschen mit Behinderung nach und kartiert dessen Vorgeschichte ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert sowie Kontinuitäten bis in unsere Gegenwart hinein.

Unerträglich ist die Lektüre zuweilen, weil Herzog anhand umfangreichen, auch bildlichen Materials mit dokumentarischer Schärfe herausarbeitet, welches unvorstellbare Grauen sich ereignet, wenn einer Gruppe Menschen ihr Menschsein abgesprochen wird und die Ideologie einer „Nützlichkeit“ und „Brauchbarkeit“ von Menschen dieser Dehumanisierung noch einen pseudolegitimen Anstrich verleiht, der bis heute nicht gänzlich gebrochen ist.

Dagmar Herzog: „Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 390 Seiten, 36 Euro

Alleinstellungsmerkmal von Herzogs Buch ist zum einen, dass sie den „Euthanasie“-Genozid nicht isoliert und begrenzt auf die Jahre 1939 bis 1945 darstellt, sondern das dahinterliegende „eugenische“ Gedankengut in gesellschaftliche Entwicklungen und Vorstellungsbestände einbettet, die in beide zeitliche Richtungen weit darüber hinausreichen.

Vorgeschichte zum NS-Massenmord

Die Abwertung und Entmenschlichung von Menschen mit Behinderung erweist sich als tief in die kollektive DNA der modernen deutschen Gesellschaft verstrickt und nicht bloß auf die Naziideologie beschränkt.

Zum anderen ist bemerkenswert, dass Herzog einen interdisziplinären Zugang wählt, um sich den spiegelbildlichen Phänomenen von „Euthanasie“ (guter Tod) und „Eugenik“ (gute Geburt) anzunähern. Sie greift Deutungs- und Theoriebestände aus Philosophie, Soziologie und Psychologie auf, um das Phänomen der Behindertenfeindlichkeit und seine ­obsessive Besetzung zu rekons­truieren.

Die Vorgeschichte zum Massenmord der Nazis, die Herzog im ersten Kapitel ausleuchtet, macht vor allem die Verwobenheit von eugenischem und rassistischem Gedankengut deutlich. Der Topos der Nützlichkeit von Menschen beherrscht die einschlägigen Diskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts und schlägt sich nieder in Debatten über die Abgrenzung von brauchbarem und unbrauchbarem Leben und dem Bestreben, letzteres zu vermeiden.

Obwohl Behinderungen in dieser Zeit vermehrt in sozioökonomisch schwachen Milieus auftauchten und durch Infek­tions­krankheiten, schlechte hy­gie­nische Zustände und Ernährungsmangel mitbedingt waren, lag der Fokus nicht auf einer Verbesserung dieser Bedingungen, sondern Ärzte, Ökonomen und Theologen interessierten sich mehr für die ­angebliche Bedrohung, die von dieser biologischen „Minderwertigkeit“ für die Gesellschaft ausging.

Rassismus und Antisemitismus

Diese Biologisierung bildet dabei eine direkte Parallele zu rassistischen und antisemitischen Vorstellungen, die eine homogene deutsche „Rasse“ durch abweichende oder „minderwertige“ Elemente gefährdet sahen. Gleichzeitig waren diesen Deutungen patriarchalen Sittlichkeitsvorstellungen eingeschrieben, indem Behinderung als Ergebnis eines ausschweifenden und außerehelichen Sexuallebens von Frauen angesehen wurde.

Von enormer Wirkkraft für das Kippen von solchen rassehygienischen Überlegungen zu konkreten Mordfantasien (und deren späterer Verwirklichung) erwies sich ein 1920 publiziertes Buch des Juristen Karl Binding und des Psy­chia­ters Alfred Hoche mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“.

Die darin propagierte Idee, aus ökonomischen und emotionalen Gründen gelte es, sich „lebensunwerten“ Lebens zu entledigen, stieß auf breite Zustimmung in der Bevölkerung, an die die Nazis ab 1939 mit der sogenannten Aktion T4 direkt anknüpfen konnten – zeitlich vor dem Einsetzen der Schoah, deren technische „Umsetzung“, der Massenmord mittels des Giftgases ­Zyklon B, an Menschen mit Behinderung erprobt wurde.

Interessanterweise widmet sich Herzog im zweiten Kapitel, das die Phase unter dem Nationalsozialismus abbildet, nur indirekt den Tätern der Ermordung von behinderten Menschen während der Aktion T4 und einer zweiten dezen­tralen Tötungsphase zwischen 1941 und 1945. Stattdessen lässt sie zunächst die Opfer der „Krankenmorde“ zu Wort kommen, etwa die Anklage eines „Euthanasie“-Opfers, das bei seiner Deportation rief: „Unser Blut komme über euch!“

Rechtfertigung der Eugenik

Herzog räumt hier auch auf mit einem langlebigen Mythos, dem zufolge die Kirchen durch ihren Widerstand zur Beendigung der „Euthanasie“ beigetragen hätten. Sie zeigt stattdessen auf, dass Theologen eifrig an einer Rechtfertigung der Eugenik mitwirkten und sich vor allem Vertreter der protestantischen Kirche und deren karitativer Institutionen komplizenhaft bei Zwangssterilisationen und Tötungen verhielten.

Die Tragweite und Menschenverachtung der nationalsozialistischen Verbrechen wird erst im dritten Kapitel thematisiert, das sich dem schwierigen Versuch einer juristischen Verfolgung widmet. Eine wichtige Rolle spielte hier der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dessen Bestrebungen, in Anlehnung an die Auschwitz­prozesse einen – noch größer angelegten – Prozess zu den „Krankenmorden“ in Gang zu setzen, scheiterten.

Bezeichnenderweise reagierte ein Großteil der deutschen Gesellschaft in den 1960er Jahren unwillig auf Bauers Bemühungen, und seine 800-seitige Anklageschrift verschwand zunächst in der Vergessenheit.

In den letzten beiden Kapiteln beschreibt Herzog die weiteren Entwicklungen im Umgang mit „behinderten“ Menschen und das langsame Aufbrechen ihrer Separierung vom öffentlichen Leben in Westdeutschland und der DDR. Obwohl der „Antipostfaschismus“ der 1970er und 1980er Jahre dafür sorgte, ein anderes Menschenbild zu etablieren, sind die titelgebenden „eugenischen Phantasmen“ bis in unsere Gegenwart hinein spürbar.

Rechtsextremismus heute

Das Nachwort von Herzogs Buch wirkt deswegen in manchen Zügen allzu optimistisch – etwa wenn sie von einer steilen und beeindruckenden Lernkurve seit dem „umwälzenden Perspektivwechsel“ der 1970er spricht oder diagnostiziert, dass behindertenfeindliche Äußerungen von führenden Vertretern der AfD auf „energische Zurückweisung“ stießen.

Rechtsextremistisch ­motivierte Angriffe auf Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen wie etwa jüngst in Mönchengladbach und ein medizinisches Vorsorgesystem, das auf eine Detektierung von genetischen Auffälligkeiten und ­selektive Schwangerschaftsabbrüche angelegt ist, sprechen eine andere Sprache.

Zum Verlernen eugenischer Phan­tas­men und einem ­Bekenntnis zu radikaler Gleichwertigkeit menschlicher Differenz bietet Dagmar Herzogs Buch und dessen Lektüre aber einen entscheidenden Schlüssel. Denn sie führt uns zutiefst eindrücklich vor, dass entmenschlichende Denkfiguren und Ideologien mörderische Konsequenzen haben und ein anderes Handeln deswegen zuallererst bei einem radikal anderen Denken ansetzen muss.

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