Gesellschaftlicher Aktivismus in Polen: Die farbenfrohe Madonna
Ab Mittwoch stehen in Polen drei Frauen vor Gericht. Ihr Vergehen: Sie haben der Schwarzen Madonna von Tschenstochau einen Regenbogen umgehängt.
D ass unsere Regenbogen-Madonna einmal so berühmt werden könnte, damit hätten wir nie gerechnet“, lacht Joanna Gzyra-Iskandar (32) und setzt ihren schweren Rucksack vorsichtig ab. In der Stadtteilkneipe „U Dziewczyn – Bei den Mädels“ in Warschau-Zoliborz wollen drei feministische Aktivistinnen besprechen, was sie bis zum Prozessbeginn am kommenden Mittwoch noch zu erledigen haben. „Wir kommen gerade von Amnesty International zurück. Die polnische Sektion hat hier ganz in der Nähe ihr Büro“, erzählt Anna Prus (29) und hält den Rucksack auf. Joanna schiebt vorsichtig beide Hände hinein und wirft ein gutes Dutzend Postkarten auf den Tisch. Zu erkennen ist zunächst nur ein leuchtend bunter Regenbogen-Heiligenschein, dann Maria mit Kind. Erst dann geht dem Betrachter auf, dass es sich um verschiedene Variationen des berühmten Nationalheiligtums Polens handelt, der Schwarzen Madonna von Tschenstochau.
Elzbieta Podlesna (53) dreht einige der Karten um und liest die kurzen Nachrichten darauf vor. Sie wirkt müde und erschöpft, aber sie lächelt: „Man glaubt es kaum, aber diese Wünsche aus der ganzen Welt – das gibt uns sehr viel Kraft. Und die haben wir auch bitter nötig.“ Im Rucksack seien Postkarten mit einem Gewicht von rund vier Kilogramm, und in ihrem Auto lägen mindestens noch einmal so viele.
Nur ein paar Tage noch, und die drei Frauen werden vor Gericht stehen, in der zweiten Instanz schon. Ein Staatsanwalt hat sie wegen „Beleidigung religiöser Gefühle“ angeklagt.
Ela, wie die Psychotherapeutin von ihren Freund:innen und Bekannten genannt wird, seufzt: „Es geht der polnischen Regierung darum, uns zu zermürben. Wir werden wegen allem und jedem vor Gericht gezerrt. Ich kann meine Prozesse kaum noch auseinanderhalten.“
Zurzeit seien es wohl fünf oder sechs. „Und wenn wir am Mittwoch in zweiter Instanz freigesprochen werden sollten“, richtet sie sich plötzlich auf, „dann wird Zbigniew Ziobro, der Generalstaatsanwalt und Justizminister in einer Person, persönlich dafür sorgen, dass unser Regenbogen-Madonna-Fall auch noch vor dem Obersten Gericht landet.“ Sie fährt sich durch die braunen kurz geschnittenen Haare und spricht den anderen und sich selbst Mut zu: „Wie unser genialer Anwalt schon sagte: Selbst wenn die andere Seite gewinnen sollte, hat sie doch schon verloren!“
Das seltsame Ostergrab von Plock
Diese Geschichte beginnt nicht mit Straßenprotesten, Polizeigewalt oder wehenden Fahnen. Sondern mit einem Osterausflug. Im April 2019 fährt Magdalena Bielska, eine gute Bekannte der drei Warschauer Feministinnen, nach Plock, um dort mit ihrer ganzen Familie das Fest zu feiern. Die Stadt mit gut hunderttausend Einwohnern liegt rund 100 Kilometer nordwestlich von Warschau. Von der hübsch renovierten Altstadt aus blickt man zum einen auf die tief darunter fließende Weichsel und zum anderen auf die rauchenden Schlote des Mineralölkonzerns Orlen und dessen gigantischer Raffinerie. Plock ist Bischofssitz und stolz auf seine Geschichte, einst war es sogar einmal die Hauptstadt Polens.
Dort angekommen hört Magdalena Bielska, dass in der St.-Dominik-Kirche ein sehr seltsames Ostergrab aufgestellt worden sei. Neugierig machte sie sich mit einer Kamera auf den Weg. Die Installation verschlägt ihr die Sprache: Über dem christlichen Kreuz hängt, dramatisch drapiert, eine polnische Flagge. Daneben stehen hellbraune Pappkartons, auf denen handschriftlich vor „Sünden“ wie LGBT, Gender und „Homo-Abartigen“ gewarnt wird, vor denen sich die Gläubigen genauso fernhalten sollten wie vor Hass, Lüge, Geiz und Abfall vom Glauben. Magdalena fotografiert das alles und stellt die Bilder ins Internet.
In Warschau beschließen bald darauf Ela Podlesna, Joanna Gzyra-Iskandar und Anna Prus, dass der Aufbau dieses homophoben Christusgrabes nicht unkommentiert bleiben soll. Die drei haben sich 2017 auf einem Marsch des Frauenstreiks gegen die weitere Verschärfung des Abtreibungsrechts in Polen kennengelernt und sich danach häufiger verabredet.
„Wir überlegten, wie unsere Aktion aussehen könnte. Was konnten wir von anderen Aktionen in Plock verwenden? Was musste völlig neu sein?“, erzählt Prus. Seit drei Jahren verwenden sie zum Protest immer mal wieder kleine Aufkleber mit einer Abbildung der Schwarzen Madonna von Tschenstochau – nur dass diese statt des goldenen einen Heiligenschein in den Regenbogenfarben der LGBT-Bewegung trägt.
Wie die Idee mit dem Regenbogen entstand
„Auf die Idee mit dem Regenbogen war ich gekommen“, sagt Prus, die jüngste der drei Aktivistinnen. „Ich muss ein bisschen zurückgreifen, sonst versteht man den Zusammenhang nicht. Also: Der Kampagne gegen Homophobie war es gelungen, Polens Schuldirektoren davon zu überzeugen, einmal im Jahr – immer im Oktober – einen Infotag zum Thema Homosexualität durchführen.“ Beim zweiten oder dritten Infotag habe die katholische Kirche plötzlich behauptet, dass dies eine Politisierung der Kinder darstelle und sich deshalb Eltern, Lehrer:innen, Politiker:innen und Priester dagegen aussprechen müssten. Und so sei der LGBT-Infotag an den meisten Schulen wieder verschwunden.
„Ich war damals 26 und konnte mich sehr gut an mein Gefühlschaos mit 15, 16 Jahren erinnern. Es gab niemanden, mit dem ich darüber hätte reden können, keine Psycholog:innen an der Schule, keine Informationen, einfach nichts“, sagt sie und nimmt die markante schwarze Hornbrille für einen Moment ab. Sie wollte den Jugendlichen etwas Tröstendes und zugleich Mutmachendes in die Hand drücken.
„Bei der Internetsuche nach einem geeigneten Symbol blieb ich bei der Muttergottes von Tschenstochau hängen. Der Heiligenschein von Maria und Jesus ließ sich leicht austauschen. Ich bat eine befreundete Designerin darum, das Bild der Ikone für uns umzuarbeiten.“ Joanna Gzyra-Iskandar nickt der Tischnachbarin Anna zu: „Was mich ganz besonders freut, ist, dass eigentlich alle Leute die Symbolik der Regenbogen-Madonna sofort verstehen. Die grenzenlose elterliche Liebe, die dich nicht disqualifiziert, weil du lesbisch oder schwul bist, weil du eine bi- oder transsexuelle Person bist.“ Sie legt sich die langen schwarzen Rastazöpfe über die linke Schulter und trinkt einen Schluck Tee. Dann sagt sie: „Ich liebe dich, weil du mein Kind bist. Ohne Wenn und Aber.“ Genau so würde die Muttergottes ihren Sohn lieben.
„Vor drei Jahren druckten wir große Plakate mit der Regenbogen-Madonna und hängten sie in der Nähe aller großen Kirchen in Warschau auf, außerdem direkt am Gebäudeeingang des Episkopats“, erzählt Ela Podlesna, die Wortführerin der kleinen Gruppe. „Doch damals reagierte kein Mensch.“ Sie hätten noch einen gewissen Vorrat an kleinen Madonnen-Aufklebern gehabt. Die hätten sie für die Aktion in Plock eingepackt, dazu Farbspraydosen und Schablonen mit Sätzen wie „God, save the Queer!“ oder „Gott, schütze den Regenbogen“ und zu guter Letzt einen großen Stapel Infoblätter, auf denen die Namen von Bischöfen, Kardinälen und Priestern standen, die jahrelang den sexuellen Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche vertuscht hatten oder gar selbst an Kindesvergewaltigungen beteiligt waren.
Genau eine Woche nach Ostern, in der Nacht vom 27. auf den 28. April 2019, fahren die drei nach Plock, kleben die kaum postkartengroßen Regenbogen-Madonnen auf den Infokasten der Gemeinde, auf Sitzbänke rund um die St.-Dominik-Kirche, auf Litfaßsäulen und Laternen, aber nicht, wie später behauptet wird, auf Toilettentüren oder Abfallcontainer. Daneben hängen sie oft noch das DIN-A4-Blatt mit den Namen der kirchlichen Sexualstraftäter oder der Vertuscher. Und hin und wieder reicht die Zeit auch noch für ein paar Graffiti „God, save the Queer“ oder „Gott, schütze den Regenbogen“.
Die Hausdurchsuchung
Dieses Mal schlägt die Regenbogen-Madonna-Aktion wie ein Blitz ein. Das liegt wohl an Kaja Godek, die im Wahlkreis Plock ein Mandat für das Europäische Parlament holen will und für eine rechtsradikale Partei kandidiert. Sie veranstaltet schon einen Tag nach der Aktion der Feministinnen eine Pressekonferenz und spricht dort von einer „Attacke der LGBT-Bewegung“ auf die katholische Kirche, auf die polnischen Werte und Traditionen. Die Infoblätter mit den Namen der kirchlichen Pädophilen erwähnt sie mit keinem Wort. Aber dafür informiert Godek den damaligen Innenminister Joachim Brudzinski.
Wenige Tage später wummert die Polizei um kurz nach sechs Uhr in der Frühe an die Wohnungstür von Elzbieta Podlesna in Warschau und bringt diese anschließend zum Verhör nach Plock. Während Podlesna dort vorgeworfen wird, als Kopf einer verbrecherischen Bande zu fungieren, durchsucht die Polizei ihre Warschauer Wohnung und requiriert Computer, Laptop und sämtliche Datenträger – das alles wegen einiger nicht einmal postkartengroßer Aufkleber mit der Regenbogen-Madonna.
Monate später wird Podlesna wegen der völligen Unverhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen eine Entschädigung zugesprochen. Das Trauma aber bleibt. Die Wohnung gleicht nach der Rückkehr Podlesnas einem Trümmerfeld: alle Gegenstände aus den Schränken und Regalen gerissen, Bücher, Wäsche, Geschirr. Vieles war zerstört worden, sagt Ela Podlesna. Seither wohnt sie mal in einem Wohnwagen, mal in Privatunterkünften. Eines Tages will sie wieder in den eigenen vier Wänden leben. Sie baut nun ein Haus.
Die Staatsanwaltschaft in Plock klagt Ela Podlesna, Anna Prus und Joanna Joanna Gzyra-Iskandar wegen der „Beleidigung religiöser Gefühle“ an. Darauf stehen in Polen bis zu zwei Jahre Haft. Die Politikerin Kaja Godek und der Priester Tadeusz Lebkowski fühlen sich ebenfalls „religiös beleidigt“ und schließen sich der Klage an. Die Anzeige eines aufgebrachten Gläubigen, der sich wiederum vom homophoben Christusgrab des Priesters „religiös beleidigt“ fühlt, weist die Staatsanwaltschaft hingegen als „irrational“ zurück, da ein Priester als Katholik keinen Katholiken beleidigen könne.
Der Freispruch
„Endlich, am 13. Januar 2021, kam es zur ersten Gerichtsverhandlung“, berichtet Ela Podlesna. Genau einen Monat später spricht das Bezirksgericht in Plock die drei Aktivistinnen von allen Vorwürfen frei. „In keinem dem Gericht bekannten Bibeleintrag oder Katechismus der katholischen Kirche findet sich ein Hinweis, dass nicht heteronormative Menschen aus der Kirche auszuschließen seien. Im Gegenteil“, sagte die Richterin. Und weiter: „Auch nicht heteronormative Menschen haben das Recht, zur kirchlichen Gemeinde zu gehören und nicht stigmatisiert zu werden.“
„Das war eine große Erleichterung, aber es war klar, dass die Staatsanwaltschaft nicht lockerlassen würde“, sagt Podlesna. Die Staatsanwaltschaft hat Berufung eingelegt. Ela Podlesna stützt den Kopf auf die Hände und stöhnt: „Am nächsten Mittwoch werden wir, so hoffe ich jedenfalls, auch in zweiter Instanz freigesprochen. Aber dann wird wieder Generalstaatsanwalt-Justizminister Ziobro eingreifen und den Fall an das Oberste Gericht verweisen.“ Sollten die Richter dort einen auch nur formalen Fehler finden, so fürchtet sie, werde alles wieder von vorne beginnen. Demnächst werde sich das Oberste Gericht Polens schon mit einer Schadenersatzzahlung in Höhe von 71 Euro befassen. Das habe ebenfalls Ziobro angeordnet. „Ich könnte das Geld ja auch einfach so überweisen, aber darum geht es ja nicht“, sagt Podlesna.
Anna Prus, Angeklagte
Anna Prus, die Jüngste des Trios, zupft sich an den Spitzen ihrer langen dunkelbraunen Haare. „Ich schaffe das nicht mehr“, sagt sie. „Die ständigen Repressionen, die Angst, auch davor, dass der Familie etwas passieren könnte. Ich werde Polen verlassen. Meine Partnerin auch. Wir lernen intensiv Deutsch, und wenn alles gut geht, werden wir schon Mitte nächsten Jahres ‚Hallo, Berlin!‘ sagen.“ Joanna Gzyra-Iskandar legt ihr die Hand auf den Arm: „Vielleicht verlasse ich Polen auch eines Tages, aber noch halten mich die vielen Frauen, die zu uns ins Zentrum der Frauenrechte kommen und bei uns Hilfe und neuen Lebensmut finden.“ Sie drückt Anna Prus herzlich die Hand: „Du machst das schon richtig!“
Ela Podlesna, Angeklagte
Ela Podlesna kann ihre müden Augen kaum noch aufhalten. „Kinder!“, sagt sie. „Jetzt lasst uns mal nicht Trübsal blasen! Wir schaffen das alles. Nächste Woche gewinnen wir den nächsten Prozess, und dann müssen wir an die polnisch-belarussische Grenze und den Flüchtlingen helfen!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“