piwik no script img

Geschichten zum Jahreswechsel (III)Ein übermächtigtes Nichts

Caddy ist Schriftsteller und hat zu wenig Geld zum Leben. Eine nicht ganz unwahre Geschichte über Geld und Krankheit, Corona und die Bürokratie.

Caddy ist nicht allein: Akten mit Hartz-IV-Klagen im Berliner Sozialgericht 2014 Foto: dpa | Stephanie Pilick

„Denn der Übermächtigte, weil er nicht handeln kann, mag sich wenigstens redend äußern“

(Johann Wolfgang von Goethe)

Er zappelte als Marionette an der Angel durch den Supermarkt, taumelnd, ruckartig, fatal abbremsend. „You dirty trouble!“, dachte er, genervt von seinen Bewegungsstörungen: MS. Caddy kramte in seinen Hosentaschen und pulte eine 20-Cent-Münze hervor. Dafür würde er kein Brötchen bekommen, geschweige denn Aufschnitt oder Käse. Er fischte sein Portemonnaie aus der Jackentasche und entdeckte einen 5-Euro-Schein: Der Tag war gerettet! Mozzarella, Nudeln, Tomatensoße, ein Brötchen und Gouda sammelte er ein und ging an die Kasse. Heute wollte er blaumachen und sehen, was passierte, wenn er nichts tat. Er würde bald 60, davor fürchtete er sich ein wenig, denn er hatte nichts Besseres zu tun, als Gefühle jedweder Natur zu entwickeln.

Caddy entriegelte die Haustür und schaute in den Briefkasten. Eine Institution hatte ihm geschrieben: die selige VG Wort. Er ging in den vierten Stock, öffnete die Wohnungstür und riss den Brief auf. „Ausschüttungsauskunft“ stand auf dem ersten Blatt. Caddys Augen suchten nach einer Zahl. Er fand Ausführungen über Bibliothekstantiemen, Sonderausschüttungen und Presse-Repros, und darunter: 4–3–2–3 und 4–3.

Die VG Wort tritt für den Schutz journalistischer, wissenschaftlicher, belletristischer, auch gebloggter Texte ein, also auch von Caddys Artikeln und literarischen Ergüssen in gebundenen Büchern, die ausgeliehen, kopiert und vermietet wurden. Er las die Zahl noch einmal, ging die Liste durch. Nachzahlung seit 2008 stand darüber. Sonst bekam er vielleicht 200 oder 300 Euro überwiesen, und nun so viel?

Leider kam der diesmal kochend-heiße Regen zu spät: Die Künstlersozialkasse hatte ihn vor einem halben Jahr aus Sozial- und Krankenversicherung geworfen, weil er jahrelang zu wenig Geld mit seiner Schreiberei verdient hatte. Er war eben nur Künstler im Sinne, sich und seinem Ausdruck treu zu bleiben, nicht in dem, mit seinem Tun für ausreichend Penunzen zu sorgen. Das hatte er einfach nicht drauf.

Im nächsten Moment überfiel ihn Panik. Er war schon berentet, stockte sein kleines Alterstaschengeld von 450 Euro mit den 700 von der Grundsicherung auf. Gelegentliche Einkünfte und die noch viel selteneren Schenkungen musste er stets dem Amt vorlegen und durfte 30 Prozent davon behalten. Die Paresen am rechten und linken Bein hatten ihm 2012 eine massive Gehbehinderung eingebracht, aber damit auch das Merkzeichen G und damit 72 Euro extra. Geld, das er theoretisch sparen könnte, doch dazu kam es aber nie: Caddy brauchte zu oft Taxis.

Geschichten zum Jahreswechsel

Kann es schöne Geschichten über prekäres Arbeiten geben, oder Gespenster mit Nachrichtenwert? Finden wir es heraus. Die taz.nord widmet sich zum Jahreswechsel der Literatur: mit vier Erzählungen von Autor:innen, die etwas zu sagen haben.

Er hatte das Gefühl, er wäre ein Betrüger, wenn er das dringend benötigte Extra-Einkommen an der Behörde vorbei in seine Tasche lotsen würde. Aber Caddys Herz beschleunigte und wehrte sich gegen seine Ehrlichkeit. Er fürchtete, Sachbearbeiter Müller könnte irgendwann Einsicht in die Buchungssätze verlangen. Caddy atmete schneller. Er geriet in Anspannung, weil er dem Staatsdiener und seiner Verwaltung diesen Triumph nicht gönnen wollte. Er beschloss abzuwarten und nichts zu unternehmen.

Endlich Anerkennung für all die Jahre des Wühlens im Buchstabenstaub, ob lyrisch, prosaisch, ob Online oder Print, ob arm oder reich, ob verdichtet oder ausschweifend schwafelnd. Wie oft hatte er kein Geld in den Taschen gehabt und den eigenen Namen in der Zeitung und auf Büchern zu lesen, war sein größter Antrieb gewesen und beinahe auch sein einziger Lohn.

Seine Unruhe kehrte in den nächsten Tagen verstärkt zurück. Er konnte an nichts anderes denken. Er konnte vor allem nicht aufhören zu denken. Niemals wollte er sich diese Leistung aus den Taschen ziehen lassen, never! Caddy schlief unruhig und kaum war er wach, ging das Gedankenkarussell wieder los. Er wehrte sich körperlich gegen seine Aufrichtigkeit, die es ihm schon oft schwer gemacht. Diesmal sollte es anders sein, diesmal würde er das Geld jeder Auslieferung verweigern.

Nach acht Tagen hatte er sich noch immer nicht im Griff. Er war ein übernächtigtes Nichts. „Das ist die Schuldstruktur!“, blökte ihm der herausgeschrieene Songtext der Tödlichen Doris ins Hirn. Eine Erfindung fehlgeleiteten Humanismus’, beschloss Caddy, und hoffte, ein für allemal die überhöhten Ansprüche an die Ethik zu ersticken, die kein Mensch je erfüllen konnte.

Seit gestern fühlte sich seine linke Gesichtshälfte taub an. Ein tumbes Flirren zog von der Stirn bis zur Nase, weiter bis an die Schläfe und zum Kinn. Kein schönes, zartes Insichstecken. Caddys Haut war stumm, wie tot, nichtssagend fühllos. Vielleicht ein eingeklemmten Nerv. Saß er nicht immer falsch am Computer? Mit hängenden Schultern und krummem Rücken, den Nacken eingezogen … Kein Wunder!

Kirsten Heuer
Carsten Klook

ist Schriftsteller und Kulturjournalist. Für die taz Hamburg schrieb er über Literatur, Musik und Straßenzüge. Im Januar 2020 begann er, seine Autobiografie zu schreiben, weil er fünffach vorerkrankt ist und damals schon befürchtete, dass das Coronavirus um die Welt gehen würde.

„Vielleicht ist es auch die Stirnhöhle“, mutmaßte sein Neurologe am Telefon. „Lassen Sie doch mal bei Ihrem Hausarzt eine Blutuntersuchung vornehmen, ob Sie eine Entzündung im Körper haben. Dann können wir ausschließen, dass es ein MS-Schub ist.“ Und Caddy ließ sich in der Praxis deckfarbenen Lebenssaft entnehmen, skandinavisch tiefrot. Am nächsten Tag das Ergebnis: keine Entzündung. Als er am Sonntag danach mit seiner Freundin im Volkspark spazieren ging, waren seine Beine unerträglich schwer, er schaffte nur 700 Meter.

Am Tag darauf trat Caddy aus der Haustür und schon nach den ersten Schritten mäanderte sein linkes Bein, legte bei jedem Tritt einen kleinen Zwischenschritt ein, zuckte nach vorn und zog dann nach links. Caddy konnte nicht mehr geradeaus gehen. Er hatte wieder eine Beinparese, einen erneuten Schub. Wie damals, 2012, als seine Beine plötzlich wegknickten, gerade als er aus Ingrids Auto steigen wollte. Er war wütend: darüber, dass es jetzt so weit war. Dass er sich selbst so unter Druck gesetzt hatte und physisch reagierte. Dass ihm immer fast nichts blieb: 30 Prozent.

Sein Neurologe verabreichte ihm an drei Tagen jeweils ein Gramm Kortison als Infusion. Als Caddy der langsam in seine Armvene tropfenden Flüssigkeit nachsann, beschloss er, dem Amt das Geld anzugeben. Nicht sofort, aber am Monatsende, das waren noch zweieinhalb Wochen. Der Gedanke entledigte ihn seines inneren Drucks. „Everyday I write the book“: „Wie konnte Elvis Cos­tello nur so recht haben, über ihn so genau Bescheid wissen?“, rätselte Caddy, und ging dazu über, Frieden mit den Umständen seines Lebens schließen zu wollen.

Am nächsten Morgen war das taube Gefühl der linken Gesichtshälfte verschwunden. Am Abend nach der dritten Infusion hatte sich sein linkes Bein stabilisiert, es irrte nicht mehr umher, zog nicht nach links. So schnell war noch kein Schub vorbeigegangen. „Als ich mich entschlossen habe, das Geld anzugeben, waren die Symptome weg“, erzählte Caddy seinem Neurologen. „Wenn das kein psychosomatischer Zusammenhang ist!“

Caddy hatte versucht, das Geld so lange wie möglich zu behalten und sich dabei eine Läsion ins Hirn gebrannt. Er musste nun Rücksicht nehmen auf die staatliche als auch auf die körperliche Verfassung. Ihm wurde klar: Er hatte Schuldgefühle, dass er überhaupt da war, anwesend, existierend... Das war das eigentliche Problem. Geld spielte keine Rolle

Nachdem er sich entschieden hatte, schlief er besser. Mit krakeliger Handschrift setzte er einen Brief auf:

„Sehr geehrter …

ich habe von der … sensationellerweise 4.323,43 Euro erhalten.

Mit indoktrinierten Grüßen...“

Caddy wusste, dass er diesen Brief ewig bereuen würde, aber er hatte versucht, das Geld so lange wie möglich zu behalten und sich dabei eine Läsion ins Hirn gebrannt. Er musste nun Rücksicht nehmen auf die staatliche als auch auf die körperliche Verfassung. Ihm wurde klar: Er hatte Schuldgefühle, dass er überhaupt da war, anwesend, existierend … Das war das eigentliche Problem. Geld spielte keine Rolle.

Er legte das Schreiben in ein Kuvert und bewahrte das Papier auf seinem gläsernen Schreibtisch auf. Die Tage bis zum Ende des Monats verliefen gleichförmig und angenehm. Er sah fern, ging zum Fußballgucken in seine Stammkneipe, trank Anisschnaps. Im August wollte er mit Ingrid an die Ostsee fahren, drei Wochen Urlaub im Ferienhaus ihrer Eltern. Er hatte ja jetzt Geld.

Am letzten Julitag fuhr er zum Amt und warf endlich den Brief in den Schlitz neben dem Eingang. Beruhigt konnte er nun ans Meer reisen. Er verschwendete keinen Gedanken mehr an den Zwist, den er mit sich selbst ausgefochten hatte.

Sehnsucht nach Schreibtisch

Die Ferientage waren gezeichnet von starken Regengüssen. Selten konnte das Paar in den Deckchairs auf der Naturholzterrasse in der Sonne liegen. An den Strand gingen sie dennoch oft, Ingrid versuchte an einigen Tagen in der See zu baden. Meistens aber wagte sie nicht, mit dem ganzen Körper ins Nass abzutauchen. An drei Abenden besuchte Caddy die örtliche Sportsbar und schaute sich die Spiele zweier abgestiegener Fußballvereine aus Hamburg an.

An den Donnerstagen gingen sie zu einer Open-Air-Bühne, auf der junge Nachwuchsmusiker erste Auftritte wagten. Er hatte im Urlaub keine großen Ansprüche, freute sich auf ein paar Allerwelts-Coverversionen, so verging wenigstens die Zeit rascher. Das Prinzip der Erholung konnte er nicht verstehen: Ihm fehlte dabei immer seine Arbeit am Tisch und das Schreiben als Akt und Prozess. Nur so war er sich nahe.

Am Morgen ihrer Rückkehr öffnete Caddy nach der Ankunft in seiner Wohnung drei Briefe – alle von seiner zuständigen Administration. Der erste enthielt eine Aufforderung, die Betriebskostenabrechnung einzusenden. Der zweite eine Mitteilung über Computersystemumstellungen in den Dienststellen. Auf dem letzten las er mit trockenem Mund: „Ablehnungsbescheid“.

Ab dem 1. September habe er keinen Anspruch mehr auf Grundsicherung. Nichts. Keine monatlichen Überweisungen mehr! Er war fassungslos und rief seinen Zuständigen an. „Nein, keine 30 Prozent. Werden Ihnen anerkannt … Es ist Ihre Einmalzahlung, die das generelle Problem ist. Sie erhalten Leistungen erst wieder ab Februar. Ganz automatisch, Sie brauchen sich nicht wieder anmelden. Einen schönen Tag noch!“

Caddy musste also sechs Monate von dem Geld leben und hatte in der Zeit exakt so viel oder wenig wie der Regelsatz es vorsah, circa 700 Euro monatlich. Er spürte, wie schwarzes Gift in ihm hochstieg. Abends beschloss er, Widerspruch einzulegen. Er setzte einen einfachen Schrieb auf, forderte die 30 Prozent ein, klebte eine Marke auf und ging zum Postkasten. Er wollte es ihnen zeigen: Mit mir nicht!

Salpetersäure und Schlangengift

Caddy ließ den Sachbearbeiter an einer Leine an ein Auto binden und über harte Pflastersteine schleifen, von einem Bulldozer überfahren und zermalmen. Er stieß den Hüter der pekuniären Unordnung von einer Klippe, gab ihm Nägel zu fressen und zwang ihn, mit Glasscherben zu gurgeln. Er servierte ihm einen Cocktail aus Salpetersäure und Schlangengift. Er vermummte sich und lauerte ihm auf, schoss dem Angestellten mit einer Beretta 92S von vorn fünfmal in die Brust. Er fesselte ihn auf einem Bürostuhl, setzte ein Bolzenschussgerät an seinen mal eben kahlrasierten Schädel, fokussierte die Schläfe und drückte ab. Er nahm ein Maschinengewehr, zielte auf seinen Bauch und feuerte mehrere Salven ab. Er spannte ihn vor eine Kanone und ließ ihn auf einer Kugel reiten, entblößte ihn, öffnete ihm mit einer Zange den After, ließ eine Ratte in das Gewölbe krabbeln, die sich durch die Innereien fraß. Er fixierte den Mann auf dem Boden einer Baustelle und löste einen Betonblock von einem Kran, damit er platt wurde wie eine Briefmarke. Schubste ihn vor einen Zug und ließ ihn überrollen, dass ihm das Rückgrat brach. Er befestigte ein 50-Kilo-Gewicht an seinen Beinen, stieß ihn in ein Bassin voller Piranhas. Gab ihm eine Spritze mit Heroin, eine hohe Dosis Crack, versetzte das Frühstücksbrötchen des Mannes mit Strychnin und wünschte ihm einen guten, aber passiven Tag. Er buddelte ihn in die Erde ein und ließ bei praller Sommersonne stete Tropfen auf sein kahles Haupt niedergehen, drei Tage lang. Ließ ihn von der Revolutionsgarde enthaupten … „All das und noch viel mehr … würd’ ich machen, wenn ich König von Deutschland wär“, begann Caddy, Rio Reiser zu zitieren.

Nachdem er sich in seinem Rausch besinnungslos ereifert hatte, dämmerte ihm, dass der Sachbearbeiter nur seine öde Arbeit machte. Und wenn Caddy es sich recht überlegte, war das Geld, das er bekam, sicherer als jeder Job. Auch blieben seine Mietzahlungen durch das Ganze nicht aus. Das war mehr als die unsicheren Zustände der arbeitenden Bevölkerung, allen Schwankungen des Kapitalismus ausgeliefert. Auch wenn es nur für das Nötigste reichte: Überleben konnte Caddy. Dass er sein extrem gelegentliches Einkommen abzuführen hatte, war nur die Parallele zur Entrichtung der Steuern. Auch wenn er die Viertausendplus nur allzu gut hätte verwenden können: Aufgeregt hatte er sich darüber schon genug. Er wählte das Digitalalbum „Reasonreasonreasonreason“ der famosen Band Candelilla auf seinem Rechner und spielte Track 11. Der klang nach einem starken Slogan … und wie seine Einsicht: „Hysterie marry me!“

Caddy beschloss, sich wenigstens etwas Summe wiederzuholen und rief eine Beratungsstelle an. „Sie brauchen eigentlich nur einen Satz in Ihrem Widerspruch zu schreiben, denn die Behörde muss das Geld auf ein Jahr anrechnen“, sagte die freundliche Telefonstimme. „Die selbstständigen Einkünfte … sind für das Jahr zu berechnen, in dem der Bedarfszeitraum liegt. Die sind … Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit. Ich bitte um … Neuberechnung.“ Das fühlte sich schon besser an! Caddy tippte, druckte aus, warf in den Postkasten und war erleichtert.

Am nächsten Tag berichtete er seiner Mutter von der ganzen Angelegenheit. Die schickte ihm per Post einen ausgefüllten Lottoschein, den er nur noch abzugeben brauchte. „Man muss dem Glück die Chance geben, einen zu finden“, hatte sie auf den beiliegenden Zettel geschrieben. Er nickte müde, gab den Schein beim nächsten Einkauf ab. Nach 24 Stunden des Wartens eine Minute der Wahrheit: Caddy hatte zwei bis drei Richtige – auf dem ganzen Schein.

Tausend Seiten Leben

Über ein Jahr wartete Caddy auf das Ergebnis seines Widerspruchs. Währenddessen ging die Coronapandemie mehrmals um die Welt und raffte über 1,5 Millionen Menschen dahin … Sie waren einfach tot. Caddy war fünffach vorerkrankt, fürchtete das Virus und begann bereits Ende Januar, in einer panischen Vorahnung, fieberhaft seine autofiktionale Autobiografie zu ­schreiben. Er kam nach vier Monaten auf 1.000 Seiten und begann mit der mehrfachen Überarbeitung.

Das für Caddy zuständige Amt arbeitete trotz Covid-19 nicht schneller. Sein Anliegen war inzwischen vom Grundsicherungsamt an das Rechtsamt delegiert worden, das auch nach einem weiteren halben Jahr nichts von sich hören ließ.

Caddy ließ sich noch einmal beraten und setzte der zuständigen Behörde eine Pistole auf die Brust, von der er wusste, dass sie nur mit aufgeweichten Erbsen gefüllt war: eine Frist von einem Monat. Wahnsinnig brutal. Wenn der zuständige Bearbeiter dann noch immer nicht reagieren sollte, kündigte er an, eine UNTÄTIGKEIT-S-KLAGE einzureichen.

Caddy wartete ohne jede Zuversicht. Ihm schwante äußerst Dunkles, das manchmal ins fantastisch modulierte Aubergine changierte. Er hatte berechnet, dass ihm für das halbe Jahr 1.200 Euro zustünden, nur glauben tat er daran nicht mehr. Drei Tage vor Ablauf der Frist erreichte ihn das behördliche Schreiben. Caddy wurde mitgeteilt, dass der vor 13 Monaten getroffene Beschluss rechtens sei und „einmalige Einnahmen im Zeitraum von sechs Monaten gleichmäßig zu verteilen seien“. Er hatte also nichts zu erwarten, ging so leer aus, wie er sich fühlte.

Er spürte, wie schwarzes Gift in ihm hochstieg. Abends beschloss er, Widerspruch einzulegen. Er setzte einen einfachen Schrieb auf, forderte die 30 Prozent ein, klebte eine Marke auf und ging zum Postkasten. Er wollte es ihnen zeigen: Mit mir nicht!

Caddy gab sich auch damit keineswegs zufrieden und befragte die Öffentliche Rechtsauskunft, die ÖRA. Die dort nebenberuflich arbeitende Richterin bestätigte ihm die Ordnungsgemäßheit des Bescheids. „Eine Klage wegen Untätigkeit ist ja jetzt hinfällig, weil sich das Amt innerhalb der von Ihnen gesetzten Frist rechtzeitig gemeldet hat. Eine Klage gegen das Verteilen Ihres Einkommens auf sechs statt zwölf Monate wäre aussichtslos und damit nicht empfehlenswert.“ Außer einem beinahe unbeteiligt abnickenden Muskelreflex entfuhr Caddy nur ein müdes Lächeln.

„Können Sie denn mit diesem Ergebnis leben?“, fragte die Richterin und versuchte versöhnlich einzuwirken. „Ich meine, eine Klage ist ja immer auch ein seelischer Prozess. Wie geht es Ihnen nun damit?“

„Ich bin ja Autor und habe eine Episode über diesen Vorfall verfasst und mich dadurch ein kleines bisschen gerächt.“

„Das ist doch ein guter Weg“, beendete das ÖRAkel das Gespräch.

Es war also gleichgültig, ob er arbeitete oder jahrelang betrunken in einen Fernseher starrte. Von wegen „Leistungsgesellschaft“. Caddy war froh, bereits im Alter von 13 Jahren beschlossen zu haben, kein nützliches Mitglied dieser Company BRD werden zu wollen. Ihn hatten schon damals die Umtriebe der RAF fasziniert. So konnte es nicht weitergehen, das war ihm 1973 bewusst geworden, als die Hungerstreiks begannen. Ihm schien, als hätte er un- wie unterbewusst ebenfalls die Essens­aufnahme bestreikt und am Mittagstisch sämtliche Gerichte verweigert, bis auf „Eis und heiß“, den Nachtisch. Einfach, weil ihm generelle Verständnislosigkeit entgegengebracht worden war, solange er denken und daher nicht essen wollte und schließlich nicht konnte.

Caddy ließ sich noch einmal beraten und setzte der zuständigen Behörde eine Pistole auf die Brust, von der er wusste, dass sie nur mit aufgeweichten Erbsen gefüllt war: eine Frist von einem Monat

Seinen Kampf führen aber würde Caddy in Zukunft mittels der Zersetzung jeglicher Übereinkünfte vornehmlich kultureller, aber abgrundtief verwurzelter, gesellschaftlicher Zeichensysteme … Das schien ihm sympathisch: eine riesige, freie Spielwiese, auf der eine unberechenbare Sprengkraft entfacht werden konnte mit ungeahnter Wirkung auf die diversifizierten Menschengeschlechter.

Denn, das ahnte er in Anbetracht der fatalistischen Biografien seiner Ahnen: Für den Untergang brauchte es keine Kriege. Das erledigte auch der Alltag, ob mit oder ohne Corona. Normal war nur der Tod.

Ohne sich allzu viel Hoffnung zu machen, stellte Caddy beim Sozialfonds der VG Wort einen Antrag auf „Ausgleichszahlung wegen systembedingter Ungerechtigkeit“. Keine halbe Stunde nachdem er die Mail abgeschickt hatte, meldete sich eine freundliche Mitarbeiterin der Verwertungsgesellschaft und instruierte ihn, schnellstens noch fehlende Informationen zu senden und diverse Formulare. Sie könnten ihm zwar kein Geld überweisen, weil das Amt es einbehalten würde, aber „zweckgebundene Sachleistungen“ könnten sie erstatten – außer technischen Geräten, die würden nicht finanziert.

Caddy entschied sich für einen neuen Bodenbelag im Schlaf- und Arbeitszimmer und eine neue Matratze. Diese Dinge benötigte er seit über 12 Jahren und konnte sie sich bisher nie leisten. Am 25. November sollte die Sitzung stattfinden, auf der die Organisation über die vielen Anträge entschied. Als er am 7. Dezember noch immer nichts gehört hatte, begrub er seine letzten Hoffnungen.

Am nächsten Tag bemerkte er fast nebenbei den Eingang von 1.000 Euro auf seinem Konto. Wer hätte das gedacht?! Das fühlte sich doch gleich viel besser an. Der Sozialfonds gab ihm den Glauben an Gerechtigkeit zurück – und auch seine Motivation zum Schreiben kehrte wieder.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!