Geschichte von Menschen mit Behinderung: So löst man eine Anstalt auf
Bis in die 1970er wurden in den Alsterdorfer Anstalten Menschen mit Behinderung gequält. Eine neue Homepage berichtet von der Aufarbeitung.

Im Herbst 1978 dann beginnt der heutige Intendant des Kieler Schauspielhauses, Daniel Karasek, in Alsterdorf seinen Zivildienst. Er ist zutiefst schockiert über die Zustände, die er vorfindet: Bewohner werden tagsüber fixiert, dann sich selbst überlassen. Beruhigungsmittel werden verabreicht, oft ist das Pflegepersonal nicht ausgebildet.
Das alles kann nicht in Ordnung sein! Karasek nutzt seine Kontakte in die Hamburger Medienwelt, nimmt die Journalistin Katharina Zimmer mit auf seine Dienststelle. Im Zeit-Magazin bietet sie 1979 mit „Die Gesellschaft der harten Herzen“ eine schonungslose Reportage aus dem Inneren der Anstalt, die für bundesweites Aufsehen erregt.
Die Aktion gibt den internen KritikerInnen und ReformerInnen die dringend notwendige Aufmerksamkeit, sie bringt die aufsichtsführenden Behörden in Erklärungsnöte, sie kostet auch Karasek seinen Job, aber am Ende wird die Welt in Alsterdorf eine andere werden: Aus der Anstalt wird eine Stiftung. Statt in Wohn-Sälen verwahrt zu werden, ziehen die BewohnerInnen nach und nach in eigene Wohnungen. Aus Verwahrung wird Assistenz, und die Mauer, die das Areal vom Leben in der Stadt buchstäblich trennt, fällt.
Geschichte der Alsterdorfer Anstalten
Erzählt wird die Vorgeschichte zum Weg dorthin faktenreich und kundig in dem Buch „Mitten in Hamburg – Die Alsterdorfer Anstalten 1945–1979“ der Kulturwissenschaftlerinnen Gerda Engelbracht und Andrea Hauser, so wie Jahre zuvor mit dem Buch „Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr“ von Michael Wunder, Ingrid Genkel und dem Alsterdorf-Archivar Harald Jenner die lange verschwiegene Geschichte der Institution während der NS-Jahre offengelegt worden war.
„Wir hatten also schon Bücher“, sagt Hanne Stiefvater, die als Vorständin der Stiftung zehn Jahre lang die Geschicke der Institution prägte. Als 2023 das 150. Jubiläum ansteht, dazu eine wissenschaftlich-fundierte Gesamtgeschichte in Buchform auf den Weg gebracht wird, kommt sie ins Nachdenken: „Ich wollte so gerne parallel die letzten 40 Jahre und besonders die Entwicklung der Behindertenhilfe in dieser Zeit in den Fokus nehmen“, erzählt sie.
Auch, weil immer wieder BesucherInnen aus dem In- wie Ausland fragen: Wie schafft man es, eine Anstalt aufzulösen? Zudem soll erklärt werden, warum Stiefvater und ihr Team so hartnäckig um das Thema Inklusion und Teilhabe kämpfen. Also noch ein weiteres, spezielles und viertes Buch?
Stattdessen ist nun die Homepage www.chronik-alsterdorf.de freigeschaltet, konzipiert von Hanne Stiefvater und dem langjährigen Geschäftsführer von ‚alsterarbeit‘, Reinhard Schulz. Sie befasst sich mit dem Jahren zwischen 1980 und 2019.
Prinzip der Chronik
Dabei folgt man dem Prinzip der Chronik: Vom Jahr 1980 an geht es dem Zeitstrahl entlang bis in den Dezember 2019. Kurze Einführungen und Zusammenfassungen bringen einen auf Stand; Videos mit Interviews sind eingebettet, auf Zeitzeugenberichte, Bebauungspläne, aber auch auf Überlastungsanzeigen wird verlinkt.
Man erfährt von Rücktritten, von Offenen Briefen, von Budgetierungen für die Wohngruppen, vom Streit um die Höhe der Vorstandsgehälter. Die Geschichte des erfolgreichen Bandprojektes „Station 17“ lässt sich ebenso verfolgen wie der Weg der Malergruppe „Die Schlumper“, die im Hamburger Karolinenviertel heute eine eigene Galerie führt. Unvorstellbar war das 1979.
Es lässt sich aber vor allem mittels vieler Klicks der nicht immer konfliktarme Weg durch das Innere der Institution begleiten. Anweisungen zur Aktenführung sind zu lesen, Heimbeiräte werden installiert, Beschäftigungsträger entwickeln sich, es wird gebaut und eingeweiht. Manches wird groß, anderes verschwindet wieder.
Auch die Sprache wandelt sich: 1996 ist kurz vom Care- und Casemanagement die Rede. Taucht man ein in das Netz aus Informationen und Dokumenten, wird deutlich, dass zwei Momente ineinandergreifen: die politisch hart umkämpften und dann durchgesetzten Entscheidungen, Grundsätzliches zu ändern – und schließlich die alltägliche Kleinarbeit, die es von Montagmorgen bis Sonntagabend braucht, um die Veränderungen umzusetzen und selbstverständlich werden zu lassen.
Und weil über die Jahrzehnte so viele an diesen Prozessen beteiligt waren, die heute längst im Ruhestand sind, will man auch deren Erfahrungswissen anzapfen: „Die Hoffnung ist, dass mancher sich meldet und sagt: 'Oh, ich habe auch noch Unterlagen, wollt ihr die nicht noch dazunehmen?“ Ein Work-in-Progress also ist die Seite, ergänzbar, ausbaufähig. Auch ein Vorteil gegenüber dem gedruckten Buch.
Hanne Stiefvater möchte das Web-Projekt dabei über Alsterdorf hinaus auch in einem allgemeineren Kontext sehen: „Wir alle wissen – Stichwort Klimawandel – dass wir als Gesellschaft nicht so weitermachen können.
Alsterdorfer Anstalten grundlegend verändert
Doch wie gelingt eine so umfassende Transformation, wie sie uns bevorsteht?“ Mit Blick auf die manchmal nicht für möglich gehaltenen Veränderungen, die sie in Alsterdorf erleben konnte, schaut sie durchaus gefasst in die Zukunft: „Wenn eine grundlegende Veränderung ansteht, sind 25 Prozent der Menschen dafür, 25 Prozent dagegen und in der Mitte findet sich die große, stille Mehrheit, die man Schritt für Schritt gewinnen muss.“
Und ganz nebenbei gibt es auch eine persönliche Ebene: Seit Beginn dieses Jahres ist sie im Ruhestand. Und sie sagt: „Von daher ist diese Homepage auch eine Art Abschiedsgeschenk.
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