Geschichte vom sozialen Aufstieg: Frittierte Jugend
Die Arbeitsjacke seines Vaters erinnert unseren Autor an den eigenen sozialen Aufstieg. Ein Essay über den Geruch alten Fetts und Klassismus.
Die blaue Arbeitsjacke hängt im Schuppen meines Vaters. Ein unförmiges Teil aus dem Wasserwerk, an den Ellbogen abgewetzt, das Blau von der Sonne ausgeblichen. Als ich ihm erzählte, dass solche Jacken in Berlin gerade angesagt seien, konnte er es kaum glauben. Er rief sogar seinen Cousin an, der beim Wasserwerk arbeitet, um sich über die verrückten Künstler*innen in Berlin lustig zu machen.
Er hat Recht. Die Hipster in Berlin tragen die Arbeiterjacken, wie es nur Reiche und Lässige können. Mit working class kokettieren geht nur, wenn man sie hinter sich gelassen hat – oder nie Teil von ihr war. Man kann sie an- und wieder ausziehen. Während sich etwas anderes nie ganz abstreifen lässt.
In den letzten Jahren sind einige Bücher zu Klasse und nichtakademische Herkunft populär geworden. Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ oder „Das Ende von Eddy“ von Édouard Louis. Erzählungen, die von Arbeiter*innenfamilien handeln, vom sozialen Aufstieg, und sich der Frage nähern, welche wirkmächtige Rolle die soziale Herkunft für den Lebensweg eines Menschen spielt.
Es sind wichtige Erzählungen, denn noch immer werden mit dem neoliberalen Mantra vom selbstschöpferischen Individuum betonharte Klassenstrukturen verdeckt. Wenn, so wie aktuell, darüber diskutiert wird, ob Klassismus – die Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft – eher ökonomische oder kulturelle Fragen aufwirft, lässt sich daran erinnern, dass Klasse schon immer beides meinte: System und Vorurteil. Beides lässt sozialen Aufstieg zur Ausnahme werden, die die Regel bestätigt. Ein auf der Hand liegendes Problem von sogenannten Aufstiegsgeschichten ist, dass sie nur von Aufsteiger*innen geschrieben werden.
So wie umgekehrt vor allem diejenigen von Klassismus betroffen sind, die zwar die Konsequenzen am eigenen Leibe spüren, aber mit dem sozialwissenschaftlichen Terminus nur wenig anfangen können. Zum sozialen Aufstieg gehört, einen Begriff davon zu haben und die eigene Lebensgeschichte als Aufstieg erzählen zu können. Einen Artikel in der Zeitung darüber schreiben zu können.
Kein Ruhetag
Meine Eltern haben in der Gastronomie gearbeitet. Sie waren selbstständig und damit keine Arbeiter*innen, aber ich kannte sie gar nicht anders als in ihren Arbeitsklamotten. Mein Vater im weißen Kochanzug, mit schwarz-weiß karierten Hosen, immer ein flatterndes Küchentuch auf der Schulter, als habe er es darauf dressiert. Meine Mutter mit schwarzem Rock, Kellnerinschuhen und Bedienungsschürze.
„Kein Ruhetag“ stand auf einer Tafel am Eingang unserer Wirtschaft in der bayerischen Provinz. Das „Dampfschiff“. Es lag nicht im Wasser und hatte keine Schaufelräder. Aber glaubt man den Erzählungen meiner Eltern, hätten wir es damit überall hinschaffen können.
Meine Mutter schrieb jeden Tag. Sie hatte eine schöne, geschwungene Handschrift. Wie die Schrift einer eleganten Dame, die täglich Briefe in alle Welt schreibt. Auch wenn sie nur die Tageskarte neu beschriftete. Wenn sie mal einen Nachmittag frei hatte, kam meine Mutter vollkommen erschöpft zur Tür herein, schaltete den Fernseher ein und ließ sich in ihren Sessel fallen, den man nach hinten klappen konnte. Nach wenigen Minuten schlief sie ein. Fernsehschlafen. Für alles andere war sie zu kaputt. Mein Vater kam spät und duschte jede Nacht, um den Fettgeruch aus der Küche loszuwerden.
Wir kannten viele Dinge, für die andere keinen Begriff hatten. Annoncieren, Bouillon, Kanapees. Schöne, fremd klingende Wörter wie aus einem anderen Land. Dass sie tatsächlich daher kamen, ahnte ich damals nicht. Ein Baum war ein Baum, eine Blume eine Blume, aber ich konnte ein Nackensteak von einem Rumpsteak von einem Rinderfilet unterscheiden. Die Arten und Spezies der Gastronomie waren meine Botanik.
Im Wohnzimmerregal meiner Eltern standen keine Bücher, sondern Autokarten und Gläser mit Münzen. Lesen und Büchern haftete für mich lange nichts Erstrebenswertes, sondern etwas Lächerliches an. Mitschüler*innen, die im Deutschkurs begeistert mitsinnierten, waren nichts weiter als Streber und Brillenschlangen.
Wachsender Abstand zu Eltern
Als ich zu lesen begann, Hesse und Kafka, mit achtzehn, war es wie das Betreten eines fremden Planeten, den ich mit der Ausstattung eines Gastrokinds erkundete: null Kenntnisse der Landschaften, keine Karte an Bord, Cola und Pommes neben dem Bett. Und mit jeder Reise wurde der Abstand zwischen mir und meinen Eltern größer.
„Egal was du tust, geh niemals in die Gastro!“, sagten meine Eltern. Obwohl sie jeden Tag von früh bis spät arbeiteten, konnten sie sich gerade so über Wasser halten. Wenn das Geschäft nicht mehr lief, zogen wir um, in eine neue Wirtschaft. Als der Krieg in Jugoslawien ausbrach, der Heimat meines Vaters, kamen noch weniger Gäste, als könnten sie sich bei den Ćevapčićis mit irgendetwas anstecken.
Alle paar Jahre wechselte ich die Schule, wo mir mein Ruf vorauseilte. „Es riecht nach Pommes. Ilija kommt“. Hinter einer doppelten Fritteuse groß zu werden, hatte nicht nur Vorteile. Ich begann, mich zu schämen. Für meine alte Winterjacke, für die kleine Wohnung, den rostigen Opel Kadett, für mein rollendes R, das in jedem Gespräch wie eine Kreissäge in der Luft hing. Noch heute beschnuppere ich jedes Kleidungsstück wie ein Spürhund, bevor ich es anziehe.
Nach dem Gymnasium landete ich bei der Soziologie. Der erste in meiner Familie auf einer Universität. Meine Mutter wollte nach dem Studium wissen, ob ich später „mit Behinderten“ arbeiten würde. Als auch die letzte Wirtschaft geschlossen, meine Eltern geschieden und mein Vater zurück in seine neue Heimat Kroatien gegangen war, arbeitete sie weiter als Bedienung, irgendwann bei McDonald’s. Es kostet mich auch heute noch Überwindung, das so hinzuschreiben. Dabei erzählt das mehr über die Arbeitsschicksale in unserer Gesellschaft als über meine Familie. „Einmal Gastro, immer Gastro“, sagten meine Eltern. Auch wenn sie vielleicht nicht wissen, was „Klassismus“ ist, kennen sie ihn sehr gut. Sie haben nur eine andere Sprache dafür.
Nach der Uni fehlten mir die Mittel, die Praxis, das habituelle Wissen. Erst spät habe ich mich getraut, zu schreiben. Ich beneide Autor*innen, die davon erzählen, schon als Achtjährige ihre ersten Gedichte geschrieben zu haben, die schon immer „wussten“, Autor*in werden zu wollen. Ich ärgere mich aber auch über sie, über ihren Mythos von der natürlichen Begabung.
Heute bewege ich mich irgendwie zwischen den Welten, fühle mich weder am Stammtisch noch beim Gespräch in der Literaturgruppe wohl. Die Unsicherheit bleibt, sie schreibt immer mit. Die klassische Aufstiegsgeschichte ähnelt einer Gipfelwanderung. Man beginnt in der schattigen Klamm der eigenen Herkunft, verhandelt Ambivalenzen (Gewinne und Verluste) des Nach-Oben-Kommens und blickt am Ende zurück ins Tal.
Soziologie ohne Plan
Für manche gelten Aufsteiger*innen als besonders beharrlich oder kämpferisch. All jene, die es nicht in höhere Lagen schaffen, umweht sofort die Aura des Untüchtigen. So zementiert das Bild vom Aufstieg, das bei der Arbeiter*innenfamilie anfängt, aber beim „Ich habe es geschafft“ aufhört, das Stereotyp vom Deklassierten. Es folgt der Leistungsethik, alle anderen seien vielleicht selbst schuld. Dabei strengt sich niemand mehr an als Menschen wie meine Eltern.
Ohne Krieg wäre vieles im Leben meiner Eltern anders verlaufen. Ohne die vielen Umzüge wäre ich nicht so selbstständig geworden. Ich habe mich weder mehr angestrengt noch bin ich klüger als meine Schwester, die schon als Kind viel las, auf die Hauptschule ging und danach eine Ausbildung absolvierte. Sie wollte, da wir keins hatten, früh ihr eigenes Geld verdienen. Ich wollte aufs Gymnasium wegen meiner zwei besten Freunde, da war ich zehn und mochte am liebsten Vanilleeis. Eine Freundin hat mir den Steppenwolf in die Hand gedrückt, ich las ihn, um ihr zu gefallen.
Ich habe Soziologie studiert, weil ich sonst keinen Plan hatte. In den Lücken meines CV stehen Abbrüche, Hartz IV und Barjobs. Peer-Groups, soziale Kontexte, Zufälle, Glück – vor allem Glück – all das spielt eine Rolle beim so genannten Aufstieg. Oft bleibt einem nur, sich über den eigenen Werdegang zu wundern. Wie über das magische Schulgebäude in Harry Potter, wo man eine Treppe hoch läuft und weiter unten rauskommt. Es geht nicht darum, Aufstiegsgeschichten zu schmälern, sondern den Blick auf strukturelle Faktoren zu lenken, die die soziale Mobilität verhindern oder eben erhöhen könnten.
Mein Vater hat mir ein Paket aus Kroatien geschickt. Als ich es öffne, flattern mir ein paar blaue Arbeitsjacken entgegen. Auf dem Rücken steht „Vodovod“ (Wasserwerk). Mein Vater sagt, ich könne die Jacken ja in Berlin verkaufen, wenn sie gerade so modern seien. Aber ich verkaufe sie nicht und hänge sie in meinen Schrank. Sie sind steif gebügelt und duften nach Waschmittel, wie nur frische Tischdecken aus der Gastro riechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen