Gescheiterter Putsch in Türkei: Über den Zenit
2016 scheiterten Teile des türkischen Militärs mit einem Putschversuch gegen die Regierung Erdoğan. Mittlerweile regt sich neue Hoffnung.
„Das ist ja nicht erst seit diesem Sommer so, auch schon vor der Pandemie kamen die Deutschen, Engländer und Franzosen nicht mehr.“ Das hat politische Gründe, glaubt er. „Seit unser Präsident sich zum Alleinherrscher aufgeschwungen hat, seit der Putschversuch dazu genutzt wurde, jede oppositionelle Meinung zu verbieten und die Leute ins Gefängnis zu werfen, kommen die Europäer nicht mehr.“
Fünf Jahre nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 ist die Stimmung in der Türkei mies. Das gilt nicht nur für Oppositionelle, auch in der Anhängerschaft des Präsidenten rumort es. Dabei klagt Mustafa K. noch auf hohem Niveau. Es kommen zwar kaum noch europäische Besucher an die türkische Ägäisküste, aber dafür jede Menge inländische Touristen. Die bringen zwar weniger Geld ein, doch weder Mustafa K. noch die meisten anderen Einwohner der Küstenstädte müssen deswegen am Hungertuch nagen.
Da sieht es in den Vororten und Randbezirken in Istanbul und Ankara, ganz zu schweigen von Großstädten im Osten, wie Gaziantep oder Diyarbakır, ganz anders aus. Seit die türkische Lira in den letzten eineinhalb Jahren dramatisch an Wert verloren hat, sind die Preise für Grundnahrungsmittel, für Strom und Gas in die Höhe geschossen. Die offizielle Inflationsrate beträgt 18 Prozent, viele Lebensmittelpreise sind sogar um 60 Prozent innerhalb eines Jahres gestiegen. Diese Preissteigerungen treffen auf eine ständig steigende Arbeitslosigkeit, die fast die Hälfte der jungen Leute betrifft.
Ein Land verstummt
In vielen Familien gibt es nicht mehr genug zu essen, stellte der linke Gewerkschaftsdachverband DISK bereits vor einigen Monaten fest, die Wirtschaftspolitik der Regierung sei eine Katastrophe. Obwohl die Coronapandemie wie in vielen anderen Ländern auch zur Armut beigetragen hat, ist die wirtschaftliche Krise doch das deutlichste Zeichen für das Versagen der Präsidialherrschaft von Recep Tayyip Erdoğan.
Eines der letzten Opfer der Repression des Erdogan-Regimes gegenüber kritischen Journalisten und Oppositionellen aus der Zivilgesellschaft ist Erk Acarer. Der bekannte Regimekritiker, der in Berlin im Exil lebt, wurde vor einer Woche am Mittwochabend im Hof seines Wohnhauses in Berlin Neukölln von drei Männern überfallen, geschlagen und mit einem Messer bedroht. Erk Acarer geht davon aus, dass dieser Überfall in Ankara in Auftrag gegeben wurde, auch weil einer der Schläger ihm zurief: „Du wirst nicht mehr über uns schreiben“. Acarer schreibt von Berlin aus für die linke türkische Tageszeitung „Birgün“ in Istanbul. Er ist dort einer der regelmäßigen Kolumnisten, der sich intensiv mit den sensiblen Themen des Landes befasst. Er schrieb nach dem Angriff auf das Büro der kurdisch-linken HDP in Izmir, die dabei getötete junge Frau Deniz Poyraz sei entweder vor ihrer Ermordung oder danach „gefoltert“ worden, ein Umstand, den die Polizei nicht bestätigen wollte. Schon vor Jahren, bei Abschluss des Flüchtlingsdeals zwischen Kanzlerin Angela Merkel und dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, hatte er öffentlich gemacht, dass in dem Flüchtlingslager, das Merkel und Davutoglu PR-wirksam besuchten, minderjährige Mädchen vergewaltigt und missbraucht worden waren. Aktuell beschäftigt sich Acerer vor allem mit dem Thema, das die Regierung im Moment am meisten in Bedrängnis bringt, den Enthüllungen des Mafia-Bosses Sedat Peker. „Peker bestätigt, was wir schon immer geschrieben haben“, merkte Acerer vor wenigen Tagen an. Die ganze Regierung sei eine kriminelle Bande. Das wollte man in Ankara offenbar auch einem Journalisten im Exil nicht durchgehen lassen.
Nach dem Putschversuch 2016 hatte er im Frühjahr 2017 per Verfassungsänderung das parlamentarische System der Türkei in ein Präsidialsystem umändern lassen, das mit seiner Wahl zum Präsidenten mit exekutiven Vollmachten 2018 dann in Kraft trat. Fünf Jahre nach dem Putschversuch, mit dem diese Transformation begann, ist die Türkei nun in weiten Teilen ein anderes Land.
Wehmütig erinnerten sich TeilnehmerInnen der Protestaktionen gegen die Abschaffung der Istanbul Konvention am 1. Juli an die Zeit vor dem Putschversuch. „Im Jahr der Gezi Proteste 2013 waren zum Christopher Street Day in Istanbul 100.000 Leute auf der Straße, heute freuen wir uns, wenn wir noch 100 Leute mobilisieren können“, beschreibt Lale B. die Situation. „Obwohl die Situation für viele Frauen immer schwieriger wird, die Gewalt zunimmt und immer mehr Frauen ermordet werden, haben die meisten Angst zu protestieren. Die Repression der letzten fünf Jahre hat uns fast stumm gemacht“.
Tatsächlich fällt es bereits schwer, sich daran zu erinnern, wie aktiv die türkische Zivilgesellschaft einmal war. Heute ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Von den Leuten, die sich bei den Gezi-Protesten hervorgetan hatten, sind die meisten im Ausland oder sitzen im Gefängnis. Völlig an den Haaren herbeigezogene Terror-Vorwürfe gegen Amnesty, Open Society und andere zivilgesellschaftliche Organisationen haben die Mitglieder zermürbt, viele haben sich zurückgezogen.
Noch immer finden fast täglich Prozesse gegen Journalisten oder Twitter-Aktivisten wegen Präsidentenbeleidigung oder angeblicher Terror-Propaganda statt. Allein die Masse der Verfahren führt dazu, dass nicht mehr für jeden Angeklagten die notwendige Unterstützung mobilisiert werden kann. Die Repression ist so alltäglich, so selbstverständlich geworden, dass viele sie achselzuckend zur Kenntnis nehmen.
Immer wieder hat es in den letzten fünf Jahren aber auch ein großes Aufbegehren gegen Erdoğans autokratischen Ein-Mann-Staat gegeben. Im Sommer 2017 initiierte der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, seinen Marsch für Gerechtigkeit von Ankara nach Istanbul, um gegen Erdoğans Vereinnahmung der Justiz und die Verhaftung prominenter Oppositionspolitiker zu protestieren.
Zehntausende Menschen säumten die Straßen, weitere Zehntausende liefen mit Kılıçdaroğlu mit, als dieser nach 25 Tagen in Istanbul ankam. Es war ein Fanal des Widerstands, das kaum jemand dem biederen CHP-Vorsitzenden zugetraut hätte, doch Erdoğan ließ die Leute einfach auflaufen. Ein CHP-Politiker wurde aus der Untersuchungshaft entlassen und das war es.
Erdoğan hat sein Ziel erreicht
Als Erdoğan den nach dem Putsch verhängten Ausnahmezustand nach zwei Jahren im Sommer 2018 endlich für beendet erklärte, schien er seine Ziele erreicht zu haben. Hunderte Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten waren geschlossen oder auf Linie gebracht. Die öffentliche Verwaltung, Schulen und Universitäten von Kritikern gesäubert, die Opposition im Parlament gedemütigt und die Parteiführung der kurdisch-linken HDP im Gefängnis.
Doch im Frühjahr 2019 erlebte Erdoğan wider Erwarten ein Debakel. Der Alleinherrscher, den niemand mehr zu kritisieren wagte, verlor die Kommunalwahlen und dabei die wichtigsten Städte Istanbul und Ankara. Mit den Bürgermeistern der beiden größten Städte der Türkei, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, gibt es plötzlich zwei Politiker, die es nach Meinung des Publikums durchaus mit ihm aufnehmen können.
Erdoğan versuchte den Popularitätsverlust mit aggressiven außenpolitischen Aktionen im Mittelmeer und der Umwandlung der Hagia Sophia und der Chora-Kirche in Moscheen entgegenzutreten und seinen nationalistisch-islamistischen Anhang noch einmal in maximaler Geschlossenheit hinter sich zu versammeln. Doch alle Meinungsumfragen der letzten Monate zeigen, dass der Ein-Mann-Staat seinen Zenit bereits überschritten hat. Jetzt rächt sich für Erdoğan die Alleinherrschaft, weil sie auch bedeutet, allein die Verantwortung für die Misserfolge übernehmen zu müssen.
Die Wirtschaft liegt am Boden
Weit über die Pandemiefolgen hinaus hat Erdoğan die Wirtschaft der Türkei an die Wand gefahren. Die Lira ist abgestürzt, es gibt keine ausländischen Investitionen mehr – auch weil niemand mehr dem türkischen Rechtsstaat vertraut – und auch die türkischen Großunternehmen haben ihr Geld längst ins Ausland gebracht. Seit einigen Wochen erschüttert zudem ein Mafia-Chef aus dem Exil das Land. Sedat Peker, eigentlich ein Anhänger Erdoğans, ist in den Intrigen rund um den Präsidenten unter die Räder geraten, musste fliehen und packt nun aus dem Ausland per Videobotschaften über die korrupte Innenausstattung der Macht aus.
Dabei tun sich echte Abgründe auf. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt was Peker behauptet, gibt es im Umfeld Erdoğans jede Menge Leute, deren Interesse nur noch darin besteht, sich zu bereichern, und die dabei auch vor kriminellen Aktionen nicht zurückschrecken. Unter dem Deckmantel der Frömmigkeit kommen skrupellose Korruption und erbitterte Machtkämpfe zutage. Nach Umfragen halten selbst die Mehrheit der AKP-Wähler den Mafia-Boss für glaubhafter als die müden Dementis der Regierung. Erdoğan selbst weiß nicht, wie er reagieren soll, und macht einen völlig abgehobenen Eindruck, als habe er den Kontakt zur Bevölkerung längst verloren.
Dazu mehren sich Gerüchte, die den Eindruck der Endzeitstimmung im Präsidentenpalast verstärken. Erdoğan, so berichtete ein bekannter Journalist, hätte bei Meral Akşener, der Vorsitzenden der immer stärker werdenden oppositionellen İyi Parti, sondieren lassen, ob er und rund 300 Leute aus seinem Umfeld eine Amnestiegarantie bekommen, wenn er die Rückkehr zum parlamentarischen System einleiten würde.
Die İyi Parti (Gute Partei) ist eine Abspaltung der ultranationalistischen MHP, die Erdoğan als Koalitionspartner stützt, aber rapide an Zustimmung verliert. Akşener hat dagegen eine Wahl-Allianz mit der CHP gebildet, die die Rückkehr zum parlamentarischen System als oberste Priorität vertreten. Erdoğan droht aber auch Gefahr aus den eigenen Reihen. Hinter vorgehaltener Hand wird in Ankara kolportiert, dass immer mehr AKP-Abgeordnete, die schon lange keinen Zugang mehr zum inneren Zirkel um Erdoğan haben, bereit seien, zur Opposition überzulaufen.
Das bleibt nicht ohne Wirkung. Die Führer der Opposition werden mutiger. In der Debatte über den umstrittenen Kanal, den Erdoğan entgegen allen ökologischen Einwänden vom Schwarzen Meer zum Marmarameer bauen lassen will, warnte Kılıçdaroğlu ausländische Investoren und sagte, nach einem Regierungswechsel würde Kredite nicht mehr bedient. Wo das Wort Regierungswechsel vor ein paar Jahren noch wie Wunschdenken geklungen hätte, scheint jetzt selbst das internationale Kapital Erdoğan keine große Zukunft mehr einzuräumen. Rund 400 Geldinstitute weltweit sollen Kreditanfragen seiner Regierung für den Kanal abgelehnt haben.
Gut möglich, dass auch die Zivilgesellschaft bald wieder mutiger wird. Ein Zeichen haben bereits die Studenten der Bosporus-Universität in Istanbul gesetzt, die seit Anfang des Jahres ununterbrochen gegen die Einsetzung eines neuen Rektors durch Erdoğan protestieren. Aller Repression zum Trotz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen