Gescheiterte Familienzusammenführung: Langes Warten aufs Amt
Amanuel Abraha lebt in Deutschland, doch seine Familie hat er seit 7 Jahren nicht gesehen. Denn wer aus Eritrea kommt, dem fehlen wichtige Papiere.
W enn Amanuel Abraha von seiner Frau erzählt, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. „Sie ist sehr liebenswert und wirklich stark. Sie ist das Zweifache von mir oder viel mehr. Deswegen liebe ich sie so sehr.“ Der Mittvierziger in grünem Polohemd und Jeans deutet auf einen beigen Sessel am Fenster des Wohnzimmers. „Dort sitze ich immer und denke an meine Familie.“
Vor dem Fenster prasselt der Regen auf die leere Straße einer Neubausiedlung in Königs Wusterhausen. In der brandenburgischen Kleinstadt wartet Abraha, der eigentlich anders heißt, dass seine Liebsten nach Deutschland kommen. Wartet und wartet. Sieben Jahre ist es her, dass sie sich zum letzten Mal gesehen haben. Der jüngste Sohn war damals drei, der älteste 14 Jahre alt.
Abraha machte sich allein auf die gefährliche Reise von Eritrea über Libyen und das Mittelmeer nach Deutschland, wollte die anderen nachholen – so der Plan. Seit 2016 ist er als Flüchtling anerkannt, im August 2017 stellten seine Frau und die vier gemeinsamen Kinder den Antrag auf Familiennachzug. Doch noch immer haben die deutschen Behörden diesen nicht gestattet.
5.322 Kilometer liegen zwischen Königs Wusterhausen und Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, wo Abrahas Familie Schutz vor der Diktatur in ihrer Heimat suchte. Wie viele Eritreer*innen warten sie schon seit Jahren darauf, nach Deutschland kommen zu dürfen. Zwischen 2017 und 2020 stellten 5.564 Geflüchtete aus Eritrea einen Antrag auf Familiennachzug bei den deutschen Vertretungen in Äthiopien, dem Sudan und Kenia.
Flucht vor dem Militärdienst
Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR haben mehr als 500.000 Menschen ihr Heimatland verlassen. Hauptfluchtgrund ist für viele der häufig jahrzehntelange Militärdienst in Eritrea. Abraha diente 17 Jahre lang als Soldat, bevor er nach Deutschland floh.
Die Vereinten Nationen vergleichen die eritreische Wehrpflicht mit Sklaverei. Dass Eritreer*innen in ihrem Heimatland schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind, sieht auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Die Schutzquote für eritreische Geflüchtete betrug im Jahr 2019 rund 74 Prozent. Höher liegt sie mit knapp 84 Prozent nur für Schutzsuchende aus Syrien.
Dennoch sind die Hürden, um die in Eritreas Nachbarländern gestrandeten Familien nachzuholen, immens. Allein einen Termin bei den deutschen Botschaften im Sudan, Äthiopien oder Kenia zu bekommen, dauert – laut einer Kleinen Anfrage der Linken im Jahr 2019 zwischen 10 und 14 Monaten. Dann erst beginnt das eigentliche, langwierige Antragsverfahren.
Mit standesamtlichen Dokumenten sollen die Geflüchteten ihre Identität und Familienzusammengehörigkeit belegen. Doch in Eritrea werden die meisten Ehen in der Kirche oder Moschee geschlossen, Geburten sind allein durch Taufurkunden besiegelt. „Standesamtliche Papiere oder gar Pässe haben die wenigsten“, resümiert der Asylrechtsberater Daniel Mader von der Arbeiterwohlfahrt. So ist es auch bei Abrahas Familie. Ihr Antrag wurde abgelehnt.
Jahrzehntelanger Dienst In dem ostafrikanischen Land unter Diktator Isaias Afewerki gilt eine allgemeine Wehrpflicht von 18 bis 50 Jahren — offiziell zunächst für eine 18-monatige Grundausbildung. In der Praxis dauert der Militärdienst jedoch oft mehrere Jahrzehnte und beinhaltet auch Arbeitseinsätze in Minen, der Landwirtschaft und auf dem Bau. Bis zum Erreichen des Höchstalters können die Betroffenen jederzeit wieder verpflichtet werden. Auch 16-Jährige werden schon eingezogen. Die Vereinten Nationen schreiben, dass der eritreische Wehrdienst alle Merkmale von Sklaverei erfüllt — bis auf den Kauf und Verkauf von Sklav*innen.
Drakonische Strafen Amnesty International berichtet, dass vermeintliche Deserteure verfolgt und inhaftiert werden, häufig in inoffiziellen unterirdischen Gefängnissen mit begrenztem Zugang zu Nahrung, Wasser und Sanitäranlagen. (taz)
Die unmögliche Suche nach Dokumenten
Theoretisch bestehen dann zwei Optionen. Die eine lautet: Dokumente bei den eritreischen Botschaften im Ausland beantragen. Doch die konsularischen Dienste in Anspruch zu nehmen, hat Folgen, schreibt die Organisation Equal Rights Beyond Borders in einem im April erschienenen Gutachten. Demnach müssen die Geflüchteten der Diktatur rückwirkend ab Verlassen Eritreas eine sogenannte Diasporasteuer in Höhe von zwei Prozent ihres Einkommens zahlen und eine sogenannte „Reueerklärung“ unterschreiben. Damit erklären die Exilant*innen, mit ihrer Flucht eine Straftat begangen zu haben – für die sie bei einer Rückkehr nach Eritrea verfolgt werden können.
Das Gutachten ergibt auch, dass die eritreischen Auslandsvertretungen in Kenia und dem Sudan die Ausstellung von Dokumenten verweigern, wenn die Geflüchteten nicht nachweisen können, vor dem Friedensabkommen zwischen Eritrea und Äthiopien im Juni 2018 geflohen zu sein.
Alternativ können sie Familienmitglieder in Eritrea mit der Beschaffung der Dokumente beauftragen. Wie Pro Asyl berichtet, müssen die verbliebenen Verwandten dann allerdings mit Repressalien, Geldbußen oder gar Haftstrafen rechnen. Viele Exilant*innen schrecken deshalb davor zurück, ihre Familien um Unterstützung zu bitten. Das Resultat: Der Familiennachzug ist blockiert.
„Innerlich brenne ich, wenn ich darüber nachdenke“, sagt Abraha. „Sieben Jahre sind so eine lange Zeit.“ Jahre, in denen Nähe schwindet, Erinnerungen verblassen, die Kinder sich entwickeln und verändern, Partner*innen sich fremd werden können. Abraha und seiner Familie bleiben nur das Telefon und ein gelegentlicher Videocall, um die Distanz zu überwinden. „Liebesgefühle kommen daher, dass man offen miteinander redet und keine Geheimnisse voreinander hat. Ich glaube daran, dass die Familie dadurch gestärkt wird“, davon ist der Vater überzeugt. Wieder huscht ein Lächeln über sein Gesicht.
Um fünf Uhr morgens beginnt seine Arbeit im Krankenhaus. Nach Dienstschluss telefoniert er mehrere Stunden mit seiner Familie, vor allem mit den inzwischen 18- und 21-jährigen Kindern und seiner Frau. Jeden Tag. „Dass die Kinder jetzt so leben müssen, ist unsere Verantwortung“, sagt der Vater. „Ich sehe mich nicht im Recht, ihnen etwas vorzuschreiben.“ Alles, was er tun könne, sei, sie zu ermutigen. „Sie nehmen das an und darüber bin ich sehr glücklich.“
Mit den jüngeren Kindern sei es schwieriger, Nähe herzustellen. „Was ist für meinen dreizehnjährigen Sohn schon ein standesamtliches Dokument? Er denkt, es ist meine Schuld, dass er nicht kommen kann“, berichtet Abraha. Ein Vorwurf, den viele Eltern im Exil aushalten müssen. „Gerade für die Kleineren ist die Situation absolut unbegreiflich“, sagt Hanan Mohamed, die auch aus Eritrea nach Deutschland geflohen ist. Während des Zoom-Calls klettert ihr jüngster Sohn Joel auf ihren Schoß. Eritrea kennt er nur aus Erzählungen, aufgewachsen ist er in Kiel. Die Mutter dreier Kinder ist geflohen, als sie mit ihm schwanger war. Ihr Mann wartet zusammen mit den beiden älteren Jungen, die heute 11 und 14 sind, in Uganda.
Amanuel Abraha, getrennt von der Familie
Sieben Jahre ist die Familie schon getrennt, obwohl sie längst alle Dokumente bei der Deutschen Botschaft eingereicht hat. „Wir sind ständig am Lügen: Bald sehen wir uns, bald klappt es, bald kommt ihr zu uns – das sagen wir den Kleinen immer wieder.“ Mohamed versucht, die Fassung zu bewahren. „Man kann es nicht als Leben bezeichnen, was wir leben. Wir leben mit Sorge, in Angst, was unseren Familien passiert. Und wir vermissen sie so sehr.“
Hinzu kommen die Erwartungen der Verwandten in Eritrea, ergänzt Asylberater Mader, der auch Abrahas Fall betreut. „Die Leute leben hier unter einem krassen Druck, weil es den Familien im Heimatland einfach nicht zu vermitteln ist, warum es so lange dauert.“ Depressionen und andere psychische Erkrankungen seien die Folge. Nicht alle Familien halten der Zerreißprobe stand. Immer wieder kämen Klient*innen zu ihm, deren Partner*innen sich getrennt hätten, berichtet Mader. „Dieses System zerstört die Familien“.
Unerfüllbare Anforderungen
1.341 Visumsanträge für den Familiennachzug zu eritreischen Geflüchteten wurden im Jahr 2020 im äthiopischen Addis Abeba, in Nairobi, der Hauptstadt von Kenia und im sudanesischen Khartum bearbeitet, 397 Visa erteilt, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken ausführt. Die Quote der positiv entschiedenen Anträge sank – in Addis Abeba von rund 46 auf 19 Prozent aller Anträge im Jahr 2020.
„Das ist noch einmal deutlich weniger als im Vorjahr und schlicht inakzeptabel“, kritisiert Fragestellerin Ulla Jelpke. Weltweit lag die Erteilungsquote für Ehegatten- und Familiennachzugsvisa 2018 bei knapp 82 Prozent. „Die Anforderungen der Auslandsvertretungen sind gemessen an dem Urkundensystem in Eritrea größtenteils unerfüllbar“, sagt die innenpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion.
Dabei scheint das Recht auf Seiten der Geflüchteten zu stehen. Im Grundgesetz ist der Schutz der Familie verankert. Außerdem legt die Europäische Richtlinie zur Familienzusammenführung fest, dass der Antrag auf Nachzug nicht ausschließlich aufgrund fehlender Dokumente abgelehnt werden darf. In solchen Fällen müssen die Staaten andere Nachweise für das Bestehen familiärer Bindungen heranziehen. 2020 urteilten zudem die Verwaltungsgerichte in Hannover und Wiesbaden, dass die Unterzeichnung der Reueerklärung, die eritreische Botschaften zur Bedingung für konsularische Dienste machen, unzumutbar ist.
Doch die Bundesregierung hält daran fest, dass diese Abgabe von Reueerklärungen wie auch die Zahlung der Aufbausteuer für im Ausland lebende Eritreer*innen zumutbar sei, wie sie in ihrer Antwort gegenüber der Linken im Bundestag erklärt.
Bei der Dokumentenbeschaffung hingegen wurde „Handlungsbedarf erkannt“, sagt der migrationspolitische Sprecher der SPD Lars Castellucci. Aus einem Rundschreiben des Bundesinnenministeriums geht hervor, dass künftig vermehrt eine alternative Glaubhaftmachung vorgenommen würde, wenn eine baldige Beibringung der amtlichen Dokumente nicht zu erwarten, deren Beschaffung unmöglich oder unzumutbar sei.
„Aktuell werden auch unbeglaubigte Dokumente in Verbindung mit alternativen Nachweisen wie Hochzeitsfotos und Zeugenaussagen von Hochzeitsgästen geprüft“, sagt Asylrechtsberater Mader. Ob dies jedoch zu einem langfristigen Umdenken durch das Auswärtige Amt führt, bleibe abzuwarten.
Kein pauschaler Verzicht auf Dokumente
Die Bundesregierung stellt klar, dass sie zum Nachweis von Eheschließungen nicht pauschal auf behördliche Dokumente verzichten wird. Es komme auf die individuelle Situation an, ob deren Beschaffung zumutbar sei, antwortete das Auswärtige Amt auf eine schriftlichen Frage der Grünen-Sprecherin für Flüchtlingspolitik, Luise Amtsberg. „Dass das Auswärtige Amt künftig vermehrt eine alternative Glaubhaftmachung zulassen möchte, ist ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Amtsberg. „Für religiös geschlossene eritreische Ehen muss das aber bedeuten, dass von Kirchen und Moscheen ausgestellte Heiratsurkunden als Nachweis genügen.“
Gegenüber der taz erklärt das Ministerium, dass es die Beschaffung von Geburts- und anderen Personenstandsurkunden grundsätzlich für möglich erachtet. Was in der Praxis heißt, dass die Verfahren sich ziehen: „In den meisten Fällen lehnen die Botschaften die Visumsanträge zunächst ab und beschäftigen sich erst im Klageverfahren mit der Prüfung alternativer Nachweise“, weiß Asylberater Mader. „Das kann insgesamt gut vier, fünf Jahre dauern.“
So ist es jedenfalls bei Abrahas Familie. Nachdem sie im Juni 2019 Widerspruch gegen die Ablehnung des Antrags eingelegt hatte, forderte die Botschaft im Dezember 2019 alternative Nachweise für das Bestehen einer rechtskräftigen Ehe an. Abraha schöpfte Hoffnung. Er reichte Hochzeitsfotos und Belege für die Unterhaltszahlungen an seine Familie ein und mietete eine Vierzimmerwohnung in Königs Wusterhausen. Drei Monate hielt er sie – „dann machte es keinen Sinn mehr“. Zwei Mitbewohner zogen in die Räume ein, in denen eigentlich seine Kinder schlafen sollten. Der große Esstisch mit Platz für die ganze Familie ist geblieben. Darüber hängen Ikonen von Jesus und der Gottesmutter.
„Wir sind strenggläubig, sowohl meine Frau als auch ich“, erzählt Abraha. Es sei der Glaube, der das Paar aufrecht halte. „Selbst wenn es 30 Jahre dauert, bleiben wir unserer Ehe und unserer Liebe treu“, sagt Abraha. Vor der Pandemie fuhr er zu Festen der eritreischen Kirche nach Frankfurt oder München. Wenn er aus dem Zugfenster beobachtete, wie Familien sich beim Wiedersehen in den Armen lagen, kamen ihm die Tränen. „Die Deutschen wissen, was es bedeutet, seine Kinder zu lieben“, sagt Abraha. „Warum dürfen wir nicht mit unseren Kindern zusammen sein?“
Demonstrieren für die Familie
„Was ist mit dem Kindeswohl? Haben unsere Kinder kein Recht, mit ihren Familien zu sein?“, fragt auch Hanan Mohamed, die in ihrer Verzweiflung damit begann, ihre Geschichte in sozialen Medien zu erzählen. „Daraufhin haben sich ganz viele Leute bei mir gemeldet und gesagt, ich habe die gleichen Probleme und bei mir klappt es auch nicht.“
Gemeinsam gründeten sie die Initiative Familiennachzug Eritrea. Inzwischen haben sich mehr als 1.000 Eritreer*innen dort vernetzt. Zwei Demonstrationen haben die Aktivist*innen im vergangenen Jahr bereits organisiert. Am kommenden Samstag wird die nächste vor dem Auswärtigen Amt in Berlin stattfinden.
Was die Erteilung von Vollmachten und die Dokumentenbeschaffung angeht, gesteht das Auswärtige Amt auf Anfrage der Linken ein, dass dies bei der eritreischen Botschaft in Addis Abeba derzeit nicht möglich sei. „Es ist zu begrüßen, dass das Auswärtige Amt dies endlich einräumt“, sagt Ulla Jelpke. Betroffene hätten seit Monaten darauf hingewiesen. „Jetzt müssen von den Auslandsvertretungen schnell und unkompliziert alternative Möglichkeiten der Glaubhaftmachung von Identität und Verwandtschaftsverhältnissen im Rahmen des Familiennachzugs akzeptiert werden“, fordert die Abgeordnete. „Es ist vollkommen absurd, dass nicht einmal ein DNA-Test als Nachweis einer Vaterschaft ausreicht, um sein Kind nach Deutschland zu holen.“
Jelpke fragte auch, wie lange Familien im Jahr 2020 auf einen Termin bei der Botschaft warten mussten. Eine Antwort darauf bekam sie nicht. Alles deutet jedoch darauf hin, dass die Familien sich noch länger gedulden mussten als im Jahr zuvor: Gegenüber der taz erklärt das Auswärtige Amt, dass die Visastellen in Khartum, Nairobi und Addis Abeba zeitweise geschlossen waren, die Erteilung von Visa aussetzten oder keine neuen Anträge zum Familiennachzug für Schutzberechtigte annahmen. „Auf ihrer Website schrieb die Deutsche Botschaft in Äthiopien Mitte letzten Jahres, dass Visa zu Studiums- und Arbeitszwecken sowie für den Familiennachzug zu Deutschen eingeschränkt bearbeitet werden könnten, während die Bearbeitung von Nachzugsanträgen zu Geflüchteten wegen Überlastung nicht möglich sei“, sagt Almaz Haile vom Berliner Flüchtlingsrat. Jelpke verlangt mehr Botschaftspersonal.
Doch laut Auswärtigem Amt sind Personalaufstockungen für die Auslandsvertretungen in Addis Abeba, Nairobi und Khartum im laufenden Jahr nicht möglich. Das Ministerium begründet dies mit limitierten Räumlichkeiten sowie begrenzten Rekrutierungs- und Ausbildungskapazitäten. „Wir müssen weiter auf die Verlagerung der Antragsbearbeitungen im Inland oder auf die Digitalisierung setzen“, fordert SPD-Politiker Castellucci.
Angst um die Kinder
Der Preis, den Abrahas Familie fürs Warten zahlt, ist schon jetzt immens. „Mein ältester Sohn Jonas wurde auf der Straße verprügelt, ausgeraubt und bis auf die Unterhose ausgezogen. Sie haben ihn auf eine Müllhalde geworfen, weil sie dachten, er ist gestorben“, berichtet Abraha.
Zwar ist die Familie inzwischen in ein weniger gefährliches Viertel Addis Abebas umgezogen. Doch die Angst vor einem Überfall bleibt – bei Jonas, aber vor allem bei seinem Vater im fernen Deutschland: „Ich rufe ihn jeden Tag an: Was machst du? Lebst du noch?“ Weit von zu Hause weg könnten sich die Kinder nicht entfernen, die meiste Zeit seien sie gezwungen, in der Wohnung zu bleiben. „Sie sehnen sich nach Freiheit“, sagt Abraha. „Vor allem Jonas kann es nicht aushalten.“ Die Söhne gingen manchmal zum Fußballspielen nach draußen, die 18-jährige Rahel treffe sich mit ihren Freund*innen, aber nur in der unmittelbaren Nachbarschaft.
Dass junge Erwachsene von mehr träumen und selbstbestimmt leben wollen, ist das eine. Dass die Flucht den Schulbesuch vieler eritreischer Kinder und Jugendlicher erschwert oder unmöglich macht, ist eine weitere Folge des stockenden Familiennachzugs. Jonas und Rachel sind nicht mehr in die Schule gegangen, seit sie Eritrea verlassen haben – zu groß war die Sorge der Familie vor Kindesentführungen in Addis Abeba.
Andere Mitglieder der Initiative berichten, dass sie ihre Kinder wegen der Schulgebühren nicht in den Unterricht schicken könnten. Schließlich müssen sie auch noch Lebenshaltungskosten und Wohnung in Deutschland und dem Erstfluchtland bezahlen. Corona erschwere die Situation weiter. „Viele haben Gelegenheitsjobs, die mit der Pandemie wegfallen“, weiß Hanan Mohamed von anderen Eltern der Initiative.
Wie lange die Mutter noch darauf warten muss, bis ihre beiden älteren Söhne und ihr Mann nach Deutschland nachziehen können, weiß sie nicht. Doch was vielen Familien finanziell nicht möglich ist, hat sie geschafft: Nach jahrelangem Sparen ist sie mit ihrem jüngsten Sohn Joel im Januar für einen Monat nach Uganda geflogen. Zum ersten Mal seit sieben Jahren war die Familie wieder vereint. „Für mich war das wie eine Wiedergeburt. Es war unbeschreiblich schön“, erzählt Mohamed. Für Joel war es die erste Begegnung mit seinen Geschwistern und seinem Vater. Einen Monat hatte die Familie Zeit, um zusammen zu sein – und sich überhaupt aneinander zu erinnern. „Es war viel zu kurz – eben nur eine Kennenlernzeit.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies