Gender-Erwartungen an Kinder: Mehr als Herzensbrecher
Sobald Kinder sich freundlich oder fürsorglich verhalten, sagt jemand: „Oh, die müssen verliebt sein!“ Diese Sicht auf Beziehungen ist viel zu eng.
V or einiger Zeit war ich mit dem Einjährigen in einer Spielgruppe. Als ich da so sitze, beobachte ich, wie ein Kind sich einer Mutter nähert, die nicht seine ist. Nennen wir ihn Jonas. Sie sitzt auf einem viel zu kleinen Stuhl an einem viel zu kleinen Tisch. Er stellt ihr Fragen und tritt von einem Bein aufs andere. Er will sie offenbar kennenlernen. Bis ein Erwachsener ruft: „Jonas ist ein Womanizer, da muss man aufpassen.“ Höhöhö.
Gleiche Spielgruppe, anderer Tag. Ein Zweijähriger, nennen wir ihn Amir, hilft einem Kind, das noch gehen lernt. Er reicht ihr die Hand und schirmt sie vor Ecken ab. Er ist vorsichtig und es macht ihm sichtlich Spaß. Einer der Männer sagt lachend: „Ja, Amir hat sich schon letztes Mal in sie verliebt.“ Höhöhö.
Beide Male schnaufe ich, aber sage nichts. Ich bin zu müde. Dennoch überlege ich seither, was ich beim nächsten Mal sagen könnte. Meine beiden Kinder hören auch oft solche Sprüche und ich hasse es. Leute sagen, dass sie mal „Herzensbrecher“ sein werden, als wäre das ein erstrebenswerter Titel. Wenn sie mit Mädchen spielen, fragen Erwachsene, ob da „jemand schon eine Freundin hat“, zwinker-zwinker. Es würden ihnen sicher „die Mädchenherzen nur so zufliegen“. Manchmal sage ich dann: „Oder die Jungsherzen.“ Oder, sofern die Situation es wert scheint: dass ich nicht möchte, dass meine Kinder auf diese Art sexualisiert werden.
Was bringt so viele Leute dazu, beim Anblick von Kindern an Liebesbeziehungen oder an deren zukünftige Sexpartner*innen zu denken? Und damit hier keine Missverständnisse entstehen, ich bin sehr für Aufklärung. Meine Kinder können Geschlechtsteile benennen, und sie wissen, dass es mehr als nur Jungen und Mädchen gibt. Sie wissen auch, dass man das nicht an Äußerem erkennen kann. Sie lernen, wie Babys entstehen, und wissen, dass jede Liebe gut ist, solange sie auf Einverständnis und Augenhöhe beruht. Denn all das hat nichts mit Sexualisierung zu tun. Das ist Bildung.
Freundlichkeit ist anders als „Liebe“
Es ist aber sehr wohl Sexualisierung, wenn Kindern beigebracht wird, dass sie, sobald sie sich fürsorglich verhalten, ja nur verliebt sein können. Wenn man kleine Pärchen aus ihnen macht. Wenn einem Jungen gesagt wird, jede noch so banale Beziehung zu einem Mädchen – und sogar zu einer Frau, die seine Mutter sein könnte – müsse sofort Liebe sein. Ganz abgesehen davon, dass diese Zuschreibung wohl auch für die betroffene Erwachsene reichlich absurd sein dürfte.
Das Einzige, das man wohl erreichen kann, wenn man vor allem vor Jungs ständig Freundlichkeit mit Liebe gleichsetzt, ist, dass sie aufhören, allzu freundlich zu sein, sofern sie nicht verliebt sind. Dass sie Hilfsbereitschaft und Fürsorglichkeit nicht als erstrebenswerte Charaktereigenschaften sehen. Dass Interesse an Frauen nur mit „Interesse“ stattfindet. Und das ist ja durchaus etwas, das einem irgendwie bekannt vorkommt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau