Gender Care Gap in Deutschland: Who cares?
Kinder betreuen, Kaffeetassen wegräumen oder Pflanzen gießen – bei Sorgearbeit halten sich Männer zurück. Das liegt nicht nur an traditionellen Werten.
Geschafft vom Wintertraining, streifen sich die Spieler ihre Schuhe ab. Auf sie wartet eine warme Dusche. Die meisten hier sind in ihren Dreißigern. Den Traum, selbst Fußballprofi zu werden, haben sie längst an den Nagel gehängt. Heute, als Väter, möchten sie ihren Kindern die Lebensträume ermöglichen.
„Aufgabenteilung? Gibt’s bei uns nicht“, sagt der Stürmer Thorsten halb ernst. „Wäsche, Kochen, Staubsaugen: Das erledige alles ich, Homeoffice sei Dank.“ Seine Frau ist Ärztin und tagsüber in der Klinik. Linksverteidiger Fabian ist erst kürzlich Vater geworden; neun Monate Elterngeld hat er beantragt. Man möchte meinen, das Familienmodell des männlichen Ernährers existiere überhaupt nicht mehr, zumindest hier, in der schmucklosen Umkleidekabine in Sachsen-Anhalt.
Von einer „kleinen Kulturrevolution“, die mit der Einführung des Elterngeldes 2007 begonnen habe, spricht der Geschlechterforscher und Diversity-Berater Marc Gärtner. Seitdem steht beiden Elternteilen für insgesamt 14 Monate das sogenannte Basiselterngeld zu – wenn jeder Elternteil mindestens zwei Monate für sich in Anspruch nimmt. Arbeitet man in dieser Zeit nicht, bekommt man trotzdem 65 Prozent des Einkommens fortgezahlt, mindestens aber 300 Euro und nicht mehr als 1.800 Euro im Monat.
Anreiz auf Island wirkt
Waren es beim Vorgängermodell, dem Erziehungsgeld, lediglich 3 Prozent der Väter, die es beantragten, nutzen inzwischen mehr als 40 Prozent das Elterngeld. Davon beschränken sich aber nach wie vor drei von vier auf die Mindestdauer von zwei Monaten. Das spiegelt sich auch im Gender Care Gap wider: Er hat sich im vergangenen Jahrzehnt nicht wesentlich verringert. Die Fortschritte bei der Aufteilung von Sorgearbeit sind ins Stocken geraten.
Mit dem ersten Kind wächst meist die Kluft zwischen den Geschlechtern. Ein Dominoeffekt: Der Care Gap vergrößert den Gender Pay Gap, Frauen zahlen weniger in die Rentenkasse ein und im Alter betrifft sie dann Altersarmut stärker als Männer – der sogenannte Pension Gap. Deshalb sei es entscheidend, dass sich die Betreuungszeiten annähern, sagt Marc Gärtner. Aber was muss passieren, damit sich der Abstand weiter verringert? Gärtner fordert neue Modelle, die es für Väter attraktiver machen, mehr Zeit mit dem Kind und weniger Zeit auf der Arbeit zu verbringen.
Als Vorbild für eine realistische Alternative sieht er Island. Dort haben beide Eltern Anrecht auf sechs Monate Elterngeld, bei einer Fortzahlung von 80 Prozent ihres Durchschnittseinkommens. Aber entscheidet sich ein Elternteil gegen das Elterngeld, halbiert sich die Bezugsdauer für die Familie. Das Resultat: Praktisch alle Väter nehmen sich eine halbjährige Auszeit vom Beruf.
Dass Frauen immer noch deutlich mehr unbezahlte Arbeit erledigen als Männer, liegt jedoch nicht nur an strukturellen Hürden. Tradierte Werte wirken nach wie vor. Das kennen auch die Fußballer in der Magdeburger Umkleidekabine: Ihnen wurde von verschiedenen Seiten vermittelt, sie sollen sich auf zwei „Papamonate“ beschränken. Das gehöre sich so. Ein Spieler wirft ein: „Ich finde das auch okay. In den ersten Monaten kann man als Vater sowieso nicht so viel beitragen. Richtig spannend wird es erst mit drei, vier Jahren.“ Stürmer Thorsten, Vater von drei Kindern, entgegnet: „Gerade in den ersten Monaten passiert so viel, ich möchte diese Zeit nicht missen.“
Einen weiteren Vorteil der frühen Beteiligung des Vaters betont Claire Samtleben vom Analyse- und Beratungsunternehmen Prognos: „Väter, die Elternzeit nehmen und in dieser Zeit allein für die Versorgung des Kindes verantwortlich sind, sind auch später engagierter in der Kinderbetreuung und im Haushalt.“ Das Familienministerium hat Prognos damit beauftragt, zu untersuchen, wie väterfreundlich die deutsche Wirtschaft ist.
Flexible Arbeitszeiten und Homeoffice sind zwar mittlerweile verbreitet, aber das Arbeitsumfeld gilt nach wie vor als einer der Haupttreiber des Gender Care Gaps. Und die im Dezember 2022 erschienene Studie von Prognos zeigt: Jeder zweite Vater hat schon den Arbeitgeber gewechselt oder darüber nachgedacht, um Familie und Beruf besser miteinander vereinen zu können. Bei den unter 35-Jährigen sind es sogar zwei von drei.
Laut der Studie gibt es offenbar auch einen Wahrnehmungs-Gap: Während zwei von drei Unternehmen angaben, sie seien väterfreundlich aufgestellt, sah das nur jeder dritte befragte Vater so. Bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf werde zu wenig an Väter gedacht und familienbewusste Angebote richteten sich selten explizit an sie, so die Studienteilnehmer.
Zudem fehlt es an Vorbildern für eine aktive Vaterschaft. Vor allem in Unternehmen, die laut Studie wenig väterfreundlich sind, arbeiten nahezu alle männlichen Führungskräfte in Vollzeit. Sie nehmen sich seltener und kürzer Auszeiten für ihre Kinder. „Geht der eigene Vorgesetzte mit gutem Beispiel voran und nutzt er beispielsweise die Möglichkeit, in Elternzeit zu gehen oder in Teilzeit zu arbeiten, haben die ihm unterstellten Väter weniger Sorge, Karriereeinbußen zu erfahren, und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass auch sie sich mehr in die Familienarbeit einbringen“, schreiben die Studienautor:innen.
Mehr als Kinderbetreuung
Zurück in der Umkleidekabine: Die Spieler haben inzwischen geduscht und ihre Taschen gepackt. Langsam leert sich der Raum. Bisher haben sie hauptsächlich über ihre Rolle als Väter gesprochen. Um andere Formen der Sorgearbeit ging es kaum. Dieses Muster kann man auch in der öffentlichen Debatte über den Gender Care Gap beobachten – und in vielen Unternehmen. Dabei ist Kümmern mehr als Kinderbetreuung. „Wer ist im Betrieb eigentlich zuständig für eine gute Stimmung, dafür, die Pflanzen zu gießen oder die Kaffeetassen wegzuräumen?“ Das sind wichtige Fragen, erklärt Diversity-Berater Marc Gärtner. „Wie zu Hause lastet auch im Betrieb der Großteil der Care Load und Mental Load auf den Schultern von Frauen.“ Damit meint er den mit der Sorgearbeit verbundenen zeitlichen und gedanklichen Aufwand.
Draußen, zwischen Vereinsheim und Kunstrasenplatz, erzählt Flügelspieler Simon von der Aufgabenteilung an seinem Arbeitsplatz, wobei von Teilung nicht die Rede sein kann. „Bei uns im Büro läuft das eigentlich ab wie in einer WG: Es gibt keine festen Regeln und am Ende sind es dann schon die Frauen, die das meiste erledigen.“
Das thematisiert Marc Gärtner auch immer, wenn er einen Betrieb berät. Männer lägen in ihrer Selbsteinschätzung, wer wie viel übernimmt, meistens ganz schön daneben. „Wir machen dann Übungen und fragen die Belegschaft, wer sich wofür zuständig fühlt und wie es eigentlich sein sollte.“ Im Anschluss helfe es, ein geschlechtergemischtes Team aufzustellen, das auf eine gerechte Aufgabenverteilung achtet.
Ein solch kritischer Blick kann auch außerhalb des Arbeitsumfeldes sinnvoll sein. Das zeigt sich besonders eindrücklich am Wochenende. Auch dann verbringen Frauen nämlich deutlich mehr Zeit mit Sorgearbeit. „Daran sieht man, dass das häufig vorgebrachte Argument zu kurz greift, Männer wären weniger engagiert in der Kinderbetreuung und im Haushalt, weil sie wegen der Erwerbsarbeit keine Zeit dafür hätten“, folgert Claire Samtleben.
Wochenende. Für die Magdeburger Fußballpapas heißt das auch: Trikot überstreifen, Schienbeinschoner anlegen, Schuhe schnüren. Die Teamkollegen müssen samstags früh raus und kommen meistens erst nachmittags wieder nach Hause. Wer passt in der Zwischenzeit auf die Kinder auf? Diese Frage stellt sich vor jedem Spiel aufs Neue. Aktuell denken die Fußballer über eine gemeinsame Kinderbetreuung während der Spiele nach.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht