Geflüchtete in Tunesien: „Stiller Exodus, stilles Massaker“
Immer mehr Menschen aus Afrika bleiben bei ihrem Versuch, nach Europa zu gelangen, in Tunesien hängen. Die Zahl der Toten auf dem Mittelmeer steigt.
Mongi Slim, Leiter des Büros des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), warnt vor einer dramatischen Zuspitzung der Lage in Südtunesien. „Es kommen jeden Tag mehr Menschen zu Fuß über die libysche Grenze, die Kapazität der Unterbringungen in Tunesien ist überschritten.“
In Medenine und Zarzis, unweit der libyschen Grenze, betreiben das UNHCR und die Organisation für Migration IOM zwei Lager für Flüchtende. Die Mehrheit der nach Tunesien geflohenen Menschen aus Subsahara-Afrika lebt jedoch in privaten Unterkünften und schlägt sich ähnlich wie in Libyen als Tagelöhner durch. Doch anders als in dem ölreichen Nachbarland, finden selbst Einheimische spätestens seit der Coronakrise kaum noch Arbeit.
Wegen der Spannungen zwischen Migranten und Tunesiern lehnte bisher jede tunesische Regierung die von der EU geforderten Asylcenter ab. Doch zur Zeit verhandelt Brüssel mit dem tunesischen Regierungschef Hichem Mechichi, um die Zahlungsunfähigkeit des Landes mit einem Kredit zu verhindern. Im Gegenzug soll Tunesien abgelehnte Asylbewerber aufnehmen und sich von der Idee der Asylcenter überzeugen lassen.
Mit dem Taxi zum Grenzübergang
Mehr als doppelt so viele Tunesier wie im Vorjahreszeitraum kamen bis Ende Mai 2021 in Italien an. Jede Nacht fängt die tunesische Armee mehrere Dutzend Menschen in dem von einem mit deutschen und amerikanischen Spezialisten entworfenen Grenzwall gesicherten Niemandsland zwischen Mittelmeer und Sahara ab. Viele Westafrikanerinnen lassen sich aus Angst vor den libyschen Milizen mit Taxis von Tripolis in die Nähe des Grenzüberganges Ras Jadir bringen und versuchen in Nachtmärschen, unbemerkt nach Tunesien zu gelangen.
Die Nigerianerin Queen hat sich auf die rund 30 Kilometer lange Strecke entlang der Mittelmeerküste mit ihrem fünfjährigem Sohn Michael im Arm gewagt. Obwohl sie schwanger war, hatten Milizionäre aus der libyschen Hafenstadt Zuwara die 30-Jährige auf offener Straße entführt und eingesperrt. „Für die Geburt meines Sohnes haben sie mich in das örtliche Krankenhaus gebracht, aber die Ärzte ließen mich bei der Geburt praktisch alleine.“
Nach Angaben der IOM starben 2019 mehr als 1.200 Menschen in dem Seegebiet vor Libyen und Tunesien. Die tatsächliche Opferzahl ist in diesem Jahr wohl sehr viel höher, da die Schlauchboote aus Libyen oft unerkannt ablegen. Die mit durchschnittlich 100 Insassen überladenen Boote kentern im Falle eines Luftverlustes oft in wenigen Stunden oder überschlagen sich durch Wellengang. Von zahlreichen unentdeckten Unglücken zeugen oft nur auf dem Wasser treibende Benzintanks oder Holzbretter, die den Unterboden der in der Türkei oder China hergestellten Schlauchboote verstärken.
„Ein stiller Massenexodus und ein stilles Massaker“, sagt Queen, die zusammen mit ihrem Freund und ihrem Sohn eine kleine Wohnung in der tunesischen Küstenstadt Zarzis gemietet hat. Die aus der Biafra-Provinz stammende Frau verdient als Putzfrau gerade mal genug, um ihre kleine Familie zu ernähren. Der Vater ihres Sohnes verließ sie auf der gemeinsamen Reise durch Libyen, als sie schwanger wurde. In einem Aufnahmelager in Zarzis lernte sie Emmanuel kennen, der ebenfalls aus Biafra stammt.
Kein vor und kein zurück
Der ruhige 35-Jährige versucht in Zarzis als Friseur über die Runden zu kommen, einen im letzten Jahr eröffneten Kiosk musste er aufgrund der Umsatzeinbußen während des Coronabedingten Lockdowns wieder schließen. In ihm brodelt es, als er auf die Hilfe der nigerianischen Botschaft für die in Tunesien gestrandeten Landsleute angesprochen wird. „Ein Botschaftsangehöriger kam mit umgerechnet 5 Euro Unterstützung pro Kopf. Davon können wir uns gerade mal einen Tag ernähren“, sagt er. „Wer wie wir aus Biafra stammt, erhält von der Botschaft in Tunis auch keine Ersatzdokumente – die Voraussetzung für eine Rückkehr in die Heimat.“
Emmanuel und Queen hängen nun wie mehrere Tausend in Zarzis oder Sfax fest, denn auch der tunesische Staat verweigert ihnen einen legalen Status. Ein neues Asylgesetz wird seit Jahren im Parlament verhandelt, die Verabschiedung liegt nach Meinung vieler tunesischer Menschenrechtsaktivisten noch in weiter Ferne. Nicht nur die aus Libyen Geflohenen sind bereits vor der Ankunft in Europa „sans papiers“, Dokumentenlose.
Der in Frankreich übliche Begriff für das Heer der Rechtslosen gilt nun auch in der ehemaligen französischen Kolonie Tunesien. Alleine in der 200.000-Einwohnerstadt Zarzis bieten sich zur Zeit bis zu 5.000 Migranten für Hungerlöhne an und machen den vielen tunesischen Arbeitssuchenden Konkurrenz. Das Lohnniveau liegt im informellen Sektor oft noch unter dem Mindestlohn von umgerechnet 150 Euro im Monat.
Mohamed Ajilar hatte vor der Coronakrise und den Anschlägen auf Touristen im Jahr 2015 in den All-Inklusive-Hotelburgen gut verdient. Nun kann er von seinem Lohn als Kellner kaum noch die Miete für seine WG zahlen. Sieben Mal hat er bereits die Überfahrt nach Europa gewagt, einmal musste der gelernte Tischler zurück nach Djerba schwimmen, weil das Boot kenterte. Lokale Medien bestätigen der taz seine Behauptung, er sei von den elf Passagieren an Bord der einzige Überlebende gewesen.
Als er einmal von einem Schmuggler in das libysche Zuwara gelockt worden war, stand er nach zwei Wochen Wartens auf ruhiges Wetter eines Abends mit unzähligen Westafrikanern und einem Schlauchboot am Strand. Mohamed kniff und ließ sich nach Zarzis zurückfahren.
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