Geflüchtete in Sachsen:Charmeoffensive in Freiberg
Vor fünf Jahren nahmen Bewohner*innen der sächsischen Kreisstadt ankommende Geflüchtete mit Flaschenwürfen in Empfang. Wie ist die Stimmung heute?
8.8.2020, 18:40 Uhr
Wer in Freiberg lebt, kennt sich – vom Grüßen, Sehen, manchmal auch vom Wegsehen. Sich aus dem Weg zu gehen, ist schwierig in dieser 41.000-Einwohner-Stadt, die nicht ganz klein ist, aber auch nicht groß, sondern irgendwas in der Mitte, aber sie liegt ja auch in der Mitte von Sachsen, zwischen Dresden und Chemnitz, von daher passt das. Durch die gepflegte Altstadt mit Wallanlagen und Schloss schlängeln sich mittelalterliche Gassen, über den Obermarkt wacht Otto der Reiche in Bronze, über den Untermarkt der Dom mit seiner wertvollen Silbermannorgel.
Amir Nikou ist einer der 80 Sängerinnen und Sänger des Domchors. Der ausgebildete Tenor ist 41 Jahre alt und stammt aus dem Iran. Er wirkt wie einer, der auf der Straße nicht wegsieht, sondern grüßt, und wenn er erzählt, was er alles so macht, strahlt seine Stimme sogar durchs Telefon: Er ist Mitbegründer der Bürgerbühne, singt zusätzlich zum Domchor im Gemeindechor Petri-Johannis, ist Dolmetscher für Geflüchtete und Asylbewerber und Teil der Kampagne #gesichtzeigen, mit der hundert Freiberger und Freibergerinnen für eine tolerante weltoffene Stadt werben.
Amir Nikou ist eins der wenigen Gesichter mit Migrationshintergrund. Er sagt: „Ich versuche, ein Vorbild zu sein.“ Denn Freiberg ist nicht ganz so weltoffen, wie es gerne wäre.
Vor fünf Jahren sorgte der Name der Stadt bundesweit für Schlagzeilen. Am Abend des 25. Oktober 2015 wurde in Freiberg ein Sonderzug mit etwa 700 Geflüchteten aus Bayern erwartet. Sie sollten in Busse umsteigen, um auf Unterkünfte im Land Sachsen verteilt zu werden. Ab dem späten Nachmittag versammelten sich bis zu 400 Menschen am Bahnhof, um durch eine Sitzblockade die Weiterfahrt der Busse zu verhindern. Die Polizei, mit 200 Einsatzkräften vor Ort, musste Schlagstöcke und Pfefferspray einsetzen, um den Weg für die Busse freizuräumen, begleitet von Beschimpfungen, Flaschen- und Apfelwürfen.
Im Sommer 2015 sind Hunderttausende Menschen auf der Suche nach Schutz nach Deutschland und in andere Länder Europas geflohen. Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte sich vor die Kameras und versprach: „Wir schaffen das.“ Was ist seither passiert? Was haben „wir“ geschafft? Wie geht es den Menschen heute? Ein taz-Dossier über Flucht und Ankunft. Alle Texte finden Sie in unserem Schwerpunkt Flucht: taz.de/flucht
Offizielle Bilanz: mehrere leicht verletzte Beamte, verschiedene Strafanzeigen – und ein großer Imageschaden für die Stadt. Der sächsische Justizminister wird ein Jahr später auf Anfrage der Grünen erklären, politisch motivierte Kriminalität habe es bei den Ausschreitungen nur in einem Fall gegeben, nämlich einen Hitlergruß.
Zum Zeitpunkt der Ausschreitungen wohnt Amir Nikou schon eineinhalb Jahre in Freiberg. Er fährt zufällig mit dem Rad am Bahnhof vorbei, wo einige Freunde aus der iranischen Gemeinde beim Unterstützerkomitee mitdemonstrieren. Sie fordern ihn auf, sich ihnen anzuschließen, aber er lehnt ab. Er habe gesagt: „Das ist euer Land“, erzählt er, nicht weil er sich Deutschland nicht verbunden fühlt, sondern weil er damals noch keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. „Ich fand, dass ich kein Recht dazu habe.“
Im Jahr 2012 hatte Nikou den Iran verlassen, um in Italien Gesang zu studieren. Während er in seiner Heimat als Christ zu einer verfolgten Minderheit gehört, die ihren Glauben nur im Geheimen praktizieren kann, entdeckt er in Italien, was es heißt, seine Religion offen ausleben zu können. Doch genau das wird schließlich zum Problem. Freunde warnen ihn vor einer Rückkehr, sein Studium kann er nicht fortsetzen, weil ihm die Papiere fehlen, er hängt in der Luft.
Er verbringt ein paar Monate bei Freunden in Hamburg, währenddessen werden Bekannte im Iran verhaftet, weil sie Christen sind. Nach sieben Monaten gibt er die Hoffnung auf, zurückkehren zu können, und entscheidet sich, einen Asylantrag zu stellen. Nach drei Wochen im Asylbewerberheim in Chemnitz landet er am 21. März 2014 in Freiberg.
Seither bereichert er das kulturelle Leben der Stadt. Er spielte schon den „Luther aus Teheran“, sang Schuberts „Winterreise“ und wird als nächstes Humboldt verkörpern. Obwohl er sein Studium nicht beenden konnte, wirkt er zufrieden. Seit einem Jahr macht Nikou eine Ausbildung zum Erzieher, auch dort kann er seine musischen Talente einbringen. „Ich versuche, positiv zu sein.“ Integration vormachen, vorleben, verkörpern.
Ja, es gebe „Unfreundlichkeit“ in Freiberg, formuliert er vorsichtig. Aber er habe vor allem Freundlichkeit und Unterstützung erfahren. Als ihm kurzfristig eine Abschiebung drohte, halfen ihm Menschen aus der Kirchengemeinde, jetzt will er etwas zurückgeben.
Ob er sich in Freiberg voll integriert fühlt? „Ich habe mich nie verletzen lassen“, sagt Nikou, „ich war immer selbstbewusst in mir.“ Vielleicht rührt diese innere Ruhe aus seinem Glauben. Vielleicht geht es aber auch gar nicht anders, wenn man in einer Stadt lebt, in einem Land, in dem viele Menschen gegen einen sind, weil man nicht von hier kommt, vielleicht sogar eine andere Hautfarbe hat. Ist Amir Nikous unerschütterlicher Optimismus, sein positives Denken seine Überlebensstrategie?
Bei den Kommunalwahlen 2019 wurde die AfD stärkste Kraft im Freiberger Stadtrat, gefolgt von der CDU und den Freien Wählern. Der parteilose Oberbürgermeister Sven Krüger regiert mit den Stimmen eines inoffiziellen Rechtsbündnisses, das neben der FDP und den Freien Wählern von einer CDU mitgetragen wird, die rechter ist als die CDU Sachsens. In den „Freiberger Thesen“ hatte der CDU-Ortsverband Ende 2017 die Bundeskanzlerin für ihre Asylpolitik kritisiert und sie sowie Generalsekretär Tauber zum Rücktritt aufgefordert. Der CDU-Ortsvorsitzende Holger Reuter schloss damals in einem MDR-Interview eine Koalition mit der AfD nicht aus.
Ebenfalls 2017 hatte OB Krüger publikumswirksam eine Rechnung über 736.200 Euro ans Bundeskanzleramt geschickt – so viel habe die Stadt die Integration der 1.700 anerkannten Geflüchteten und Asylbewerber im Jahr 2016 gekostet. Im Jahr 2018 verließ er seine Partei, die SPD, und verkündete via Facebook, er empfinde angesichts der Politik der Großen Koalition ein „Fremdschämen“. Im selben Jahr versuchte er, eine Zuzugssperre für Geflüchtete und Asylsuchende beim Landkreis zu erwirken – und scheiterte.
Zu verdanken ist das auch der Rechtsaufsichtsbeschwerde, die Jana Pinka erfolgreich bei der Landesdirektion einlegte. „Mein Lebenswerk“, sagt die Stadt- und Kreisrätin der Linken mit leichter Ironie und echtem Stolz, während sie im Café Momo einen frisch gebrühten orientalischen Mokka trinkt. „Der Antrag kam, als gar kein Zuzug mehr stattfand.“
„Die CDU ist verantwortlich, dass die AfD so erstarkt ist“
Bis 2019 saß die 56-Jährige für die Linke im sächsischen Landtag. Sie ist herzlich, direkt und der Typ hartnäckige Abgeordnete, „ich war schon immer die Querdenkerin“. Pinka hat zahlreiche Anfragen im Landtag gestellt, Beschwerden eingereicht zu dem, was auf die Ereignisse 2015 folgte. Beschimpfungen auf der Straße, Anfeindungen in den sozialen Netzwerken – sie ist froh, dass sie jetzt „wieder zum Fußvolk“ gehört. Es ist ruhiger geworden für sie.
„Die CDU ist dafür verantwortlich, dass die AfD so erstarkt ist“, sagt Pinka. „Jetzt sind sie die Getriebenen.“ Getrieben wie auch OB Krüger, von dem sie sagt, „er sollte ein bisschen mehr Rückgrat zeigen“. Sie klingt fast mitleidig. „Er war 2015 noch nicht lange im Amt und sicherlich von der Situation etwas überfordert.“ Doch das ist fünf Jahre her – seine Haltung hat sich eher versteift.
Muaiad Ibrahim, ein alter Bekannter von Pinka, kommt im lachsfarbenem Hemd auf einen Kaffee vorbei, er hat Urlaub. Der promovierte Jurist aus Syrien koordinierte 2015 in der Gesellschaft für Strukturentwicklung und Qualifizierung (GSQ) die Unterbringung der ankommenden Geflüchteten für den Landkreis Mittelsachsen. „Ich war froh, dass ich helfen konnte, den Neuankömmlingen die deutsche Kultur und ihre Werte entgegenzubringen“, sagt er. „In den Ämtern hier gibt es kaum Leute mit Migrationshintergrund.“
Heute arbeitet Ibrahim als Koordinator des Bunten Hauses, eines Mehrgenerationentreffs. Dort bieten sie Tandemsprachkurse, Volkstanzkurse, Nähkurse für Geflüchtete an. „Basisarbeit“, sagt Ibrahim. „Und die braucht wirklich Zeit.“ Er rechnet mit mindestens einer Generation, die älteste seiner vier Töchter hat gerade Abitur gemacht. Bei seiner Arbeit für die GSQ agierte er oft als Vermittler zwischen den Kulturen: „Wenn ich auf die Menschen zugehe, kann ich Ängste abbauen. Es stimmt nicht, dass alle Leute Ausländer hassen. Aber es gibt viel Propaganda.“
„Wir dürfen die Deutschen auf keinen Fall als rechtes Pack darstellen“
Ibrahims Job bei der GSQ endete im Jahr 2017. Im Februar 2016 begleitete er in einem Bus Geflüchtete nach Clausnitz, der von rechten Demonstrant*innen blockiert und attackiert wurde. „Es war schrecklich“, sagt Ibrahim, aber: „Dies war Clausnitz und nicht Freiberg.“ Ähnlich wie Amir Nikou sieht er sich dem Positiven und der Integration „von beiden Seiten“ verpflichtet. „Wenn wir über die Deutschen reden, dann dürfen wir sie auf keinen Fall als rechtes Pack darstellen“, sagt er. „Das entspricht nicht der Wahrheit. Mein Dank an dieser Stelle gebührt den vielen Ehrenamtlern aus Freiberg, die unsere Arbeit erleichtern. Schreiben Sie das!“
An Freibergs Stadtmauer hängt eine Aufschrift aus dem Jahr 1554: „Das Heil der Stadt ist die Eintracht der Bürger.“ Darunter gibt ein moderner Durchbruch den Blick auf ein innerstädtisches Parkhaus frei.
Außerhalb der Stadtmauer, in der Johannisvorstadt, eine Viertelstunde Gehzeit vom Zentrum entfernt, liegt das Gemeindehaus St. Johannis. Es ist Wohnort und Wirkungsstätte von Pfarrer Michael Stahl. Ein klassischer 20er-Jahre-Bau, in dessen Garten zu DDR-Zeiten ein Glockenturm gebaut wurde. Die Gemeinde führt das Sankt im Namen, weil das Gelände früher zu einem katholischen Stift gehörte. Der Gemeindesaal, von hundert auf zehn Stühle reduziert, wird gerade für das Seniorentreffen am Nachmittag hergerichtet. Licht fällt rechts und links durch moderne bleiverglaste Oberlichtfenster. Über der Eingangstür versteckt sich die silberne Orgel.
Stahls Gemeinde ist fusioniert, also groß. 2.400 Mitglieder. Obwohl erst seit gut einem Jahr im Amt, ist der gebürtige Erzgebirgler, Jahrgang 1978, sofort ins Zentrum des Geschehens katapultiert worden. Er gehört zu den Mitbegründern des im letzten Jahr entstandenen Aktionsbündnisses „Freiberg für alle“, das die Plakataktion #gesichtzeigen gestartet hat. Es geht um „Empowerment“, erklärt Stahl die Idee des Netzwerks. „Wir wollen helfen, Menschen darin zu unterstützen, in ihrem Umfeld Ideen und Haltung zu entwickeln.“ Mit der Plakataktion hatten sie „von Anfang an das Ziel, positiv für etwas zu werben“, sagt Stahl. Auch das eine Charmeoffensive. Herz statt Hetze.
„Patriotismus kann ich als konservativ gelten lassen“
Schon Stahls Vorgänger, Pfarrer Michael Tetzner, hatte eine iranische Glaubensgruppe innerhalb der Petri-Johannis-Gemeinde betreut, zu der 2015 auch Amir Nikou dazu kam. „Am Anfang ging es um praktische Flüchtlingshilfe“, erklärt Stahl. „Das ist kein drängendes Thema mehr.“ Der Punkt für ihn ist jetzt: „Wie ergeht es der Zivilgesellschaft, wenn die AfD mit ihren politischen Leitbildern weiter an Einfluss gewinnt? Sie führt einen klassischen Kulturkampf und besetzt Themen, bei denen es darum geht, rassistische Kriterien salonfähig zu machen.“ Diesen Kulturkampf führt sie teilweise in der Kirche und teilweise gegen sie. Da, wo es Pfarrer wie Stahl gibt.
Im März 2019 hatte sich eine Auseinandersetzung der Stadt mit dem Theater zugespitzt. Anlass war die „Dialog“-Reihe des Theaters, ein Debattenformat, bei dem die Autorin Liane Bednarz, eine Expertin für die neue Rechte, ihr Buch „Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern“ vorstellen und diskutieren sollte. Kirchenmann Michael Stahl war als Gast der Diskussionsrunde eingeladen, moderieren sollte den Abend der FAZ-Journalist Stefan Locke. Zwei Monate vor den Landtagswahlen machte die AfD Druck, bis die Stadtspitze schließlich entschied, die Diskussion aus dem Theater in den Festsaal der Stadt zu verlegen.
Für September hat Pfarrer Stahl die Autorin Bednarz erneut eingeladen. Ihm liegt das Thema am Herzen. „Wir wollen den Dialog aufnehmen“, sagt Stahl. „Was ist konservativ? Was ist neurechts? Diese Unterschiede muss man herausarbeiten.“ Aber dieses Mal wird die Kirche die Veranstalterin sein, und die ist autark. Die Landeskirchenleitung stehe hinter ihm, versichert Stahl.
Mit Blick auf die USA fürchtet er, dass evangelikale und konservative Christen für autoritäre und neurechte Positionen sein könnten und solche Einflüsse auch nach Sachsen ausstrahlen. Wo setzt eine solche Beeinflussung oder auch Unterwanderung an? „Wenn man Nationen zur göttlichen Ordnung erklärt“, nennt er ein Beispiel. „Patriotismus kann ich dagegen als konservative Position gelten lassen.“
Von der Johannisvorstadt durch die Wallanlagen zurück in die Altstadt ist es nicht weit. In den Auslagen der Geschäfte warten Plauener Spitze, Schultüten aus Frottee, Räuchermännchen und Holzspielzeug aus dem Erzgebirge auf touristische Kundschaft, die zu Coronazeiten dünn gesät ist. Auch das Mittelsächsische Theater am Buttermarkt liegt da wie ausgestorben.
Intendant Ralf-Peter Schulze steht, nicht im typischen Schwarz der Regisseure, sondern leger in Jeans und Hemd gekleidet, in seinem Intendantenzimmer mit Blick auf die Nikolaikirche und sagt: „Die Stadt müssen wir immer wieder gewinnen. Wir haben eine integrative Aufgabe, Menschen unterschiedlichster Prägung zu erreichen. Ohne unsere Haltung zu verlieren.“ Von Haltung ist in dieser Stadt viel die Rede.
Schulze, Jahrgang 1955, geboren in Weimar, mit Theatersozialisation in vielen ostdeutschen Städten, ist seit 2011 der künstlerische Intendant des Mittelsächsischen Theaters, das auch eine Philharmonie und Oper hat und eine Dependance in Döbeln. Das Stammhaus am Buttermarkt trägt auf der Fassade die Inschrift „Die Kunst gehört dem Volke“, noch aus der DDR-Zeit.
„Der Kulturkampf von rechter Seite ist in vollem Gange. Es geht um existenzielle Rechte“
Der Intendant führt seine Gäste in den Theatersaal mit den geschwungenen Rängen, wo gerade zwei Drittel der rot gepolsterten Bestuhlung herausgenommen wurde. Dort soll ab September Theater als Salonkultur wieder aufleben. „Ich bin irritiert über die Spontaneität der Politik, was die Abstandsregeln angeht“, spottet Schulze. Bis zum 31. Dezember ist sein Haus mit den etwa 180 Festangestellten in Kurzarbeit.
Im Februar waren Girlanden über die Gassen gespannt, die mit „Sein oder Nichtsein“ für einen Theaterbesuch warben. Nicht Shakespeares Hamlet, sondern die Lubitsch-Komödie. Jetzt im Juli verteilt Schulze von der Theaterschneiderei gefertigte Schutzmasken, die diese Inschrift tragen. Um Sein oder Nichtsein ging es schon öfter für das Theater, zumindest um seine Existenz als ein Ort der Freiheit der Kunst und der gesellschaftlichen Debatte.
Ein AfD-Stadtrat hatte sich in einem Facebook-Post beschwert, dass im Programmheft zu „Sein oder Nichtsein“ ein Text aus einem Buch von Niklas Frank abgedruckt war. Der Sohn von Hitlers Generalgouverneur Hans Frank hat mehrfach gegen die AfD-Rhetorik Stellung bezogen. „Wir haben die Blauäugigkeit verloren“, sagt Schulze. „Der Kulturkampf von rechter Seite ist in vollem Gange. Es geht um existenzielle Rechte.“
Blauäugig oder gut gemeint waren die Schminkaktionen auf dem Marktplatz, die Musik- und Schauspieldarbietungen, die es im Herbst 2015 auch als Gegenreaktion auf die Vorkommnisse im Bahnhof gab. Als im Dezember die „Bühne der Weltoffenheit“ als Gegenaktion zu einer AfD-Kundgebung stattfand, wurde es schon deutlich ungemütlicher, erinnert sich Schulze. „Man hat sich öffentlich sortiert.“
Das Theater durfte keine öffentlichen Mittel für die „Bühne der Weltoffenheit“ aufwenden und die Theaterleute durften dort nur als Privatpersonen auftreten. „,Was darf Theater' wurde schon hier zum Thema“, sagt Schulze. „Theater werden für bestimmte Stücke angefeindet. Begriffe wie Meinungsfreiheit, Toleranz, Demokratie, Menschenrechte haben wir schärfer gestellt, um auch gerade den rechten Umdeutungsversuchen eine Haltung entgegenzusetzen.“
Im August 2015 sagte die Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“. Haben wir es geschafft und wenn ja, was? 18 Seiten mit und über Geflüchtete, ihre Erfolge, Hürden und Helfer– in der taz am wochenende vom 8./9. August. Außerdem: Die Hauptstadt des Libanon ist von der schweren Explosion brutal getroffen. Eine Reportage aus Beirut. Und: Was tiktok ist und warum Trump es verbieten will. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Am Bahnhof war Schulze 2015 nicht. „Die Ausschreitungen hielt ich für eine Entgleisung“, erinnert er sich. „Wir haben damals noch nicht daraus geschlossen, dass dies ein gesamtgesellschaftliches Bild ist. Es wurde aber schnell klar, wie wichtig es wird, Gesicht zu zeigen.“
Anselm Peischl, der für die Grünen im Kulturausschuss sitzt, gehörte im Jahr 2015 zu dem kleinen Willkommenskomitee, das „eigentlich zuerst“ am Bahnhof war. Dann seien plötzlich die Gegner*innen der Merkel’schen Flüchtlingspolitik aufgetaucht: normale Leute – heute würde man sagen: Wutbürger –, einige stadtbekannte Neonazis und, vermutet Peischl, Externe aus der rechten Szene. „Die Situation war sehr stressig, aber kein Gewaltexzess“, sagt der 30-Jährige. „Doch es war das erste Mal, dass so unterschiedliche Gruppen von Menschen zusammenkamen. Bis dahin kannten wir nur die NPD-Demos. Und was den Flüchtlingen und uns entgegenschlug, kann man schon als blanken Hass bezeichnen.“
Von der neuen Offensive #gesichtzeigen des Aktionsbündnisses Freiberg für alle ist Peischl nicht überzeugt. „Das ist nett, aber ändert nichts“, sagt er. „Die AfD hat es hingekriegt, bürgerlich zu erscheinen. Und die Gegenrede ist noch immer sehr verhalten.“
Der Kulturkampf macht sich an Kleinigkeiten fest, die nicht klein sind. Es geht um Umdeutung und Deutungshoheit, es geht um das Verschieben von Grenzen des Sagbaren und Machbaren. Peischl ist mit seinem Projekt, eine Art Jugendclub aufzuziehen, gescheitert. „Als hätte man die nächste Antifa-Ausbildungsstätte errichten wollen“, stöhnt er. „Dabei ging es um junge Kultur, Begegnungsorte und kreative Freiräume.“
Ein Antrag der SPD, mehr Bürgerbeteiligung zu schaffen und die Stadtratssitzungen öffentlich zu streamen, wurde im Juli abgelehnt. Als „Freiberg für alle“ im Juni sein neues Magazin der Kampagne #gesichtzeigen herausbrachte, lagen die Hefte an kommunalen Stellen aus. Die AfD beschwerte sich. Kurz darauf waren sie verschwunden.
Theaterintendant Ralf-Peter Schulze sagt: „Das Bild von Freiberg ist diverser heute. Die Stadt ist sensibler, der Mut gewachsen. Und die das spüren, sind aggressiver geworden.“ Pfarrer Michael Stahl ahnt, dass „die alten Reflexe zu Migration sich jederzeit wieder bedienen lassen. Immer, wenn es kein anderes Thema gibt.“
Gerade gibt es ein anderes Thema: Corona. An einem Montagabend im Juli steht ein versprengtes Grüppchen von etwa 30 Menschen auf dem Obermarkt. Sie sind gegen Maskenpflicht und gegen den angeblichen Impfzwang, fordern „freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Wie viele Akteure und wie viele Publikum sind, ist nicht genau auszumachen. Aber es wird geklatscht.
Amir Nikou hat inzwischen seine Einbürgerung beantragt, am Donnerstag hat er „ein dickes Buch“ mit Dokumenten, Zeugnissen und Empfehlungsschreiben bei den Behörden abgegeben. Er möchte ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein und wählen gehen. Und demonstrieren können, wenn es darauf ankommt.
Leser*innenkommentare
Reinhardt Gutsche
Querbeet-Freundschaften
Zitat Intendant Ralf-Peter Schulze: „Die Stadt müssen wir immer wieder gewinnen. Wir haben eine integrative Aufgabe, Menschen unterschiedlichster Prägung zu erreichen.“
Diesem Ziel dienten auch die Freiberger HipHop-Workshops von Johan-Christof Laubisch, bis 2019 Mitglied des Schauspiel-Ensemble des Theaters, zu denen Jugendliche sowohl aus dem immigrantenfeindlichen Milieu als auch Geflüchtete selbst kamen. Daraus sind mit der Zeit sogar richtige Freundschaften entstanden.
Vielleicht sollte man mehr über solche gelungene Beispiele kulturenintegrativer Aktionen berichten als immer nur wohlfeil auf dem Gemeinen Ostdeutschen als der Inkarnation leibhaftiger Hitler-Wiedergänger rumzuhacken.
Der Cleo Patra
// Während er in seiner Heimat als Christ zu einer verfolgten Minderheit gehört //
Das ist nicht ganz wahr, bzw. leider schlecht recherchiert. Die Christen im Iran werden nicht verfolgt sondern dürfen ihren Glauben „etwas“ leben. Allerdings sind sie Menschen zweiter Klasse trotz Ein-Gott und Buchreligion.
kleinalex
@Der Cleo Patra Im Artikel steht auch
"Er verbringt ein paar Monate bei Freunden in Hamburg, währenddessen werden Bekannte im Iran verhaftet, weil sie Christen sind."
Also entweder sind das alles Lügner, die sich viel Mühe machen, um solche Vergänge vorzutäuschen.
Oder aber die Aussage "Die Christen im Iran werden nicht verfolgt sondern dürfen ihren Glauben „etwas“ leben." ist nichts weiter als eine Werbe-Behauptung der iranischen Regierung, die mit dem tatsächlichen Alltag der Menschen vor Ort nicht übereinstimmt.
Muss sich jeder selbst überlegen, was wahrscheinlicher ist.
(Oder man kann sich natürlich auch einreden, wenn es im Iran mindestens EINEN Christen gibt, der keine persönliche Verfolgung erlebt hat, dann gilt das automatisch für alle.
Die Nicht-Verfolgung einer Person sagt nichts über die Verfolgung anderer Personen aus.)
sachmah
Im Osten Deutschlands gibt es die größten Extremisten, großteils rechts, aber auch links. Und es gibt auch die größten Demokraten Deutschlands.
Gizmo
@sachmah Quellen für Ihre Behauptungen? Gruß aus "dem Osten" (Pauschalisierungen sind schon eine tolle Erfindung)
sachmah
@Gizmo Gerne doch. Eigene Beobachtung und Presse. Ich meine weniger den Durchschnitt als das Vertreten eigener Überzeugungen gegen Widerstand. Bei Demokraten ist das ein Muss.
Justin Teim
@sachmah übersetzt könnte man sagen der Osten ist am meisten politisch engagiert?
sachmah
@Justin Teim Nach meiner Beobachtung gibt es zwar viele, die desinteressiert sind, aber die, die sich für Politik interessieren, scheinen für die Ideen zu brennen wie man so sagt. Im Guten wie im Schlechten. Demokraten im Osten hatten und benötigen mehr Standkraft als im Osten, und ich bewundere wie sie für die Werte einstehen. Bei den Extremen stört das.
Justin Teim
@sachmah Was mir auffällt die Ostdeutschen sind kerniger - deutlicher in dem was sie wollen und was nicht.