Geflüchtete in Berlin: Wie wir uns verändern
Der Sommer vor fünf Jahren hat Berlin nachhaltiger verändert als alle Einwanderungswellen zuvor. Eine Bestandsaufnahme.
Furchtbar war es für die Menschen, die da nach oft monatelanger, teils lebensgefährlicher, manchmal zu weiten Strecken zu Fuß zurückgelegter Flucht abgekämpft, traumatisiert, müde und hungrig ankamen – und statt des Schutzes, den sie gesucht hatten, wieder unversorgt auf nacktem Boden unter freiem Himmel campieren mussten: Kinder, Schwangere, Alte, Verletzte.
Im Sommer 2015 sind Hunderttausende Menschen auf der Suche nach Schutz nach Deutschland und in andere Länder Europas geflohen. Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte sich vor die Kameras und versprach: „Wir schaffen das.“ Was ist seither passiert? Was haben „wir“ geschafft? Wie geht es den Menschen heute? Ein taz-Dossier über Flucht und Ankunft. Alle Texte finden Sie in unserem Schwerpunkt Flucht: taz.de/flucht
Über das Chaos vor der deutschen Behörde berichteten damals selbst ausländische Medien. „Lageso“, die Kurzbezeichnung des Amtes, das damals vor der Zahl der Neuankömmlinge kollabierte, wurde zum Synonym für Scheitern und Chaos.
Schön war es, wie dann geholfen wurde: Berliner*innen, zunächst aus der Nachbarschaft („Moabit hilft“), bald aus der ganzen Stadt, brachten Essen, Wasser, Decken, Kleidung, Spielzeug, Rollstühle. Kirchen- und Moscheegemeinden kochten warme Mahlzeiten für die Wartenden; Hotels und Restaurants spendeten übriggebliebene Lebensmittel. Vor allem aber: Freiwillige organisierten die Unterbringung Geflüchteter, die das Amt nicht mehr leisten konnte.
Unvergessen die Nacht am Lageso
Unvergessen ein Abend, eher eine Nacht am Lageso im Sommer 2015, in der eine zarte junge Frau, das Handy ununterbrochen in Betrieb, über Facebook und über Telefonketten dafür sorgte, dass stets ein Auto nach dem anderen vorfuhr. Und die Menschen, die da teils ganze Familien aus Syrien oder Gruppen geflüchteter junger Männer aus Afghanistan einsteigen ließen, um ihnen bei sich zu Hause ein Obdach zu bieten, entsprachen nicht mehr nur den Klischees der typischen Flüchtlingsaktivist*innen – jung oder junggeblieben, rebellisch, links und in echt oder im Herzen Kreuzberger. Nein: Diese neuen Helfer*innen repräsentierten Milieus, die sich bis dahin kaum für Fragen des Asylrechts oder die Zustände in Flüchtlingsheimen interessiert hatten.
Nun lernten sie sie kennen: als Kinderbetreuer in den damals eilig etwa in Turnhallen eröffneten Unterkünften, als Begleiterinnen neu angekommener Geflüchteter zum Bundesamt für Asyl oder bei anderen Behördengängen.
So entstanden neue Konfrontationen und neue Koalitionen: Letztere in der Zusammenarbeit der „neuen“ mit den „alten“ Flüchtlingshelfer*innen und vor allem im persönlichen Kontakt zu Schutz suchenden Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten. Es wuchs damals tatsächlich das Gefühl eines „Wir“, wie Angela Merkel es mit ihrem „Wir schaffen das“ umrissen hatte.
Aber eben auch Konfrontationen: Nun war es nicht mehr nur der dreadbelockte Flüchtlingsaktivist im schwarzen Autonomenlook – aus Erfahrung auf Krawall gebürstet –, der Geflüchtete zu Jobcentern oder anderen Behörden begleitete. Sondern Lehrer*innen, Bankangestellte, der pensionierte Richter. Der dann bald sah, dass der Ethnologiestudent ja recht hatte: Tatsächlich wurden die Neuankömmlinge dort oft unfreundlich behandelt, schlecht oder gar nicht beraten, Recht gern mal zu ihren Ungunsten ausgelegt. Das ging doch so nicht!
Die Geflüchteten wollen ankommen
Und die Entrüstung dieser gutbürgerlichen neuen Flüchtlingshelfer zeigte Wirkung: Ämter gründeten Arbeitskreise zur schnelleren Integration der Geflüchteten, Jobcenter schufen neue Abteilungen für ihre Betreuung und stellten dafür neues Personal, oft mit eigenem Migrationshintergrund ein. Sogar die Live-Übersetzung vom Arabischen, von afrikanischen oder afghanischen Sprachen ins Deutsche per Telefon war plötzlich möglich. Neue Hilfs- und Beratungsnetzwerke entstanden, Arbeitgeberverbände, Handels- und Handwerkskammern mischten mit. Sie alle hatten eins verstanden: Die Geflüchteten wollen ankommen, wollen Deutsch lernen und arbeiten – und: Sie werden gebraucht.
Das lag aber natürlich nicht nur am Einsatz der Helfer*innen. Es lag auch am durchaus selbstbewussten Auftreten vor allem der syrischen Geflüchteten, die oft aus der Mittel- und Oberschicht stammten, gut ausgebildet und wohlhabend waren, und keineswegs bereit, sich gefallen zu lassen, was früheren Flüchtlingen aus arabischen Ländern in Berlin – man kann es nicht anders formulieren – angetan worden war.
Warum bitte schön sollten Englisch, Französisch oder Spanisch als Zweitsprache prima, Arabisch aber ein Problem sein? Selbstverständlich sollen ihre Kinder Deutsch lernen. Aber eben auch das Arabische nicht vergessen, so die Haltung vieler Neu-Berliner Syrer*innen. Siehe da: Seit 2015 gibt es Arabischunterricht an einigen Berliner Grundschulen.
Syrische Geflüchtete gründeten in den vergangenen fünf Jahren Radiosender, Zeitschriften, Literaturcafés, Lesebühnen. Sie machten sich als Unternehmer*innen selbständig und legten auch dabei ein anderes Selbstbewusstsein an den Tag als die lange vor ihnen gekommenen palästinensischen Flüchtlinge, die damals nicht mit Deutschkursen, mehrjährigen Aufenthaltserlaubnissen und Unternehmerworkshops der IHK empfangen, sondern vom Arbeitsmarkt ferngehalten worden waren: keine verhuschten Imbissbuden, sondern prunkvolle Konditoreien eröffneten die Syrer etwa an der Sonnenallee, die sich flugs von der No-Go-Area zur Touristenattraktion mauserte.
Ja, die Geflüchteten haben die Stadt verändert und werden das weiterhin tun. Sie sind schon jetzt unsere Ingenieurinnen und unsere Elektriker, unsere IT-Expertinnen, Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen. Und unsere Ärzte: Auch wenn das Amt, das für Geflüchtete längst nur noch bei der Anerkennung von Medizinerausbildungen zuständig ist, ihnen dabei bis heute gerne Steine in den Weg legt. Sie ahnen es – es ist das Lageso.
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