Geflüchtet und gestrandet auf Zypern: In der Sackgasse
Muhammed kam aus Syrien nach Zypern. Im Lager wartet er auf Anerkennung als Flüchtling. Doch Zypern ist nicht im Schengenraum. Mitteleuropa? Wohl unerreichbar.
H ierher bin ich alleine aus Nigeria gekommen. Ich habe schon Asyl beantragt und warte auf eine Entscheidung.“ Die Frau, die Mary genannt werden will, auch wenn das nicht ihr richtiger Name ist, hat dunkle, sorgfältig gepflegte Haare, ist 24 Jahre alt und erst kürzlich aus einem Dorf im Osten Nigerias aufgebrochen. Mary, die als Beruf „Friseurin“ angibt, hat ihr Ziel erreicht: die Insel Zypern, genauer gesagt den südlichen, vornehmlich griechisch besiedelten Teil. Ein Stück Europa.
Mary macht sich keine Illusionen, „ich werde wohl eine Weile hier bleiben müssen“. Hier, das sind vorgefertigte Wohncontainer, häufig zwei übereinandergestapelt, dazwischen betonierte Höfe. Und sehr viele von Stacheldraht gesäumte Zäune. Eine meterhohe Sperranlage zieht sich nicht nur ums Lager herum, auch im Innern sind einzelne Zonen durch Zäune und Stacheldraht voneinander abgetrennt.
Andri Haradschi arbeitet in der Leitung des Lagers Pournara und erklärt die vielen Zäune: „Die Absperrungen separieren die Betroffenen in verschiedene Bereiche. Nicht jedem ist es erlaubt, nach Belieben in jedem Areal zu übernachten. Nachts werden die Zäune geschlossen, jeder muss in seinem Areal sein. Wir versuchen, Menschen, die kulturell oder von der Religion her zueinander passen, in eine Zone zu bringen.“ Sie haben da so einige Erfahrungen, auch schlechte. Erst im November gab es Kämpfe zwischen afrikanischen und syrischen Camp-Bewohnern. Die Polizei setzte Tränengas ein, um die Gruppen auseinanderzutreiben.
Mary wohnt in einer sogenannten Safe Zone, einem abgetrennten Bereich innerhalb des Lagers, wo der Zutritt durch andere Migranten besonders kontrolliert wird. Es gebe vier solche Safe Zones, in denen allein reisende Frauen, Familien und unbegleitete Minderjährige untergebracht sind, erklärt Haradschi.
932 Menschen beherbergt das Aufnahmelager Pournara an diesem Mittwoch Mitte Dezember. Erst in der letzten Nacht sind 170 hinzugekommen, darunter 46 Minderjährige, 27 davon unbegleitete Kinder. Die zypriotische Küstenwache hat sie am Vortag östlich der Insel auf drei kleinen Kuttern ausgemacht und an Land gebracht. 1.000 Personen beträgt die Kapazität des Lagers. Es fehlt nicht mehr viel bis zur Überfüllung. Auch damit haben sie hier Erfahrung: Es gab Zeiten, da waren schon 3.000 Migranten in Pournara hinter Stacheldraht zusammengepfercht.
Es ist nicht so, als würde es dort an essenziellen Daseinsdingen mangeln. Es gibt Toiletten und Sanitäranlagen. Die Wege sind ordentlich betoniert, die Fertighäuser halten dem Winterregen stand. Es arbeiten hier Sozialarbeiter und Psychologen. Personal der europäischen Grenzagentur Frontex nimmt Fingerabdrücke, andere nehmen Asylanträge an, neu Ankommende müssen durch einen Gesundheitscheck.
Aber Pournara ist doch ein großes Gefängnis. Nach etwa einer Woche sei das Procedere der Erstaufnahme abgeschlossen und die Menschen könnten das Lager verlassen, berichten die zypriotischen Betreuerinnen. Doch nicht immer geht es so rasch. In der Vergangenheit waren viele Migranten dort Monate lang interniert, schreibt das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Auch die Kinder leben hinter Stacheldraht, ohne Schulunterricht. „Es gab einige Verzögerungen, ja. Aber inzwischen geht es schneller“, sagt Haradschi.
In der Nähe von Marys Safe Zone steht eine Gruppe junger Männer zwischen den vorgefertigten Baracken. Sie kommen aus Syrien. Einer, der hier Muhammed heißen soll, berichtet, dass er und die anderen seit 15 Tagen hier seien. Sie wären mit einem Boot aus der syrischen Hafenstadt Tartus abgereist. „Wir sind alle zusammen gekommen“, sagt Muhammed und zeigt auf die Umstehenden. Was ihr Ziel sei? „Ich will nach Holland“, sagt einer, „ich habe einen Bruder in Berlin“, ergänzt ein anderer.
Auch Mary aus Nigeria will nicht auf Zypern bleiben. „Ich möchte gerne nach Europa. Vielleicht nach Deutschland“, sagt sie. Doch sie alle, egal ob Syrer, Nigerianer, Pakistanis oder Inder, die im Lager Pournara mitten in einer staubigen und baumlosen Ebene leben, links die Autobahn, rechts ein militärisches Sperrgebiet, eint ein Problem: Sie werden Mitteleuropa wahrscheinlich niemals erreichen. Mary, Muhammed und die anderen Neuankömmlinge wissen nur noch nicht, dass ihre Schlepper sie belogen haben. Sie sind zwar in der Europäischen Union. Doch von der Insel führt kein Weg nach Mitteleuropa.
Nur etwa zwei Prozent aller Menschen, die auf Zypern einen Asylantrag stellen, werden als Flüchtlinge anerkannt. Das hängt vor allem mit den Herkunftsländern zusammen. Viele Menschen kommen aus Syrien, sie erhalten zwar internationalen Schutz und werden damit nicht in die Heimat zurückgeschickt. Aber mit diesem Status ist es ihnen nicht möglich, Zypern auf legalem Weg zu verlassen, auch nicht in andere EU-Staaten.
Die Mittelmeerinsel zählt nicht zu den Schengenstaaten, zwischen denen Personenkontrollen in der Regel aufgehoben sind. Wer am Flughafen Larnaka eine Maschine nach Mitteleuropa besteigen möchte, benötigt einen Pass und ein Schengenvisum. Andere Flüchtlinge kommen aus Ländern, wo eine politische Verfolgung schwer nachweisbar ist, wie etwa Ägypten oder Pakistan, und werden deshalb nicht als Flüchtlinge anerkannt.
Deshalb sei Zypern eine Sackgasse, sagt der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Nikosia, Hubert Faustmann. Und diese Sackgasse ist keine schöne, von blühenden Vorgärten gesäumte Straße, in der es sich in hübschen Häusern gut leben ließe, sondern ein dorniger Weg, gepflastert mit Verboten und Verordnungen.
Seit Kurzem ist es verboten, in den ersten neun Monaten nach Asylantragstellung zu arbeiten. Die Sozialhilfe für Asylbewerber liegt deutlich unter der Summe, die anerkannte Flüchtlinge erhalten. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR beklagt fehlende Unterkunftsmöglichkeiten. Asylbewerber müssten bisweilen in Abbruchhäusern oder völlig überfüllten Zimmern leben, verlassen sie das Erstaufnahmelager Pournara. Andere bringt der Staat in verlassenen Hotels unter.
Menschenrechtsorganisationen wie die Gruppe Kisa in Nikosia werfen der Regierung ein „diskriminierendes und rachsüchtiges Procedere“ im Umgang mit den Asylbewerbern vor. Das UNHCR in Nikosia zeigte sich im letzten Sommer „extrem betroffen“ davon, dass Zypern mehr als 100 syrische Staatsangehörige ohne nähere Untersuchung in den Libanon abschob. Zudem beklagt es fehlende Anstrengungen zur Integration von Migranten auf der Insel.
Die Touristen aus Mitteleuropa, die an den zypriotischen Sandstränden von Ayia Napa urlauben, wohnen Lichtjahre entfernt vom Lager Pournara, gelegen in der Nähe eines Industriegebiets am Rande von Nikosia, weit weg vom Meer. Und die Migranten dort werden die Luxushotels der Touristen nie als Gäste betreten können – aber vielleicht als Arbeiter auf dem illegalen Arbeitsmarkt.
Nun ist Zypern zwar keine ganz kleine Insel, aber dennoch leben in der Republik nur rund 900.000 Menschen. Politiker in Nikosia beklagen, dass das Land mit der Migrantenzahl überfordert wäre. Tatsächlich verzeichnet Zypern gemessen an der Einwohnergröße die höchste Zahl an Asylbewerbern innerhalb der EU. 2022 waren es nach Angaben des UNHCR mehr als 21.000 Menschen und damit so viele wie nie zuvor – und die Flüchtenden aus der Ukraine sind nicht mitgezählt.
Umgerechnet auf Deutschland wären das knapp zwei Millionen Neuankömmlinge. Im letzten Jahr ist die Zahl etwas gesunken, aber auch da lag sie bis September bei mehr als 9.000 Personen. Die Regierung bezifferte die Kosten für das Jahr 2024 jüngst gegenüber dem Parlament auf voraussichtlich 276,4 Millionen Euro. Das ist für ein so kleines Land eine gewaltige Summe.
48 Asylbewerber von Zypern nach Deutschland
Ein „objektives Problem“ nennt Faustmann von der Ebert-Stiftung deshalb die hohe Migrantenzahl. Die Tatsache, dass die Menschen in aller Regel keine Möglichkeit haben, nach Mitteleuropa weiterzuwandern, verschärft dieses Problem noch. Nur in seltenen Fällen übernehmen andere EU-Partner eine kleine Zahl Migranten, so wie Deutschland Ende 2022. Damals kamen 48 Asylbewerber aus Zypern einschließlich ihrer Familienangehörigen in die Bundesrepublik.
Am nördlichen Rand von Pournara, dort wo die Neuankömmlinge der vergangenen Nacht leben müssen, sind Bauarbeiten im Gang. Arbeiter stapfen durch den vom Regen durchweichten Boden. Die Kapazität des Lagers soll auf 2.000 Menschen verdoppelt werden. Gleich dahinter endet das Einflussgebiet der Republik Zypern. Eine von UN-Blauhelmsoldaten kontrollierte Pufferzone grenzt das Land von dem Gebiet ab, das türkische Truppen vor knapp 50 Jahren erobert haben. Dort leben die türkischen Zyprioten in einem Staat namens „Türkische Republik Nordzypern“, der nur von der Türkei anerkannt ist. „Pseudostaat“, so nennen viele griechischen Zyprioten das Gebilde abschätzig.
In Nikosia zieht sich die Pufferzone quer durch die Altstadt. Angerostete Schilder verweisen auf das Betretungs- und Fotografierverbot. Mit Zement gefüllte Öltonnen, Sandsäcke und Stacheldraht ergeben ein undurchdringliches Dickicht, durch das nur Katzen hindurchschlüpfen können. Ein paar Meter dahinter weht die weiß-rote Flagge Nordzyperns. An der Ledra-Straße steht ein Häuschen der zyperngriechischen Polizei an einem Checkpoint. Die Kontrollen sind lasch. Viele Zyperntürken arbeiten im wohlhabenderen griechischen Süden und wohnen im Norden.
Aber nicht alle Menschen stellen sich an einem der Checkpoints entlang der Demarkationslinie Zyperns an, um von der einen auf die andere Seite zu wechseln. Die allermeisten Migranten, die die Republik Zypern im Süden und damit vermeintlich Europa erreichen, kommen nämlich nicht auf klapprigen Booten über das Mittelmeer, aus dem nahen Syrien, dem Libanon oder der Türkei. Sie nehmen den weitaus ungefährlicheren Weg durch die Pufferzone.
Menschen, die geholfen haben
Auch Mary aus Nigeria hat diesen Weg gewählt. Sie erzählt: „Ich bestieg ein Flugzeug in die Türkei. Von dort bin ich nach Nordzypern geflogen. Dann durch die Pufferzone. Ich war achteinhalb Tage unterwegs. Es gab Menschen, die geholfen haben.“ 250 Euro, so berichtet Mary, habe sie ihrem Schlepper für den Transit von Nord- nach Südzypern bezahlt. Das scheint der derzeit gültige Tarif zu sein, denn die Zahl wird von anderer Seite bestätigt. Es ist wohl eine der kleineren Summen, die für die Reise nach Europa aufgebracht werden müssen. Die zyperntürkischen Helfer wählen dabei nicht den Weg durch das dicht bebaute Gebiet von Nikosia, sondern bringen ihre menschliche Fracht in dünn besiedelten Regionen über die Demarkationslinie.
Nun könnte man natürlich fragen, warum die griechischen Zyprioten ihr Land nicht ordentlich überwachen, ein paar hundert Grenzer mehr an die Pufferzone stellen und damit dafür sorgen, dass sie sich nicht länger über die vielen Migranten beklagen müssen. Aber so einfach ist die Angelegenheit nicht. Denn den Insel-Griechen gilt der Norden als besetztes Gebiet.
Die Demarkationslinie intensiver zu bewachen hieße, diese als Grenze anzuerkennen und so den Status Nordzyperns aufzuwerten. „Wir wollen dort nicht so strenge Kontrollen durchführen wie an einer Grenze“, sagt anonym ein hoher Regierungsbeamter in Nikosia. „Unser Ziel ist schließlich die Wiedervereinigung.“
Das sieht die Europäische Union ganz ähnlich. Als Zypern 2004 EU-Mitglied wurde, da galt dies für die gesamte Insel einschließlich Nordzypern, auch wenn weder die EU noch die griechischen Zyprioten dort etwa zu sagen haben. Deshalb gilt das EU-Regelwerk für den Norden als derzeit ausgesetzt.
Und deshalb ist die Demarkationslinie auf Zypern, die faktisch eine EU-Außengrenze ist, auch wenn sie dies völkerrechtlich nicht ist, bemerkenswert unkontrolliert. „Sie stellt damit einen der ganz wenigen Orte dar, von dem man gefahrlos nach Europa einreisen kann, ohne etwa in einem Boot auf hoher See sein Leben zu riskieren“, sagt Hubert Faustmann.
Nordzypern ist noch kleiner als die griechische Republik im Süden, nach Regierungsangaben leben dort gut 380.000 Menschen. Dafür kann das Land für sich in Anspruch nehmen, über eine besonders hohe Dichte an Hochschulen zu verfügen. 23 Universitäten wetteifern um bildungshungrige junge Menschen. Mehr als 100.000 Studierende werden gezählt, viele von ihnen kommen aus der Türkei und aus Ländern des Südens. Es heißt, hier sei ein Abschluss leichter zu erreichen als anderswo. Es heißt auch, dass viele von ihnen in Wahrheit auf dem illegalen Arbeitsmarkt tätig sind und Hungerlöhne erhalten.
Über die Demarkationslinie in den Süden
Einige Studenten kommen aber nicht, um zu lernen oder zu arbeiten. Nordzyperns Außenminister Tahsin Erturuloğlu bestätigt, dass diese angeben, eine Ausbildung an einer der Unis machen zu wollen. Tatsächlich aber nehmen sie gar kein Studium auf, sondern nutzen ihren Aufenthalt in Nordzypern, um über die Demarkationslinie in den Süden zu gehen und dort Asyl zu beantragen.
Deshalb haben Politiker in der Republik Zypern den Machthabern im Norden vorgeworfen, absichtsvoll dem Süden Migranten zuzuleiten, um das Land zu destabilisieren. Manche sprechen gar von einem hybriden Krieg der Türkei. Das weist Außenminister Erturuloğlu im Gespräch mit der taz zurück. Vielmehr sehe man diese Entwicklung durchaus als „Problem“. Man habe sich des Themas angenommen und werde verhindern, dass sich dies wiederhole. „Wir sorgen zusammen im der Türkei dafür, dass nur wirkliche Studenten hierher kommen dürfen, nicht Menschen, die nur behaupten, Studenten zu sein.“
Tatsächlich ist die Zahl der irregulären Einreisen von Nord nach Süd in jüngster Zeit gesunken, wie ein Regierungsvertreter der Republik Zypern erklärt. Offenbar hatte die Regierung in Nikosia die EU zuvor darum gebeten, gegenüber der Türkei deutlich zu machen, dass die Migration über Nordzypern beenden werden müsse.
Direkte Kontakte auf Regierungsebene zwischen Süd- und Nord-Nikosia bestehen nicht. Deshalb kann der Süden auch keine Migranten in den Norden abschieben. Die EU-Asylrechtsreform, die unter anderem vorsieht, die Abschiebung in sichere „Drittstaaten“ zu erleichtern, wird daher wohl wenig Folgen in Zypern haben.
Manch altgedientem Berliner mag das zypriotische Schlupfloch für Migranten an die Zeiten erinnern, als Berlin noch geteilt war. Damals konnten in den 1970er Jahren Menschen aus dem vom Bürgerkrieg gebeutelten Libanon über den Ostberliner Flughafen Schönefeld in die DDR einreisen. Von dort wurden sie zum Bahnhof Friedrichstraße in Ostberlin expediert, von wo sie gänzlich unkontrolliert in die U-Bahn stiegen und Westberlin erreichten.
Auf Zypern fehlt allerdings eine U-Bahn. Und das ist nicht der einzige Unterschied zur Lage in Berlin vor rund 50 Jahren. Jenseits der Pufferzone in der Republik Zypern erwartet die Migranten nicht die Freiheit, sondern der Stacheldraht um das Lager Pournara. Hier zerplatzen die Träume von einer guten Zukunft.
Mahmoud ist vielleicht 16 Jahre alt und kommt aus Syrien. Er habe alleine Zypern erreicht, sagt er. Mahmoud ist offensichtlich vom Lagerleben zermürbt. „Ich will nach Syrien zurück“, sagt er, als die Frauen von der Lagerleitung erscheinen. Warum? „Ich möchte wieder die Luft atmen. Ich will wieder frei sein.“ Der Junge erhält den Rat, sich ins Büro Nummer vier zu begeben. Es ist für Rückführungen zuständig.
Alle Namen von Migranten im Lager Pournara wurden auf Wunsch der zypriotischen Behörden geändert
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