Gefährlicher Irrweg: Europäische Atomwaffen sind ein permanentes Dilemma
Europa diskutiert über gemeinsame Nuklearwaffen. Doch die dadurch erhoffte Abschreckung ist unglaubwürdig – oder ein politischer Abgrund.

D ie Debatte über ein europäisches Atomwaffenarsenal – sei es eine erweiterte französische Abschreckung oder eine eigenständige europäische Nuklearstreitmacht – beruht auf der Annahme, dass Atomwaffen Sicherheit schaffen. Doch diese Strategie widerspricht sich selbst: Abschreckung funktioniert nur, wenn glaubhaft vermittelt wird, dass eine Regierung bereit ist, massenhaften Tod zu verursachen.
ist Advocacy Officer bei der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN). ICAN erhielt 2017 den Friedensnobelpreis für ihre Arbeit rund um den Atomwaffenverbotsvertrag.
Frankreichs Atomwaffen könnten nur abschreckend wirken, wenn Russland wirklich fürchtet, dass Paris im Ernstfall Millionen Menschen töten würde. Doch warum sollte Russland dann nicht ebenso bereit sein, Frankreichs Städte zu vernichten? Die Logik der Abschreckung funktioniert in beide Richtungen – sie macht niemanden sicherer. Zudem könnte Frankreich – anders als die USA – keinen nuklearen Erstschlag führen, ohne selbst vernichtet zu werden.
Russland verfügt über genug Waffen, um auf jede französische Attacke mit totaler Vergeltung zu reagieren. Damit wird eine französische „nukleare Schutzgarantie“ für Europa bedeutungslos. Wer glaubt, Paris riskiere sein eigenes Überleben, um Lettland oder Polen zu verteidigen, klammert sich an eine Illusion. Selbst wenn man Abschreckung als gegeben akzeptiert, bleibt ihr ethisches Dilemma bestehen: Sie setzt voraus, dass Staatsführungen glaubhaft signalisieren, ganze Bevölkerungen auslöschen zu können.
Regierungen, die auf Abschreckung setzen, müssen aktiv an der Glaubwürdigkeit dieser Drohung arbeiten – sie müssen sich als fähig und willens zum Massenmord zeigen. Atomwaffen sind keine „strategische Versicherung“, sondern ein permanentes Dilemma. Entweder bleibt ihre Drohung unglaubwürdig – dann nützen sie nichts. Oder sie ist glaubwürdig – dann ist sie ein moralischer und politischer Abgrund. Eine europäische Nuklearstreitmacht ändert daran nichts. Wer Europas Sicherheit ernsthaft stärken will, sollte nicht auf neue Abschreckungskonzepte setzen, sondern konsequent Abrüstung und kollektive Sicherheit voranbringen.
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