Geduldete Geflüchtete in Hannover: Wohlwollen im Amt
Ein Projekt in Hannover hat im vergangenen Jahr 139 Geflüchteten mit Duldung ein Bleiberecht verschafft. Voraussetzung war auch der Wille der Behörde.
Eine Duldung haben Menschen, die keinen anderen Titel erhalten, gegen deren Abschiebung aber aktuell Gründe sprechen – familiäre oder gesundheitliche zum Beispiel. Meist gilt sie ein paar Monate, kann aber verlängert werden. Viele dürfen in der Zeit nicht arbeiten. Um mehr Menschen aus dem prekären Status der Duldung heraus zu helfen, gibt es das Projekt „Wege ins Bleiberecht“ (WIB).
Finanziert wird es seit Mitte 2019 vom Sozialministerium des Landes, seit gut einem Jahr ist Hannover als erste Kommune dabei. In der Landeshauptstadt lebten damals 1.207 geduldete Menschen – die Hälfte von ihnen seit sechs oder mehr Jahren. 139 von ihnen haben nun im ersten Jahr ein Bleiberecht erhalten.
„Teils durch die Prüfung von Bleiberechtsmöglichkeiten durch die Landeshauptstadt Hannover, teils durch die Beratungen im Rahmen des Projekts“, teilte der Flüchtlingsrat am Montag mit, der die Kooperation mit der Stadt initiiert hatte. Sein Ziel formulierte er schon zu Projektbeginn: „Die Zahl der Langzeitgeduldeten in Niedersachsen um mindestens 30 Prozent absenken“. Seit Mai dieses Jahres macht auch Göttingen mit, sagt Schießl, Oldenburg folge bald.
Sascha Schießl, Flüchtlingsrat Niedersachsen
Man wolle „nicht ganz viele Kommunen“ dazu holen, erklärt Schießl weiter, sondern „modellhaft versuchen, übergeordnete Lösungswege zu erarbeiten“, wie Menschen mit einer Duldung zu einem Bleiberecht kommen können. Gemeinsam mit dem Sozial- und Innenministerium des Landes wolle man den Ausländerbehörden die Ergebnisse an die Hand geben.
Konkret sah das Erfolgsrezept in Hannover so aus: Die Ausländerbehörde habe die Akten der Menschen mit Duldung gesichtet und kategorisiert, sagt Schießl. Nach und nach seien die Betroffenen angeschrieben und auf das Beratungsangebot von verschiedenen Stellen hingewiesen worden. Beratungsstelle und Betroffene*r hätten dann die Möglichkeiten ausgelotet und den Fall der Behörde vorgestellt. Gemeinsam habe man geschaut, ob und wie die Person zu einem sicheren Aufenthaltstitel kommen könnte.
Die Wege dahin sind vielfältig und kompliziert, die Hürden ebenso. „Zumal das Recht in den letzten Jahren immer wieder geändert wurde“, sagt Schießl. Eine große Hürde sei für manche der Nachweis ihrer Identität. Dafür braucht es einen Pass. „Doch einige Länder wie Liberia oder Sudan haben die nächste Vertretung in Brüssel.“ Ausreisen dürften Menschen mit Duldung aber nicht. Eine oftmals festgefahrene Situation.
Ausländerbehörde, Betroffene*r und Beratungsstelle hätten dann gemeinsam geplant, auf welchem Wege der Pass am besten besorgt werden kann, was für den Antrag alles vorliegen muss. „Dann muss man genau planen, wann die Dokumente für die kurzfristige Ausreise der Person ausgestellt werden“, erklärt Schießl.
Solche Prozesse seien vor dem Projekt oft liegen geblieben, sagt er. Die Betroffenen wüssten zwar, dass sie ihre Identität nachweisen müssen, aber oft eben nicht, wie. Schwierig werde es auch, wenn sie Vollzeit arbeiten und ohnehin Schwierigkeiten haben beim Zugang zum bürokratischen System.
Das beschriebene Vorgehen erfordere auch von den Betroffenen großes Vertrauen, sagt Schießl – denn ein Pass sei nicht nur Voraussetzung für einen sicheren Aufenthaltstitel, sondern auch für eine Abschiebung.
Ein anderer Weg zum Bleiberecht ist ein fester Job. Auch hier habe die Behörde Spielraum, um zu entscheiden, welche Arbeit für den Titel reicht. Ebenso wie beim Nachweis sogenannter Integrationsleistungen.
Für Claire Deery, Vorsitzende des Flüchtlingsrats Niedersachsen, ist das Besondere des Projektes unter anderem die „wohlwollende Haltung der Ausländerbehörde“. Dieses Wohlwollen, so Schießl, meint erst einmal die Haltung, möglichst vielen Menschen mit Duldung einen sicheren Titel geben zu wollen. „Es gibt Behörden, die diese Absicht nicht haben.“ Weitergehend meine das auch die Bereitschaft, die rechtlichen Handlungsspielräume zu nutzen. Das passiere, sei aber nicht immer einfach. „Ringen und diskutieren“ gehöre laut Schießl dazu.
Gerne würde der Füchtlingsrat das auch weiterhin machen. Derzeit sei er im Gespräch mit dem Land darüber, das Projekt zu verstetigen, sagt Schießl. Denn im nächsten Sommer läuft es bereits aus. „Über die Fortsetzung wird im nächsten Jahr zu entscheiden sein“, sagt eine Sprecherin des Ministeriums. Anfang des Jahres werde man daher „Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden führen“.
Flüchtlingsrat will liberaleres Aufenthaltsrecht
Der Flüchtlingsrat versuche mit dem Projekt, so Schießl, innerhalb des aktuellen Rechtsrahmens Betroffenen zu helfen, die seit Jahren unter der prekären Situation leiden. Er bekämpft damit aber vor allem die Symptome des aktuellen Aufenthaltsrechts. „Das Recht muss grundsätzlich anders werden“, fordert Schießl daher. Einfacher, und vor allem liberaler. So sollten zum Beispiel alle Menschen, die hier geboren werden, ein voraussetzungsloses Bleiberecht haben; ebenso alle, die seit einem Jahr hier leben. „Wenn das Recht liberaler wäre, wäre so ein Projekt überflüssig.“
Mit dem Wunsch ist der Flüchtlingsrat nicht allein. Die niedersächsische Landtagskommission zu Fragen der Migration und Teilhabe hat im März ein Papier beschlossen, in welchem sie die Landesregierung auffordert, sich auf Bundesebene für eine Liberalisierung einzusetzen. In dem Entwurf enthalten ist unter anderem ein Aufenthaltsrecht für alle, die seit fünf Jahren in Niedersachsen leben, oder auch eine Senkung der Anforderungen an Einkommen, Sprachkenntnisse und Identitätsnachweise.
Ein Bleiberecht ist das Ziel vieler Menschen mit Duldung. Doch selbst das könne auch wieder entzogen werden, so Schießl. Zum Beispiel, wenn es dank einer Arbeit erteilt wurde, die die Person – vielleicht sogar unverschuldet – wieder verliert. „Man befindet sich weiterhin in einer Abhängigkeit. Aber immerhin schützt es vor Abschiebung.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen