Gedruckte Zeitungen: Tod eines Kulturguts
Printzeitungen sterben, und der Demokratie geht es auch nicht besonders gut. Möglicherweise hat das eine doch etwas mit dem anderen zu tun.
Z eitungen sind unabdingbar für alle Arten von Regierungen in der Neuzeit. Es sind zunächst Anweisungen der Obrigkeit an die Untertanen. Und Zeitungen wurden immer mehr auch zu Echokammern. Der Fürst erfährt hier, was das Volk denkt (jedenfalls solange er die Zeitung nicht verbieten lässt), und das Volk erfährt hier, was der Fürst denkt (oder jedenfalls was es von den Gedanken des Fürsten halten soll). Zeitungen wurden zum Instrument der Unterdrückung und zum Instrument des Widerstandes. Und nicht zuletzt wurden Zeitungen zu semiotischen Maschinen. Sie berichten und kommentieren nicht nur, sie erschaffen auch die dafür notwendige Sprache. Wir verlangen nach Zeitungen, die sprechen wie wir, und wir sprechen wie unsere Zeitungen.
Aber Zeitungen sind nicht nur ein Kommunikationsmittel zwischen Regierung und Gesellschaft, das Mittel, mit dem man sich gnädig belügt und mit dem schmerzhafte Wahrheiten verbreitet werden. Sie wurden auch zu einer bedeutenden Kulturtechnik. Während man zeitungsförmig miteinander kommuniziert, lernt man auch, mit Zeitungen umzugehen. Kritisch und alltäglich. Denn im Gegensatz zum Blick auf das Smartphone ist das öffentliche Zeitunglesen quasi melodramatisch.
Es besetzt einen Teil im öffentlichen Raum, und wie einer faltet und die andere hinlegt, wie man von hinten nach vorn oder in der Mitte beginnt, wie man in die Zeitung des Nachbarn schielt oder wie man zur Zweitleserin wird, all das sind – oder waren – Rituale des Alltagslebens, Charakterstudien, Schauspiele. Von den Spionen ganz zu schweigen, hinter einem Mobiltelefon kann man keinen Schlapphut verbergen.
Und dann die Kioske und die Läden, in denen man Zeitungen gekauft hat. Stapelweise oder aufgehängt; es waren die Kioske, die einst Straßenblocks strukturierten und an denen herumgestanden wurde. Abends in den Kneipen konnten sich Leute mit dem Verkauf der gerade frisch gedruckten Zeitungen etwas Geld verdienen. Schon die Automaten, an denen die Menschen sich mit gedruckten Nachrichten für die U-Bahn-Fahrt versorgten, waren da ein Einschnitt in der urbanen Geschichte der Zeitung und des Zeitunglesens.
Machen wir uns nichts vor. Mit dem Verschwinden der gedruckten Zeitung wandern nicht einfach nur die Nachrichten von einem Medium ins andere, sie verändern ihr Wesen, und das meint nicht nur die wachsenden Schwierigkeiten, diese gottverdammten Werbungen zwischen den Absätzen wegzuklicken. Es verschwindet auch eine Art, mit Nachrichten öffentlich umzugehen, und es verschwindet eine Art, wie Nachrichten im öffentlichen Raum unterwegs sind. Die Nachrichten sind jetzt noch mehr Privatsache geworden, und noch weniger gehören sie zu einer mehr oder weniger fixen Position im endlosen Dialog zwischen der Regierung und den Regierten.
Eine Zeitung übte auf haptische Weise Macht aus
Es gab Zeitungen, die ließen ihre Leserinnen und Leser spüren, was das bedeutet, dass wir, die Leute, der eigentliche Souverän sind in einem demokratischen Staat. Eine Zeitung schien etwas, das auf eine haptische, materielle und so oder so moralische Weise die Macht ausdrückte. Und den Kampf um sie.
Als Element von Kritik und Kontrolle waren Zeitungen ein wichtiger Bestandteil der Gewaltenteilung in der Demokratie. Allerdings funktionierte das nie so, wie man es sich als aufklärerisches Ideal vorstellen konnte. Denn im mehr oder weniger goldenen Westen musste die Presse im Allgemeinen, die Zeitung im Besonderen immer auch einen weiteren Widerspruch ausdrücken, nämlich den zwischen Demokratie und Kapitalismus. Die Nachricht war immer zugleich Botschaft und Ware. Und eine Zeitung war immer auch eine soziale Waffe. Man konnte Kriege und Bürgerkriege damit anzetteln, Stimmungen mehr in die fortschrittliche oder in die konservative Richtung lenken oder einfach bösartigen Blödsinn verbreiten.
Es kommt auf den Markt an, und mehr noch kommt es auf die Macht an, die sich ein paar Leute auf ihm erobert haben. Vor der Pressekonzentration wurde einst gewarnt; heute kann man sich allenfalls fragen, ob es eine besonders gute Idee für die Demokratie ist, die Information der Bevölkerung ein paar Superreichen und Konzernen zu überlassen, die an Profiten so viel Interesse haben wie an Propaganda für Verhältnisse, die sie reich und mächtig gemacht haben.
Notgedrungen drückten Zeitungen schließlich neben dem Widerspruch zwischen Regierung und Regierten und dem zwischen Demokratie und Kapitalismus auch den Widerspruch zwischen demokratischer und populistischer Teilhabe aus. Lange bevor es den rechtspopulistischen und rechtsextremen Bewegungen und Parteien gelang, in die Vorhöfe der Macht vorzudringen, hatten die Zeitungen – oder ein Typus von Zeitung immerhin, so zwischen Bild und The Sun – verstanden, ein Drama der Konkurrenz zwischen den liberalen „Eliten“ und der „Stimme des Volkes“ zu entwickeln. Und auch da hatten Zeitungen als Schöpfer von Sprache und Begriffen gewirkt. Die Sprache der AfD, nur als Beispiel, ist ohne die Sprache der Bild-Zeitung nicht vorstellbar.
Akzelerierter Strukturwandel
Um Nostalgie geht’s beim Tod der Zeitungen also eher weniger. Was das anbelangt, werden wir uns alte Filme mit warmem Behagen anschauen, in denen Leute sich Zeitungen am Kiosk kaufen oder hastig durch eine Zeitung blättern, auf der Suche nach der alles entscheidenden Nachricht. Oder der hyperbedeutsamen Kritik, so wie wir heute alte Filme lieben, in denen Kriminalkommissare im Straßeneinsatz zum Telefonieren in eine Bar gehen mussten.
Es geht um die Erkenntnis, dass wir es womöglich nicht bloß mit einem Medienwechsel (wie von einer VHS-Kassette zum Streaming) zu tun haben (was kulturell auch nicht unerheblich ist), sondern um einen akzelerierten Strukturwandel der Nachricht in Demokratie und Kapitalismus. Die Zeitungen sterben, der Demokratie geht es auch nicht besonders. Vielleicht hat das eine doch etwas mit dem anderen zu tun.
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