Gedenken an Massaker im Bosnienkrieg: Das Grauen an der Drina
Vor 30 Jahren ertränkten serbische Freischärler Tausende bosnische Muslime im Fluss Drina. Damals vergewaltigte Frauen suchen heute nach Gerechtigkeit.
Inzwischen haben zwar Hunderttausende Besuchern den herrlichen Blick auf die 1572 von Großwesir Mehmed-paše Sokolovića geschaffene Brücke genossen, haben die stabilen und eleganten Pfeiler der Brücke bewundert, die allen Hochwassern der Jahrhunderte getrotzt haben. Viele haben das Buch von Ivo Andrić „Die Brücke über die Drina“ verschlungen, für das der bosnisch-jugoslawische Schriftsteller 1961 den Literaturnobelpreis erhalten hat.
Doch für die am Samstagvormittag angereisten rund 300 Menschen ist der Blick von der Brücke in das reißende, grünlich schimmernden Wasser der Drina ein Blick in den Abgrund. „Mein Mann hat sich damals geweigert zu fliehen, er wurde hier auf der Brücke erschossen und dann in den Fluss geworfen.“ Weitersprechen will die Frau nicht, die merklich versucht, die Fassung zu wahren.
Das Grauen für die 21.000 Einwohner der Gemeinde samt der Kleinstadt und den umliegenden Dörfern begann während des Bosnienkriegs, als serbische Freischärler der Gruppe „Weiße Adler“ im Mai 1992 in der von der serbisch-jugoslawischen Armee eroberten Stadt ein Terrorregime etablierten. Zwei Drittel der Einwohner gehörten der muslimischen Bevölkerungsgruppe an. Wer von ihnen nicht geflohen war, verlor all seine Rechte und seine Arbeit. Aus Serbien stammende Freischärler und lokale Serben raubten ihre Häuser aus und vergewaltigten.
Es begann die blutige Willkürherrschaft, der nach unterschiedlichen Angaben 1.600 bis 3.000 Menschen zum Opfer fielen. Mehr als tausend Männer wurden tot oder noch lebendig, gefesselt in den Fluss geworfen, ertranken oder wurden noch am Ufer erschlagen.
Zwei Jahre Martyrium
„Wenn ein Mensch getötet wird, dann ist es ein Mord, wenn Tausende ermordet werden, dann ist es nur eine Zahl“, sagte vor Kurzem der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Sarajevo Jakob Finci und meinte damit, dass man das Unfassbare nicht in Zahlen ausdrücken kann. An diesem Samstag versucht Bakira Hasečić in ihrer Rede bei der Gedenkveranstaltung unter der heißen Junisonne, das Grauen für alle Anwesenden in Worte zu fassen.
Die jetzt wohl 69-Jährige erlitt ihr eigenes Martyrium. Denn sie gehörte damals zu den Frauen und Mädchen, die in das Hotel Vilina Vlas verschleppt wurden. Über zwei Jahre lang war sie Vergewaltigungen ausgesetzt, manche der Frauen und Mädchen begingen damals Selbstmord. Bakira überlebte und gründete nach dem Krieg in Sarajevo den Verein „Frauen als Kriegsopfer“.
Kurz nach dem Krieg hatte sie drei ihrer Peiniger auf der Straße wiedererkannt. Seither ermutigt der Verein Folter- und Vergewaltigungsopfer, über ihr Schicksal zu sprechen. Bis heute sammelt sie Beweise und versucht den Aufenthaltsort der Täter herauszufinden. Einige der von ihrem Verein erkannten Vergewaltiger konnten von der gesamtstaatlichen bosnischen Polizei Sipa verhaftet und der Justiz übergeben werden.
Die Anwesenden wissen, dass die Behörden der serbischen Teilrepublik, in der auch die Kleinstadt Višegrad liegt, alles tun, um diese Aufklärungsarbeit zu blockieren. Doch die bosnisch-serbische Polizei hat dieses Jahr darauf verzichtet, die anrollenden Busse vor der Stadt aufzuhalten. Noch vor fünf Jahren wurden serbische Veteranen des „Kriegs“ in Višegrad provokativ geehrt und die Polizei ließ Tschetnikgruppen grölend durch die Stadt marschieren.
Urlaub im Hotel des Schreckens
Am Samstag standen sogar freundliche serbische Polizisten am Straßenrand. Unter Polizeischutz gingen die Trauernden zu dem Haus in der Pionirska-Straße, wo die serbischen Freischärler damals um die 70 Menschen eingeschlossen und das Gebäude angezündet hatten. Dort angekommen herrschte drückendes Schweigen.
Das einige Kilometer entfernt liegende Vilina Vlas, wo damals so viele Frauen und Mädchen vergewaltigt wurden, liegt umgeben von Wald oberhalb des Flusses in einer idyllischen Landschaft. Heute wird das Hotel weiterhin gebucht, und das obwohl die Räumlichkeiten seit diesem Grauen nicht einmal umgebaut wurden. Wer kann hier wirklich ruhig schlafen?
Auf der Terrasse des Cafés und Restaurants gegenüber der berühmten Brücke beobachtet eine Gruppe serbischer Männern, alle um die 40 Jahre alt, muslimische Frauen, die wegen der Trauerfeier Kopftücher tragen und jetzt in die Busse steigen. Es sind Blicke aus Neugierde, nicht mehr aus Hass wie noch vor wenigen Jahren.
Ob sie wissen, warum diese Leute auf der Brücke waren? Sie antworten mit Achselzucken. „Das hat wohl mit dem Krieg vor 30 Jahren zu tun.“ Wissen sie wirklich nicht, was hier geschehen ist?
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