Gedanken zur Weltlage: Der Teppich, der Wurm und die Sneaker
Unterwegs in Paris erkennt unser Autor ein harmloseres Äquivalent zur Trump-USA. Und die eigene Komplizenschaft in der Verdrängung Marginalisierter.
V or ein paar Wochen war ich in Paris, kurz nach Olympia. Ich war gerade beim Friseur und habe neue Schuhe gekauft. Viel zu große Sneaker, schwer wie Öltanker. Sie halten den Boden unter meinen Füßen auf eine seltsame Distanz. Meine Frisur ist eine Mischung aus Straßenköter und Top-Gun-Pilot. Irgendwie cringe, aber es entfremdet mich ein bisschen von mir selbst, indem es mir eine Rolle als Träger eines modischen Kompromisses zuweist. Eine allgemeine Form als Tarnung?
Falls ja, sie hat nicht funktioniert. Bei meiner Ankunft am Bahnhof Gare du Nord stoppen mich schwer bewaffnete Polizisten. Während sie mich durchsuchen, bewundere ich die aggressive Geschwungenheit des Maschinengewehrs. Nach einigen Minuten lassen sie mich gehen und ich denke so: eigentlich auch eine Lektion in kritischer Männlichkeit: Sicherheit besteht auch darin, sich selbst als allgemeine Form zu sehen, die eine potentielle Gefahr darstellt.
Daran musste ich denken, als ein kleiner Mann zum US-Präsidenten gewählt wurde. Ich fühle alles und nichts. Ich bringe die Gefühle um mit Worten und kehre sie unter den Teppich. So wie der kleine Mann sich die Haare zurechtkämmt, um die kahlen Stellen zu verbergen. So wie ich mit meinem modischen Kompromiss.
Versuchen wir nicht alle ständig, die Lücke zu füllen zwischen dem, was wir denken, was sein soll, statt was ist? Wird die Wirklichkeit nicht stetig mit negativen Emotionen bombardiert – sodass sich alle aus den Trümmern eigene basteln? 8 Milliarden Wirklichkeiten – und die mit dem lautesten Twitter-Account oder größten Marketing-Etat triumphieren am Ende doch.
Was Massen überzeugt, sind keine Fakten, sondern die Konsistenz der Erzählung – egal wie gelogen sie ist, schrieb die Philosophin Hannah Arendt in den 60er Jahren. Ha, klingt wie 2024.
Das harmlosere Äquivalent
Auch das Seine-Ufer hat eine neue Erzählung, es wurde ebenfalls aufgeräumt wie der Bahnhof. Statt den Zelten der Unbehausten stehen Bars und sitzen Menschen vor Picknickdecken. Sie trinken Wein aus echten Gläsern. Vögel kreischen hämisch wie hoch gepitchte Beyoncé-Vocals, die Leute ownen ihre eigene Schönheit auf ihre diversen Weisen. Später schaltet die Sonne beim Untergehen auf das deepste Orange um, das ich je gefühlt habe, und alles glänzt. Die Stadt grinst mich an und ich grinse zurück, als wüsste ich nicht, dass sie mich verarscht.
Wie korrumpierbar ich bin, abseits der Wirklichkeit unter dem Teppich. Wie easy ich meine Komplizenschaft in der Verdrängung Marginalisierter ignoriere. Aber so ist das: Vielleicht heißt Macht heute auch, die Realität zu pervertieren. Die Politikvorhaben des kleinen Mannes, der seinen Haarausfall versteckt, und die Olympia-Doktrin sind sich ähnlich.
Könnte es sein, dass das Great-America-Projekt hier sein, wenn auch ungleich harmloseres Äquivalent am Seine-Ufer findet, wo ich auf den unsichtbaren Ruinen der sozialen Missstände flaniere und denken wollen soll: hach, Paris 2024.
Aber Moment, die Story geht noch weiter. Beim Verlassen des Ufers trete ich auf einen Wurm. Die Sohlen der Sneaker verhindern jedes Gefühl zum Boden, wie die SUVs, die vorbeirauschen. Scheiße, der ist jetzt tot, einfach so, umgebracht von einem achtlosen Säugetier.
Und jetzt? Fuck, ich weiß doch auch nicht. Aber eins auf jeden: Jeder zertretene Wurm ist ein Stern – es ist das unsichtbare Leid, das ihn scheinen lässt.
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