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Fußball-EM und NationalflaggenDer Fußballpatriot in mir

Patriotismus bei der Fußball-EM ist schlimm, weiß unser Autor selbstverständlich. Trotzdem lassen ihn die Nationalflaggen in seinem Kiez nicht kalt.

Deutschtürkischer Völkerverständigungsquatsch an einem Balkon in Berlin Foto: Steinach/imago

E s ist nicht leicht, dieser Tage als aufgeklärter Deutschtürke durch die Straßen zu gehen. Deutsche und türkische Flaggen hängen von Wohnungsfenstern runter, schmücken Schaufenster von Läden oder ragen in Miniaturform auf Automobilen. Überall konfrontieren sie einen mit der leidigen Frage, die einen schon seit der Geburt verfolgt: Fühlst du dich als Deutscher oder als Türke?

Besonders schlimm, weil gut gemeint und durchaus als kecke, selbstbewusste Antwort auf jene Frage gedacht, sind die deutschen und ­türki­schen Flaggen, die nebeneinander hängen. Während Nationalflaggen einzeln schon eine Zumutung sind, empfinde ich diesen blöden Völkerverständigungsquatsch nur noch als Provokation.

Lasst es doch einfach ganz bleiben, wenn ihr euch nicht entscheiden könnt! Und hört bitte endlich auf, mir bei jeder Gelegenheit diese blöde Herkunftsthematik unter die Nase zu ­reiben!

Als aufgeklärter Deutschtürke weiß ich natürlich: Die Doppelflagge ist ein verzweifelter Schrei nach Anerkennung von Menschen, deren Biografien sich nicht in das Konzept der Nation einzwängen lassen. Was ich natürlich auch weiß: Fußballpatriotismus ist schlimm. Das Allerletzte!

Viel schlimmer als ­Patriotismus ohne Fußball! Diese Ausrufesätze schießen mir durch den Kopf, wenn ich mal wieder nichtsahnend durch meinem schönen deutschtürkischen Kiez spaziere – und dann auf einmal wieder von diesen elendigen Flaggen belästigt werde. Kopfschüttelnd schimpfe ich dann vor mich hin, halblaut im Monolog, aber immer mit der Hoffnung, dass mich vielleicht doch jemand hört und mir beisteht.

Wonach suchen sie?

Bisher hat mir niemand beigestanden. Wahrscheinlich sollte ich auch eher froh sein, dass ich noch nicht zusammengeschlagen wurde. Als ich letztens nach so einem Anfall gerade dabei war, mich wieder zu beruhigen, kamen mir unerwartete Erinnerungen und mit ihnen Gefühle, die eigentlich nicht sein dürfen, wenn man ein aufgeklärter Deutschtürke ist:

Das war schon auch ziemlich cool früher, vor den vielen gesellschaftskritischen Texten in der Uni, als ich noch für eine Nationalmannschaft gefiebert, geschrien, geweint und gejubelt habe. Es war toll, sich als Teil von etwas Größerem zu fühlen, nach einem Sieg stolz im Nationaltrikot durch die Gegend zu laufen, als hätte man das Siegtor selbst geschossen.

Es war schön, unter den anderen Mitfiebernden einen selbstverständlichen Platz in der Welt zu haben, der überall anders ständig infrage gestellt wurde. Im türkischen Autokorso hatte man auch dann Platz, wenn man in der Schule versetzungsgefährdet war. Und wenn das entscheidende Tor fiel, dann war es ganz egal, ob man einen Namen hatte, den viele komisch fanden. Man wurde eins mit den anderen. Ganz egal, wie einsam man sich sonst auf dieser Welt fühlte.

Die Nebenwirkungen dieses bei Fußball­großereignissen verbreiteten Vorgangs sind allgemein bekannt. Aber kann man Menschen vorwerfen, dass sie sich nach Zugehörigkeit sehnen? Wonach suchen so viele von ihnen noch, wenn sie sich lächerlich gekleidet in überfüllte Fanmeilen drängen?

Seit ich mir eingestanden habe, dass mir der Fußballpatriotismus manchmal ein bisschen fehlt, raste ich nicht mehr so aus, wenn ich an den Flaggen vorbeigehe. Was für einen aufgeklärten Deutschtürken angemessener ist. Auch mein Glück, dass ich heute keinen Stofffetzen brauche, weil ich so viele liebe Menschen um mich herum habe, kann ich noch besser sehen.

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Volkan Ağar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
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9 Kommentare

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  • Wenn man anfängt einen seitenlangen Artikel zu schreiben, in dem man sich über aufgehängte Flaggen während einer Fußball-EM im eigenen Land aufregt:

    DANN weiß man endgültig, dass die Probleme im Land nicht allzu groß sein können...

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    „Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein: hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen."



    (Arthur Schopenhauer)

  • Danke an Volkan Agar für das Teilen dieser Gedanken mit uns.

    Und das obwohl ich (wahrscheinlich nicht als einziger) seinen Namen als seltsam empfinde und fast Strg+C-Strg+V benutzt hätte, so beschränkt und xenophobisch, wie ich als Mensch leider im Kern bin.

    Für das Sein kann ich auch nichts. Für falsches Ausleben hingegen schon. Und darum der kleine Widerspruch:

    Das Sehnen nach Zugehörigkeit kann man Menschen nicht vorwerfen. Schon aber, wenn sie dabei diskriminieren.

  • Ich bin nicht gerade ein Fußballfan,



    ein Fan von Flaggenkombis allerdings schon!



    Als Nichtflaggenbesitzer kann ich mir gerade Türkischdeutsche oder Deutschitalienische Flaggen sehr gut anschauen.



    Uruguay hat ja auch ne schöne Fahne, doch die sind bei ner EM ja leider nicht dabei.



    Ich nehme die Fussballnationalstolzkritik jetzt mal nicht ernst. Beim Sport "zu seinen Leuten" zu halten ist die Art von Heimatverbundenheit, die ich gelten lasse.



    Besonders gefällt mir, wenn eine Mannschaft so bunt ist, dass die kleine "afd" schon gar nicht mehr Fähnchen schwenken mag .



    Da freue ich mich dann über jeden Erfolg, eine gute Aktion Rüdigers, einen schönen Pass von unserem Kapitän oder einem Tor von Musiala, besonders.



    Wir haben viele Väter, wir haben viele Mütter, es ist gut das zu erkennen und das gemeinsame in einem Volksfest, wie die EM, bietet ungeahnte Möglichkeiten der Verständigung und der Gemeinsamkeit.



    Klar sterben die Deppen leider zuletzt aus und es gibt Welche, die Fußball mit Nationalismus verwechseln.



    Für die Meisten ist es aber Spannung, Spaß und Sport.



    Es erscheint mir zielführend, sich mit diesen Menschen zu befassen und die anderen links liegen zu lassen...

  • Gestern abend nach dem Spiel lernte ich dazu: Die Fans wollen auch bemerkt werden. In meiner Nachbarschaft setzten sich durchaus türkischstämmige Leute in ihre Autos, aber fuhren nicht los zum Autokonvoi in die City, denn es regnete so halb heftig, so dass kaum mit Zuschauern der Gaudi in der Stadt gerechnet werden konnte. Aber einen wichtigen Teil des Rituals, das Hupen, wurde daher in die Vorstadt verlegt: Aus den stehenden Autos wurde ein Jubel-Hupkonzert angestimmt ;-)

  • Tja - aufgeklärt - wußte Ol Teddy 🧸 schon! Wollnich



    ⚽️Dialektik der Aufklärung⚽️

  • Fussball ist auch ohne Patriotismus schlimm.

  • Volkan spricht mir hier wieder aus dem Herzen. Hervorragend, dieser Autor!

    Patriotismus war schon immer ein suspektes und unsachliches Gefühl. Gerne wird er verteidigt, dass Deutschland demokratisch sei, und man deswegen als Deutscher ruhig Nationalstolz zeigen darf.

    Tolles Argument, aber warum deutschlandfixiert? Rumänien besitzt auch eine Demokratie, und in Rojava im türkisch und syrischen Grenzgebiet gibt es gar einen demokratischen Konföderalismus, sind denn diese nichts wert? Oder deren Einwohner? Schwarz-Rot-Gold sei mehr wert als Blau-Gold-Rot, nur weil in Rumänien die Herkunft vieler Sinti und Roma ist?

    Wenn Demokratie schon als Argument, dann kosmopolitisch und nicht auf die eigene Nation reflektiert. Ansonsten tappt man in Fettnäpfchen, in die Nationalisten üblicherweise treten.

  • Kann ich alles empathisch sehr, sehr gut verstehen; - aber das Folgende geht gar nicht und macht Einzelne extrem unsympathisch:



    /



    www.rnd.de/politik...O3GBSEQIN3MCA.html



    /



    Auf internationaler Bühne ein No-Go.



    Und Patriotismus ist hier sicher im Spiel laut Bekunden des Spielers.