Für eine neue Mobilität: Deutschland bremst aus
Die EU will den Schienenverkehr ausbauen. Doch Defizite gibt es nicht nur bei den Verbindungen nach Osten, auch andere Projekte stagnieren.
Die Tourismusbranche in der EU beschäftigt etwa 12 Millionen Menschen und erwirtschaftet mehr als 12 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Bis auf wenige Ausnahmen ist das ein mittelständischer Wirtschaftszweig, der Arbeitsplätze und Einkommen vor Ort schafft. Während der Pandemie war das für viele Länder und Regionen in Europa ein großes Problem.
Verkehr und Tourismus stehen in einem engen Zusammenhang, wobei der nachhaltige Tourismus sehr wichtig ist. Naturerbe und Biodiversität müssen wir als Kapital und nicht als störend für den Tourismus begreifen. Denn wir wissen, dass der Tourismus auch zerstören kann. Auch deshalb muss er nachhaltiger und grenzüberschreitend sein. Statt Auto und Flugzeug lieber mit der Bahn, weshalb wir europaweit attraktive Verbindungen auch mit Nachtzügen brauchen. Aber viele Korridore werden in Deutschland ausgebremst.
Die 1996 vereinbarte Strecke von Nürnberg nach Prag wurde 2002 in Tschechien saniert und elektrifiziert, in Deutschland 2007 durch einen Bus ersetzt. Der Korridor von Hamburg über Breslau nach Krakau hat eine Lücke von 50 Kilometern. Deren Schließung würde lediglich 100 Millionen Euro kosten, aber die Fahrzeit um 2,5 Stunden verkürzen. Anstatt diese Anbindung nach Breslau zur Kulturhauptstadt Europas 2016 zu verbessern, wurde sie wenige Monate vorher stillgelegt. Ähnlich ist es beim Brenner- und beim Gotthardtunnel, deren Zuläufe frühestens 2040 fertig sein werden.
Diese Defizite gibt es nicht nur bei den Verbindungen nach Osten. Ein krasses Versäumnis ist auch der Wiederaufbau der in den letzten Kriegstagen zerstörten Rheinbrücke für die Schienenverbindung von Freiburg nach Colmar. Wäre es eine Straßenverbindung, sie wäre schon längst realisiert. Deshalb muss die vordringlichste Aufgabe in Deutschland die Fertigstellung dieser Projekte sein und nicht der Traum von einer vierstündigen Zugfahrt von Berlin nach Wien.
Ohne veränderte Mobilität kein Stopp des Klimawandels
Der Verkehr ist nämlich in der EU für ein Viertel der CO2-Emissionen verantwortlich. Das ist schon schlimm. Noch schlimmer ist aber die Entwicklung seit 1990. In der Industrie ist es gelungen, den CO2-Anteil um 32 Prozent zu senken, im Verkehr ist er im selben Zeitraum um 28 Prozent gestiegen. Der Verkehr frisst also all das doppelt und dreifach auf, was in anderen Sektoren mit Milliarden unserer Steuergelder erreicht wurde. Deshalb werden wir ohne eine Veränderung der Mobilität den Klimawandel nicht stoppen können.
Immer wichtiger wird der Fahrradtourismus, der in Europa seit über zwei Jahrzehnten mit einer jährlichen Steigerung von mehr als 20 Prozent wächst. Nach einer Untersuchung der Schweiz gibt ein Radtourist ohne Übernachtung 35 Euro pro Tag aus, ein Autotourist 10 Euro.
Die Badesaison an der Küste dauert vielleicht zwei oder drei Monate, die Radelsaison dagegen ist drei- bis viermal so lang. In Finnland, Schweden, der Schweiz und in Österreich werden die Routen im Winter als Skilanglauf-Loipen genutzt und im Sommer als Radwege. Die vorhandene Infrastruktur muss deshalb nicht mehr monatelang geschlossen werden. In Serbien waren 2008 auf dem Donauradweg insgesamt 500 Radtouristen unterwegs. Um das zu ändern, schilderte Serbien die Route aus und konnte nach nur vier Jahren 13.000 Radelnde zählen.
In der EU gibt es 16 EuroVeloRouten, die auf einer Länge von knapp 100.000 Kilometern durch alle Mitgliedstaaten verlaufen. Der 10.000 Kilometer lange Europa-Radweg Eiserner Vorhang, die EuroVeloRoute 13, verläuft entlang der Westgrenze der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer durch 20 Länder. Das Projekt „Iron Curtain Trail“ wurde mit großer Mehrheit aus allen Ländern und allen Fraktionen im Europäischen Parlament beschlossen und ist die einzige EuroVeloRoute, die 2019 vom Europarat als „Cultural Route“ zertifiziert wurde. Die Ausschilderung und der fahrradfreundliche Ausbau werden – anders als in Deutschland – von der EU seit Jahren finanziell unterstützt. Auch ökonomisch ist das Radeln interessant: In der EU arbeiten in der Fahrradindustrie etwa eine Million Menschen, das sind mehr als im Bergbau oder in der Stahlindustrie.
Von allen Fraktionen im EU-Parlament beschlossen
Der jährliche Umsatz des Fahrradtourismus liegt bei 44 Milliarden Euro und ist damit genauso hoch wie der Umsatz der Kreuzfahrtschifffahrt, deren Schiff nach Berechnung des Nabu täglich aber so viel Schwefeldioxid ausstößt wie 376 Millionen Autos. Und es gibt einen weiteren Unterschied: Wenn die Kreuzschifffahrt eine Milliarde für die Erweiterung eines Hafens braucht, bekommt sie es nahezu problemlos. Aber wenn 10 Millionen Euro für die Verbesserung oder die Ausschilderung von Radrouten benötigt werden, ist das meistens ein großes Problem!
Wichtig ist auch die Fahrradmitnahme in allen Zügen, auch in Hochgeschwindigkeitszügen. Das hatte das Europaparlament mit großer Mehrheit schon 2008 beschlossen – der Bundesrat sogar einstimmig – aber die DB wollte das nicht. Anders als Flixbus negiert sie einen boomenden Kundenstamm.
Obwohl die neuen ICE-4-Züge 8 Fahrradstellplätze haben, werden sie bei der gegenwärtigen Grundsanierung der ICE-3-Züge nicht berücksichtigt. Deshalb wird in den nächsten 30 Jahren in 40 Prozent der ICE-Züge keine Fahrradmitnahme möglich sein. In der Schweiz ist das längst möglich und auch in Österreich kann man in allen Zügen das Rad mitnehmen.
Mit dem Rad ist man schnell genug, um viel zu sehen, und langsam genug, um sich das anzuschauen. Zudem kann man Geschichte, Politik, Natur und Kultur im wahrsten Sinne des Wortes erfahren.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott