Fünf Jahre deutsche Willkommenskultur: Weltmeister der Verzerrung
Weltweit einmalig oder viel zu wenig? Die Bilanz der deutschen Willkommenskultur für Geflüchtete ist nach fünf Jahren höchst ambivalent.
E s war 2019, als ein ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter beantragte, die UN-Kulturorganisation Unesco möge die deutsche „Willkommenskultur“ in ihre Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufnehmen. Die Liste umfasst bislang rund 500 Einträge, darunter die französische Küche oder den argentinischen Tango. Wie die Deutschen 2015 die Flüchtlinge empfangen hätten, sei „weltweit erstmalig und einmalig“, fand der Antragsteller.
Dass die Deutschen sich nicht damit begnügen wollen, Mittelmaß zu sein, ist nichts Neues. Dass sich manche auch für die Weltmeister der Herzen in Sachen Flüchtlingshilfe halten, zeigt jedoch, wie sehr „2015“ vielen die Maßstäbe verrutschen ließ. Die verbreitete Unfähigkeit, die „Willkommenskultur“ richtig einzuschätzen, spiegelt auch deren höchst ambivalente Bilanz.
Die Annahme, etwas „weltweit erstmalig und einmalig“ geleistet zu haben, ist eine groteske Verkennung der globalen Realität. Die allermeisten Flüchtlinge werden von armen Ländern beherbergt – unter großen Entbehrungen der Aufnahmegesellschaften, die nicht ansatzweise mit dem vergleichbar sind, was der oder die durchschnittliche Deutsche wegen der Flüchtlinge an Einschränkungen hinnehmen musste.
Von den fast 80 Millionen Flüchtlingen auf der Welt sind heute rund 1,8 Millionen in Deutschland. Das sind nicht wenige, stellt ein Land von dieser Wirtschaftskraft aber keineswegs vor unüberwindbare Probleme. Gleichwohl sehen manche „2015“ bis heute als Anfang vom Ende der Nation, fantasieren vom Untergang durch „Umvolkung“ und hassen Merkel als vermeintliche Flüchtlingskanzlerin deshalb von Herzen.
Das wiederum ist eine groteske Verkennung der deutschen Asylpolitik ab 2015. Denn seither ist Deutschland die treibende politische Kraft der Versuche, Flucht nach Mitteleuropa auf eine gering dosierte staatliche Umsiedlung, das Resettlement, zu beschränken. Ein sich stetig verhärtender Kordon von Barrieren, der heute vom Sahel bis nach Kufstein reicht und selbstbestimmte Fluchtbewegungen unterbinden soll, zeigt mittlerweile Wirkung: Die 2018 von Horst Seehofer gegen Merkel erstrittene „Obergrenze“ von 180.000 bis 220.000 Neuaufnahmen pro Jahr, wurde schon vor Corona nicht einmal mehr zur Hälfte erreicht. Wie die Linken-Fraktion im Bundestag errechnet hat, nahm Deutschland unterm Strich (Asylanträge plus Familiennachzug plus Resettlement minus Abschiebungen minus Ausreisen) 2019 nur 95.000 Menschen netto neu auf.
Gleichwohl wäre es falsch, die vergangenen fünf Jahre als eine Zeit zu sehen, in der der Staat nur Anti-Flüchtlings-Politik betrieben hätte. Im Vergleich zu früheren Phasen, etwa dem Umgang mit den Jugoslawien-Flüchtlingen der 1990er, gab es einen Paradigmenwechsel. Damals war die Annahme: Die Menschen werden wieder gehen, zur Not schieben wir sie ab. Ein Irrtum, der sich später rächte. Viele blieben, doch niemand kümmerte sich darum, was aus ihnen werden sollte. Und so hatten viele Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Wenn sie welche fanden, reichte sie bisweilen kaum zum Leben und eine auskömmliche Rente.
Dieser Fehler, immerhin, wiederholte sich nach 2015 nicht. Für einen erklecklichen Teil der Angekommenen wurde eine regelrechte Integrationsindustrie aufgebaut, die vor allem beim Weg in den Arbeitsmarkt behilflich ist: Sprachkurse, Nach- und Anpassungsqualifizierung, Förderung der Anerkennung formeller und informeller Kompetenzen – es ist ein Instrumentarium, von denen frühere Neuankömmlinge nur hätten träumen können.
Und so haben fünf Jahre nach ihrer Ankunft zwei Drittel der 18- bis 64-jährigen Geflüchteten eine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Über 55.000 Menschen aus den acht wichtigsten Asyl-Herkunftsländern absolvieren eine Ausbildung, etwa 270.000 besuchen eine Schule, knapp 20.000 studieren. Es ist eine kaum zu überschätzende Erfolgsgeschichte, erst recht in einem Land, das auf neue Arbeitskräfte angewiesen ist wie kaum ein zweites in Europa. Drei Jahre nach Ankunft fühlen sich insgesamt 74 Prozent der Geflüchteten „stark“ oder „sehr stark“ willkommen, nur insgesamt 6 Prozent „kaum“ oder „gar nicht“.
Würdigen können das oft die am Wenigsten, die sehr viel dazu beigetragen haben: Solidaritätsgruppen. Ende 2017 stellte das Allensbach-Institut fest, dass 11 Prozent der über 16-Jährigen in Deutschland sich aktiv in der Flüchtlingshilfe engagieren. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland hat untersucht, wie sich dieser Wert seither verändert hat. Die Zahlen werden erst in zehn Tagen veröffentlicht, doch wie zu hören ist, sind sie immer noch sehr hoch. Tatsächlich gibt es bis heute in fast jeder Kleinstadt – auch im Osten – Flüchtlingsinitiativen. Sie sind ein wichtiges gesellschaftliches Korrektiv gegen den Rechtsruck und Populismus, unempfänglich für Verhetzung durch ihre persönliche Beziehungen zu den Flüchtlingen.
Denn viele der 2015 Angekommenen stehen heute in einem freundschaftlichen Verhältnis zu den HelferInnen von damals. Ihre Unterstützung aber brauchen sie nicht mehr. In vielen der einstigen Willkommensgruppen hat das zu einer Fokusverschiebung geführt: Sie beschäftigen sich heute oft mit der Lage von Flüchtlingen an anderen Orten, vor allem im Mittelmeer und an den EU-Außengrenzen, etwa im Rahmen des „Seebrücke“-Netzwerks.
Auch dort leistet die Zivilgesellschaft Beeindruckendes, nicht nur in der Seenotrettung. Trotzdem kann die Lage in der Region einem durchaus die Laune verderben. Geradezu fixiert schauen viele der HelferInnen deshalb heute auf die Toten im Meer, die Internierten in den Lagern, die Asylrechtsverschärfungen, die Abschiebungen. Die eigenen, ermutigenden Leistungen vermögen sie darüber oft kaum noch wahrzunehmen. Auch dies ist eine Verkennung der Realität.
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