Freihandelsabkommen TTIP: Grüne fordern kompletten Neustart
Beim Europaparteitag haben die Grünen ihre Position zu den Freihandelsgeprächen zwischen EU und USA festgezurrt. Sie wollen ein neues Verhandlungsmandat.

Reden über Europa: Die Parteitagsbühne in Dresden. Bild: dpa
DRESDEN taz | Es war die große inhaltliche Debatte des Europaparteitags in Dresden: Wie und wo genau sollen sich die Grünen strategisch positionieren im wachsenden Spektrum der Kritiker des geplanten Freihandelsabkommen von EU und USA? Eine wichtige Frage, auch weil der Protest gegen die laufenden Freihandelsgespräche zwischen Brüssel und Washington ein Mobilisierungsfaktor für die Europawahl im Mai werden könnte.
Die Grünen wollen nun mit der Forderung nach einer „Aussetzung der Verhandlungen und einem kompletten Neustart“ in den Wahlkampf gehen. Das Verfahren müsse transparenter, ein „neues Verhandlungsmandat“ errungen werden, heißt im am Samstagmittag beschlossenen Text.
Im Vorfeld des Parteitags hatte sich abgezeichnet, dass der im Sommer 2013 formulierte Programmentwurf für die Europawahl zu schwach geraten war. Darin wurden lapidar „Chancen und Risiken“ des umstrittenen Megaprojekts abgewogen. Doch in vielen Redebeiträgen wetterten Delegierte in Dresden gegen dieses „Titip“ beziehungsweise TTIP – so wird das „Transatlantic Trade and Investment Partnership“ in englischer Kurzversion genannt. Ein Projekt, das in der weltgrößten Freihandelszone münden und Europa großes Wirtschaftswachstum und viele neue Arbeitsplätze bringen soll.
Damit zumindest werben seine Befürworter. Doch viele Grüne fürchten eher Negativfolgen: „Wir wollen nicht, dass Hormonfleisch oder Chlorhühnchen in die EU kommen“, warnte Parteichefin Simone Peter bereits in ihrer Eröffnungsrede. „Wir werden nicht zulassen, dass TTIP die Tore öffnet für Gentechnik in unseren Lebensmitteln.“
Harms und Giegold für einen Stopp
In der Frage, wie dieses Ziel erreicht werden könnte, gingen die Meinungen in der Partei allerdings weit auseinander. Nicht nur die Grüne Jugend hatte im Vorfeld des Parteitags einen „Stopp“ der Verhandlungen gefordert – sondern auch zwei die Bewerber um die Spitzenkandidatur zur Europawahl: Rebecca Harms und Sven Giegold. Nur mit dieser klaren Botschaft seien die Grünen im Wahlkampf glaubwürdig, argumentierte die Grüne-Jugend-Vorsitzende Theresa Kalmer beim Parteitag.
Realos um den Chef der Europäischen Grünen Reinhard Bütikofer hingegen warnten vor einer Fundamental-Opposition. „Wenn wir jetzt Nein sagen und aussteigen, wird die große Koalition ihr Ding ohne uns machen“, sagte die Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner. Stattdessen sollten die Grünen lediglich „rote Linien“ formulieren und so einen „Keil“ in die Große Koalition treiben.
Am Ende votierte der Parteitag für keine der beiden Maximalforderungen, sondern für eine Kompromisslösung, die neben Parteichefin Simone Peter auch der Fraktionschef im Bundestag, Anton Hofreiter, offensiv beworben hatte.
Dennoch zeigten sich auch die ursprünglichen „Stopp“-Befürworter Rebecca Harms und Sven Giegold zufrieden. Zwischen den Positionen „Stopp“ und „Aussetzen“ gebe es ohnehin keinen großen Unterschied, argumentierte Giegold. „Ob ich Verhandlungen aussetze oder stoppe, das ist mehr eine Frage der Tonalität“, sagte er der taz. „Ich finde den Unterschied nur semantisch, nicht substanziell.“
Leser*innenkommentare
Rolf Kuntz
Verhandlungen neu starten ist nicht nur keine Strategie, sondern das Laufen in eine Falle.
Das TTIP ist wie ein Einbrecher durch eine verschlossen Hintertür hereingekommen, wenn ich so einmal das aushebeln urdemokratischer Spielregeln nennen darf. Bildlich gesprochen soll jetzt mit dem Einbrecher verhandeln?
Liebe Leute, wenn ich jetzt mit diesen Einbrecher verhandle, dann akzeptiere ich quasi seinen Einbruch, was im Klartext heißen wird: „Wir katapultieren uns zurück in den Feudalismus und zementieren bis zur nächsten Revolution ein Zweiklassenrecht als gesellschaftlichen Konsens“.
Die Chlorhünchen sind doch nur das trojanisches Pferd um von der wirklich wichtigen Problematik wegzulocken. Dieses wird im Rahmen einer strategischen Kriegsführung geopfert, daran werden die Europäer ihre Kräfte konzentrieren und letztendlich den Fall dieser Bastion feiern, währenddessen der Feind alle anderen Dinge ungehindert ins Euroland gebracht hat!
Wir brauchen kein TTIP. Nehmen wir aus dem Katalog all die protektionistischen Maßnahmen heraus, dann bleibt inhaltlich gar nicht mehr viel übrig um daraus ein großartiges Abkommen schmieden zu wollen.
Es gibt zwischen Staaten immer etwas zu verbessern, aber dafür reicht meist der Gute Wille einer Kompromissfindung zwischen den speziellen wirtschaftlichen Akteuren. Darüber hinaus - zwar auch nicht gerade demokratisch - könnte man auch die WTO oder die ILO einspannen, zwei Institutionen wo eine Reformation ihres Auftragsprofil zur Anpassung an ökologische- und menschenrechtliche Standards längst überfällig wäre.
zapf
Gast
in den industrienantionen ist die lebenserwartung junger amerikaner/innen die niedrigste , nach einer neueren studie
einfach googeln.
die studie wurde auch im spiegel zitiert. spon 20.01.13
Marvin
Gast
Verhandlungen neu starten ist keine Strategie. Was genau wollen die Grünen denn beim zweiten Anlauf besser machen?
Das Problem ist ja nicht die Geheimhaltung. Bei TTIP geht es darum, die Entscheidungsgewalt von demokratischen Institutionen weg in neue Gremien zu verlagern, die keiner demokratischen Kontrolle mehr unterliegen.
Für ein paar neue Jobs? Bei NAFTA, das gerade 20 Jahre alt geworden ist, kann man gerade sehr schön sehen, was von den schönen Versprechungen in der Praxis übrig bleibt.
uvw
Vergeßt die Chlorhühnchen. Ein TTIP-Leckerbissen ist das Klage- und Schadensersatzrecht für Konzerne gegen Staaten wegen "Umsatzausfall" aufgrund nationaler oder EU-Gesetze. Wenn das durchkommt, brauchen wir keine Rechtsstaaten mehr. Grundrechte, Arbeitsrecht, Umweltschutz, Verbraucherschutz, Datenschutz? Alles Schmuck am Nachthemd.
anyhow
@uvw Das ganze TTIP-Auto ist eine Schrottkarre. Und wir stehen da und messen den Reifendruck.
GuckGuck
Gast
Abgesehen von den "Nahrungs-Horror-Storys" sollte mal die Mär des großen Wirtschaftswachstum in den Fokus rücken. Dieses liegt nämlich in EU-bestellten (und demnach wahrscheinlich eher optimistischen statt kritischen) Studien bei vernachlässigbaren 0,05% für Europa. Sehr schön ist auch ein Interview auf Youtube wo der Hauptverantwortliche EU-Kommissar damit konfrontiert wird: http://youtu.be/vnOTyOjV4I4
Volker Birk
Kurz: wozu?
Die Verhandlungen zu TTIP gehören eingestellt. Solche demokratiefeindliche Abkommen benötigt niemand. Und die Märchen vom angeblichen Jobwunder sind viel zu durchsichtig konstruiert, so dass sie sowieso keiner glaubt.
noevil
Aus meiner Sicht wäre die Position von Rebekka Harms und Sven Giegold weit besser und überzeugender als
die weiche und entgegenkommende Haltung von Bütikofer. Auch die Wähler würden weit besser von einer entschiedenen Stop-Strategie zu überzeugen sein.
Und wenn ich das noch dazusagen darf: Ich meine, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für neue Köpfe ist. Harms und Giegold sind aus meiner Sicht mit ihren gediegenen Fachkenntnissen und ihrer Erfahrung die besten Kandidaten. Kein Feld für Testballons!
D.J.
Gast
Jaja, die bösen Chlorhühnchen. Gemeint ist übrigens die Desinfektion mit einer Chlordioxidlösung. Chlordioxid wird (als Ersatz für Chlor) vermehrt auch in Deutschland zur Trinkwasserbereitung eingesetzt. Und es soll grausame Menschen geben, die dann sogar ihre Kinder da reintauchen...
Bei aller Problematik des Freihandelsabkommens - was nervt, ist das Spiel mit irrationalen Symbolhorrorgemälden - sei es bewusst oder aus Unkenntnis (ich traue den Grünen beides zu).
Übrigens haben die Amis eine fast ebenso hohe Lebenserwartung wie wir. Die leichten Differenzen dürften sich v.a. aus der Gewaltkriminalität ergeben. Was soll also die Überheblichkeit, so zu tun, als wären die Amis zu blöd zu wissen, was giftig ist und was nicht.
Und was Gentechnik betrifft - sinnlos, da ist in Deutschland ohnehin keinerlei rationale Diskussion mehr möglich.
XXX
In Anbetracht der Stimmung in der Bevölkerung gegenüber dem Freihandelsabkommen könnte es sogar sein, dass ein entschiedener Kurs dagegen eine Menge Stimmen bringt. Vielleicht täte es den Grünen ja mal gut, den Willen des Volkes (nämlich sofortiges Beenden der Verhandlungen) zu respektieren (anders als sie es bei Eurorettung, Veggie-Day oder Steurerhöhungsplänen gemacht haben). Schließlich deckt er sich ja in diesem Fall sogar mit grünen Interessen!