Französische Drogenpolitik: Die allermeisten schauen weg
Im Nordosten von Paris leben Crack-User:innen unter widrigen Umständen in einem Park. Streetworker fordern die Entkriminalisierung des Konsums.
Majid und Soraya, zwei Streetworker:innen des Vereins Charonne-Oppélia, fahren jeden Tag zusammen zu den Orten, wo sich Menschen aufhalten, die Drogen konsumieren. Davon gibt es einige im Pariser Nordosten, und jeder hat seine eigene Droge: Crack, Heroin oder Medikamente wie Skenan und Benzodiazepine. Die französische Drogenpolitik gehört zu den repressivsten in Europa. Seit September 2021 wird der Besitz der kleinsten Menge von egal welcher Substanz mit 200 Euro bestraft. „Wir plädieren für eine Entkriminalisierung des Konsums“, sagt Emmanuelle Sené, Leiterin der Anlaufstelle für Drogenkonsument:innen, für die Majid und Soraya arbeiten. „Nur so nimmt die Qualität der Produkte zu, nehmen die Kriminalität und das Elend ab.“
Majid und Soraya laufen die paar hundert Meter von der Metrohaltestelle Porte de la Villette zum Camp. An Majids Rucksack hängt ein kleiner Lautsprecher, Aretha Franklin singt „Freedom“. „Die User:innen mögen das, wenn ich Musik anmache“, sagt der Streetworker, „die halten an und horchen. Versuchen zu erraten, welcher Song gerade läuft“.
Von Edith Piaf über Cardy B bis hin zu ACDC – jede Tour hat ihr Musikgenre. Unter der Eisenbahnbrücke müssen Majid und Soraya durch, einmal rechts, dann kommt ihnen beißender Geruch nach Urin entgegen. Sie laufen den kleinen Weg hoch in den Park und werden gleich von allen Seiten angesprochen. Jede:r hier kennt sie, obwohl sie erst Ende August bei Charonne-Oppélia angefangen haben.
Günstiger Stoff
„Das Vertrauen der User:innen ist uns sehr wichtig“, sagt Soraya. Sie verteilen medizinische Masken, Hygienetücher und sauberes Drogenbesteck, entweder Crack-Pfeifen oder Spritzen. Die Menschen hier würden Crack eher rauchen, meint sie, statt es zu spritzen. Crack wird aus Kokain und Backpulver hergestellt. Es ist deutlich günstiger als Heroin oder Kokain und macht sehr schnell süchtig. Ein Crack-Stein kostet etwa 15 Euro, sagt Majid, das bekäme man schnell zusammen.
Von allen Seiten blitzen Feuerzeuge auf, weiße Steine wandern von einer Hand in die andere. Hagere Menschen vegetieren auf nacktem Boden oder auf schmutzigen Matratzen vor sich hin und ziehen an ihrer Pfeife. Wenn überhaupt Passanten vorbeikommen, schauen die allermeisten weg.
Die Menschen, die in diesem Park-Dreieck leben und konsumieren, hätten alle unterschiedliche Biografien, meint Majid. Eine junge Frau trägt eine neue schwarze Lederjacke und runde John-Lennon-Brillen, andere haben nur Lumpen an. Der Boden ist übersät von Müll. Am Rande des Parks stehen etwa zehn Zelte aus blauer Plane, die sich die Menschen gebastelt haben, direkt dahinter die Stadtautobahn. In manchen Zelten liegen Matratzen auf dem Boden, vor anderen stehen Sofas. Hier und da sitzen Menschen um ein Lagerfeuer. Nathalie, die ihren kleinen Hund Oscar im Arm trägt, fragt Soraya nach Taschentüchern. „Das Klopapier ist mal wieder leer“, beschwert sie sich. Die Stadt hat Müllcontainer, Pissoirs, zwei Dixi-Klos und ein paar Wasserhähne installiert – für die 150 bis 200 Menschen, die sich hier aufhalten. Immerhin, meint Majid. Er kramt in seinem Rucksack und reicht Nathalie ein Safe-Crack-Set. Frauen gibt er immer Kondome dazu.
In ganz Frankreich gibt es seit 2016 genau zwei Räume, einen in Straßburg, einen in Paris, wo Konsument:innen Crack sicher rauchen oder sich spritzen können. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 28.
Zu wenige Konsumräume
Der Pariser Drogenkonsumraum befindet sich beim Bahnhof Gare du Nord, betrieben wird er vom Verein Gaïa. Ein einziger solcher Ort reiche in einer Millionenstadt wie Paris nicht aus, sagt Jamel Lazic, Co-Leiter des Konsumraumes. „Es müssten mindestens vier oder fünf sein, als erste Anlaufstelle für User:innen. Deshalb sollten sie in der Nähe der Drogenszenen liegen und an den lokalen Konsum angepasst sein.“ Nächstes Jahr läuft die Probephase des Projekts aus. Die Ergebnisse sind vielversprechend. Aber statt den Konsumraum langfristig im Viertel zu verankern, wurde die Probephase lediglich um weitere sechs Jahre verlängert.
Im Camp drehen die Streetworker:innen Majid und Soraya weiter ihre Runde. Sie sprechen eine junge Frau an, die sie noch nicht kennen. Auf Majids Lautsprechern läuft Queens „I want to break free“, die Frau singt und tanzt mit der Musik. „Wir sind auch hier, um sie zum Lächeln zu bringen“, sagt Majid grinsend. Einem jungen Mann mit eitrigem Auge erklärt Majid, wo er sich Augentropfen holen kann. Majid und Soraya wollen die User:innen ermutigen, sich Hilfe zu holen. In der Anlaufstelle von Charonne-Oppélia können sie sich duschen, ausruhen und beraten lassen. Das sei schwer, denn viele würden sich für ihren Drogenkonsum schämen, bedauert Majid.
Damit sich im Camp nicht zu große Müllmengen ansammeln, kommt an der Porte de la Villette alle zwei Tage früh morgens die Stadtreinigung mit Müllcontainer und Reinigungsmaschinen. Müll, Möbel, Kleidung, sogar die Zelte – alles was noch steht, wird abgerissen, was noch rumliegt, weggeschmissen. Alle müssen den Park verlassen und die Polizei verhindert, dass Menschen die Arbeit der Stadtreinigung stören. „Manchmal kommt die Reinigung auch unangekündigt“, kritisiert Majid, „sie wollen die Menschen hier ermüden.“
Historisch hat es im Pariser Nordosten immer eine große Drogenszene gegeben. Vor weniger als einem Jahrzehnt wurden die letzten besetzten Häuser evakuiert und abgerissen. Der Nordosten wird gentrifiziert, in den Neubauten wohnt heute die Mittelschicht. Die User:innen halten sich dort aber nach wie vor auf der Straße auf. Nicht alle Anwohner:innen sind ihnen gegenüber wohlwollend eingestellt. Manche organisieren sich in Vereinen und skandieren „Weg mit den Crackies“. Denn die seien aggressiv, würden zum Dealen in Wohnhäuser eindringen und sich auf Spielplätzen aufhalten. Doch auch gegen weitere Drogenkonsumräume gibt es Proteste.
Anwohner:innen haben Angst
„Ich bin den Umgang mit Drogenkonsument:innen gewöhnt“, meint Emmanuelle Sené von Charonne-Oppélia, „aber ich kann verstehen, dass die Anwohner:innen beunruhigt sind oder Angst haben.“
Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) geht davon aus, dass der Konsum von Crack in Europa weiter steigen wird, weil der Zugang zu Kokain leichter geworden ist. Im Gegensatz zu anderen Opioiden wie Heroin gibt es für Crack aber bisher keine Substitutionsbehandlung. Aufgrund der Verdrängung aus den gentrifizierten Quartieren und den wiederholten Lockdowns letztes Jahr sind die Crack-Konsument:innen in Paris sichtbarer geworden. Sie seien aber nur die Spitze des Eisbergs, meint Jamel Lazic. Anne Hidalgo, die sozialdemokratische Bürgermeisterin von Paris und Kandidatin für die französischen Präsidentschaftswahlen 2022, will die Anwohner:innen zufriedenstellen und gleichzeitig mehr Konsumräume schaffen. Im September besuchte sie das ehemalige Camp, sprach mit Anwohner:innen und Konsument:innen. Drei Tage später siedelte die Polizei das Camp auf den neuen Standort an der Porte de la Villette um. Dort wohnt niemand in der unmittelbaren Nachbarschaft. Dass Hidalgo sich für mehr Konsumräume einsetzt, befürwortet Lazic. Aber sie seien kein Wundermittel, „sie können das öffentliche Ärgernis reduzieren, ja, aber damit verschwinden die Personen nicht aus dem öffentlichen Raum“.
„Seit einem Jahr bereiten sich die Parteien auf die Präsidentschaftswahlen vor, machen wir uns nichts vor“, sagt Emmanuelle Sené von Charonne-Oppélia. „Mit der Verlegung der User:innen wollen sich die Behörden sozialen Frieden kaufen. Die Stadtverwaltung, der Staat, die Polizei, alle schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Ich möchte auch nicht wissen, wie sich die User:innen fühlen, wenn sie wie Vieh transportiert werden. Das ist doch heftig.“
Die Polizei räumt in immer kürzeren Abständen. Inzwischen finden alle paar Monate Umsiedlungen statt, Métro Stalingrad, Jardins d’Éoles, Rue Crimée und jetzt Porte de la Villette. Über die letzte Räumung wurden die Vereine nicht informiert. „Die Leute hatten das Gefühl, dass wir sie im Stich gelassen haben. Sie meinten, wir hätten sie doch vorwarnen können“, bedauert Streetworkerin Soraya. „Für sie ist es sehr schwer, einen Ort zu verlassen, der ihnen vertraut ist.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!