Umgang mit synthetischen Drogen: Jenseits von Fentanyl

Neue Opioide erobern den Markt. Die Gefahren müssen analysiert und ernst genommen werden. Kriegsrhetorik allein reicht nicht.

Fotos von hauptsächlich jungen Menschen, die an einer Überdosis gestorben sind.

Sie alle sind an einer Überdosis synthetischer Opioide gestorben sind, Washington 2023 Foto: Jose Luis Magana/ap

Auf dem großen Marktplatz der Drogen bestimmt inzwischen die Chemie das Geschehen. Die Gründe dafür sind vielfältig, die Auswirkungen lassen sich an der Dynamik des Drogenkonsums ablesen. Die Reduzierung der Opiumproduktion in Afghanistan durch die Taliban etwa wird sich sicherlich auf den Heroinkonsum in Europa auswirken, die Konsumenten auf neue Märkte drängen. Welche neuen Auswirkungen werden die fentanylähnlichen synthetischen Drogen haben? Müssen wir mit einer Kette von Todesfällen durch Überdosierung rechnen, wie sie bereits in den USA aufgetreten ist?

Todesfälle durch Überdosierung sind nicht immer auf die Verwendung von illegal hergestelltem Fentanyl zurückzuführen, sondern auch auf das Vorhandensein anderer Substanzen: mit Fentanyl verwandte Wirkstoffe, die nicht der internationalen Kontrolle unterliegen und die von Drogenhändlern auf den Markt gebracht werden, um neue Formeln zu testen.

Im Jahr 2018 veröffentlichte das UN-International Narcotic Control Board (INCB) – um Regierungen und Einzelpersonen über eine potenzielle Bedrohung zu informieren – eine Liste von mit Fentanyl verwandten Substanzen, von denen keine legale Verwendung bekannt ist. Im Jahr 2019 begann das INCB im Rahmen des OPIOIDS-Projekts mit der Überwachung des Internets, um das Auftauchen neuer Opioide auf verschiedenen Online-Plattformen zu überprüfen. Bisher wurden dabei 55 Opioide identifiziert, die nichts mit Fentanyl zu tun haben und deren Potenz und Toxizität noch weitgehend unbekannt sind.

Die Wirkung von Fentanyl wird noch verheerender, wenn es mit Xylazin (oft als Tranq bezeichnet) gemischt wird, einem nicht-opioiden Beruhigungs-, Schmerz- und Muskelrelaxans, das erstmals 2001 in Puerto Rico als Zusatzstoff entdeckt wurde. Die Mischungen mindert die Wirksamkeit von Gegenmitteln wie Naloxon, die bei Überdosierungen eingesetzt werden. Nach Angaben der US-Drug Enforcement Administration (DEA) ist der Xy­la­zin-­Konsum in den Vereinigten Staaten zwischen 2020 und 2021 um 193 Prozent gestiegen. Genau wie bei Fentanyl zunächst auf den Heroinmärkten an der US-Ostküste, breitete sich dann im Süden aus und fand seinen Weg auf die Drogenmärkte im Westen der USA.

Gefahr durch synthetische Zusätze in herkömmlichen Drogen

Die Zahlen zum Konsum von Fentanyl und seinen Ablegern unter Jugendlichen sind im Vergleich zu dem von Cannabis, Alkohol und Methamphetamin nicht hoch. Ein großes globales Problem ist jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass unbekannte Zusatzstoffe wie synthetische Opioide in herkömmlichen Drogen enthalten sind. Dies führt zu einer Situation, in der die Institutionen Präventions- und Sensibilisierungssysteme schaffen müssten, um die am meisten gefährdeten Personen zu schützen. Es gilt, eine Art von Resilienz auf der Grundlage von Wissen und Verantwortung gegenüber den oft suggestiv angebotenen Substanzen zu festigen.

Neben der Prävention sind auch sozialpolitische Maßnahmen erforderlich, die denjenigen zugute kommen, die bereits durch den Konsum neuer Drogen gefährdet sind. Wir müssen verstehen, warum immer mehr junge Menschen das Bedürfnis haben, sich wegzuballern, neue kulturelle Angebote entwickeln, eine alternative Lebensweise finden. Dem jüngsten UN-Jugendbericht zufolge hat sich in den letzten Jahren ein zweigeteiltes Muster des Drogenkonsums unter Jugendlichen herausgebildet: das derjenigen, die in schwierigen Verhältnissen leben (auch in Entwicklungsländern), und das der „normalen“ Jugendlichen, die im Allgemeinen mehr Möglichkeiten, Optionen und Unterstützung haben und den Drogenkonsum als eine Auszeit vom normalen Leben betrachten.

Die Grenzen sind mitunter fließend; gemeinsam ist ihnen offensichtlich der mit dem Konsum verbundene Schaden. Das Spektrum der von den Jugendlichen berichteten Probleme umfasst krisenhafte familiäre Beziehungen, schlechtere schulische Leistungen, Unfälle, Gewalt und Krankheiten.

Heute scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass die Drogenbekämpfung von der Prävention und der Behandlung von Menschen, die diese Substanzen konsumieren, getrennt werden muss. Jedoch wird der Kampf gegen den illegalen Drogenhandel nach wie vor für politische und mediale Zwecke instrumentalisiert. Diese Instrumentalisierung hat die Verwendung einer suggestiven Sprache gefestigt, von den Strafverfolgungsbehörden häufig verwendet, um die auf das Gesamtgeschehen letztlich einflusslosen Erfolge von Polizeieinsätzen zu verherrlichen, die auf einzelne Teile des illegalen Drogenmarktes abzielen, ohne dessen Komplexität zu untergraben – so beim Captagon.

Größter Produzent: Syrien, größter Abnehmer: Saudi-Arabien

Captagon – der frühere Handelsname für Fenetyllin – wirkt als Psychostimulans, fördert die Konzentration, unterdrückt den Appetit und mildert Angstzustände. Syrien gilt als das Land mit der größten Produktion. Heutiges Captagon enthält weniger Fenetyllin als ursprünglich, dafür einen Cocktail aus gebräuchlicheren Substanzen; darunter Koffein, Amphetamine und Theophyllin. Vorsynthetisierte Verbindungen werden auf dem Landweg nach Syrien transportiert, dort eingekapselt und mit einem Halbmond markiert.

Die Tabletten gibt es in zwei Farben: gelb für minderwertige Qualität, weiß für die höherwertigere, normalerweise für den Export bestimmt. Größte Exportmärkte sind insbesondere Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, wo es als Freizeitdroge gilt und für rund 20 US-Dollar pro Tablette verkauft wird. Auf dem syrischen Inlandsmarkt liegt der Preis zwischen 50 Cent und einem Dollar.

Im Juli 2020 gaben die italienischen Behörden bekannt, sie hätten 84 Millionen Captagon-Tabletten in drei Containern an Bord eines Schiffes aus Syrien beschlagnahmt. Obwohl es sich bei der Polizeiaktion um eine der wichtigsten Beschlagnahmungen synthetischer Drogen handelte, zeigte die Art und Weise, wie die Informationen verbreitet wurden einmal mehr: Bei der Darstellung des Krieges gegen die Drogen gewinnt allzu oft die Legende die Oberhand über die Realität. Denn die italienischen Behörden teilten mit, das beschlagnahmte Captagon sei zur Finanzierung des „Islamischen Staats“ (IS) bestimmt gewesen.

Es ist nicht verwunderlich, dass es zu einer solchen Verzerrung kommt. Die Propaganda des viel gepriesenen „Kriegs gegen die Drogen“ hat dazu geführt, dass die tatsächliche strukturelle Dynamik des Drogenhandels und seine Auswirkungen auf die internationalen Wirtschafts- und Sozialsysteme verschleiert werden.

Captagon-Labor von Hisbollah-Mitgliedern

In jüngster Zeit ist der reiche Drogenmarkt beispielsweise zu einer Finanzierungsquelle für das Assad-Regime geworden, für den angesichts der heimischen Wirtschaftskrise die Drogeneinnahmen ein wichtiges Mittel geworden sind, um sich an der Macht zu halten. Das syrische Marktnetz stützt sich auf die operative Unterstützung internationaler Verbündeter wie der iranischen Islamischen Revolutionsgarde, der Hisbollah und der Wagner-Gruppe. Bereits 2012 beschlagnahmten die libanesischen Behörden ein von Hisbollah-Mitgliedern betriebenes Captagon-Labor.

Die Ausbreitung dieses Marktes ist das Ergebnis einer komplexen soziopolitischen Situation, einer humanitären und institutionellen Krise, die zu Armut, Gewalt und Drogenkonsum geführt hat. Es gibt in der Tat zahlreiche Belege dafür, dass politische und wirtschaftliche Instabilität, bewaffnete Konflikte und die Mobilität der Bevölkerung die Anfälligkeit für den Drogenkonsum erhöhen.

Verfolgt man den langen Weg der internationalen Vereinbarungen seit der ersten internationalen Konferenz in Shanghai im Jahr 1909 („Internationale Opiumkommission“), ist festzustellen, dass sich der Schwerpunkt von der Bekämpfung des Drogenhandels und der strafrechtlichen Verantwortung der Konsumenten hin zu mehr Sensibilität für persönliche Betreuung und öffentliche Gesundheit verlagert hat. Außerhalb des engen Rahmens zwischen legalem und illegalem Drogenkonsum hat man sich stärker auf die Lebensbedingungen der Drogenkonsumenten konzentriert und einen kulturellen Ansatz gewählt, der den Menschen und sein Verhalten in den Mittelpunkt stellt.

In einigen Ländern haben neuere Präventionsmaßnahmen den Anwendungsbereich zur Schadens- und Risikominderung erweitert und damit den neuen Kontexten von Konsum und Abhängigkeit Rechnung getragen. Vor diesem Hintergrund ist es leicht zu verstehen, dass das Auftreten einer neuen Notlage wie der Verbreitung synthetischer Drogen und der Todesfälle durch Überdosierung von synthetischen Opiaten innerhalb dieser Strategie gelöst werden muss. Nicht mit der Rhetorik eines Krieges gegen einzelne Teile des Marktes oder Produktionssysteme, die nicht immer illegal sind.

Der Konsum noch unbekannter und zunächst harmlos erscheinender Drogen stellt oft den ersten Schritt dar in Richtung Sucht und Tod: Eine Falle, in die auch viele Menschen geraten, die gar nicht die Absicht haben, Drogen zu nehmen. Unter ihnen sind besonders vulnerable Gruppen. Wir müssen die neuen Gefahren analysieren und ernst nehmen, wenn wir ihnen ehrlich helfen wollen.

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