Fossilindustrie vor Gericht: Petroleum Papers
Mit einer schwarzen Liste wollen Umweltschützer mächtige Ölfirmen unter Druck setzen. Sie dient als Basis juristischer Verfolgung. Und macht Hoffnung.
A n der Fassade des noblen Marriott-Hotels hängt ein riesiges Spanntuch. In leuchtendem Gelb-Orange hebt es sich von der eleganten Fensterfront am Wiener Stadtpark ab. Dahinter berät sich in jenen kalten Tagen Ende März die Europäische Gas-Konferenz (EGC) über Möglichkeiten, den Kontinent von russischen Ressourcen unabhängig zu machen.
Manager, Regierungsabgesandte und Expert:innen diskutieren über Energiesicherheit, die Schlüsselwörter heißen LNG und Wasserstoff. Befestigt haben das Plakat einige klettererprobte Greenpeace-Aktivist:innen. Darauf steht eine Botschaft aus drei Worten: „End Fossil Crimes!“
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Um „fossile Verbrechen“ geht es bei Greenpeace-Aktivitäten in diesem Frühjahr nicht zum ersten Mal. Nur wenige Tage zuvor hat in Amsterdam der niederländische Zweig der Umweltorganisation einen Bericht publiziert, der den Titel „Fossil Fuel Crime File“ trägt.
Die Unterzeile macht deutlich, dass es sich hierbei nicht nur um Kampagnenrhetorik handelt, sondern um „ein Inventar krimineller und ziviler Vergehen, Ordnungswidrigkeiten und glaubhafter Vorwürfe, die der Industrie fossiler Brandstoffe zugeschrieben werden“.
Verschmutzung, Bestechung – Kriegsverbrechen
26 Beispiele in der Zeit seit 1989 sind in der Akte aufgelistet, unterteilt in 17 unterschiedliche Kategorien gesetzeswidriger Handlungen. Es geht um irreführende Werbung, um Bestechung und Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Totschlag, selbst um Mittäterschaft bei Kriegsverbrechen.
Verurteilt oder zumindest beschuldigt werden dabei zehn europäische Schwergewichte der Fossil-Industrie: Total, OMV Petrom, Statoil, Glencore, ENI, Shell, Equinor und Lundin Energy – Unternehmen, deren Produkte Bürger:innen täglich in Anspruch nehmen. Zugleich sind sie von den ökologischen Nebenwirkungen ihrer Aktivitäten so massenhaft und regelmäßig betroffen, dass der Report mit der Feststellung beginnt: „Jede Person auf der Erde lebt heute am Tatort eines Verbrechens.“
Die „Litanei krimineller Anschuldigungen“ hat es in sich. Unter anderem enthält sie ein Bußgeld für die rumänische OMV Petrom wegen Luftverschmutzung; die Verurteilung des gleich in mehreren Fällen genannten französischen Energieriesen Total zu einer Strafe von 500.000 Euro wegen Bestechung für eine Konzession für ein Gasfeld im Persischen Golf;
schließlich die Anklage eines schwedischen Gerichts gegen Lundin Energy (ehemals Lundin Petroleum), weil Aktivitäten eines von dem schwedischen Unternehmen angeführten Konsortiums im Sudan zwischen 1999 und 2003 vermeintlich zum dortigen Bürgerkrieg beitrugen und Kriegsverbrechen nach sich zogen. Der entsprechende Prozess soll im September beginnen.
Es ist das erste Mal, dass eine solche Liste zusammengestellt wird. Laut Greenpeace verschafft sie der Behauptung, Kriminalität liege „in der DNA der Fossil-Industrie“, eine starke Grundlage. „Die Idee entstand im Rahmen der europäischen Greenpeace-Kampagne“ berichtet Lisa Göldner, die für diese mitverantwortlich ist, telefonisch aus Berlin.
Das Ziel: „Es geht darum, eine neue fossile Infrastruktur zu verhindern und den fossilen Ausstieg voranzubringen. Daher stellen wir die Frage: Was hat uns die Förderung fossiler Energien gebracht? Wir versuchen ihre Legitimität grundsätzlich in Frage zu stellen.“
Der Ansatz der Kampagne, für die ein Greenpeace-Mitglied drei Monate lang in Vollzeit und unterstützt von mehreren Jurist:innen recherchierte, ist strategisch durchaus klug gewählt. Mit dem Fokus auf gesetzeswidriges Handeln fossiler Betriebe durchbricht man die üblichen Fronten einer Diskussion zwischen jenen, welche etwa Aktivitäten von Klimaschützer:innen gerechtfertigt finden, und anderen, die sie für übertrieben halten.
Oder, in den Worten Lisa Göldners: „Die Fossile Fuel Crime File ist eine Übung, den öffentlichen Blick auf fossile Konzerne zu verändern. Was sie tun, ist nicht nur zutiefst gefährlich, sondern auch zutiefst kriminell. Sie wähnen sich über dem Gesetz, und genau das ist das Problem!“
Niedrige Lebenserwartung im Nigerdelta
Dass die Veröffentlichung auf das Konto von Greenpeace Nederland geht, ist eigentlich nur eine Formalität. Lisa Göldner erklärt, jede Kampagne benötige nun mal ein „gastgebendes“ Landesbüro. Zugleich weckt es beim Lesen eine Assoziation: Gerade Urteile niederländischer Richter:innen sorgten in den letzten Jahren international für Aufsehen und waren Vorbilder für Klima-Prozesse in anderen Staaten.
Auch die Fossile Fuel Crime File enthält einen spektakulären Fall der niederländischen Justiz, der beispielhaft die Rolle von Gerichten im Kampf gegen den Klimawandel zeigt: die Verurteilung von Shell am 29. Januar 2021 wegen Öllecks in Nigeria zwischen 2004 und 2007.
Environmental degradation nennt Greenpeace die betreffende Kategorie, was sich mit „Verschlechterung der Umweltbedingungen“ übersetzen lässt. Gemeint ist der Beitrag der Shell-Tochter SPDC zur massiven und großflächigen Verschmutzung von (Trink-)Wasser und Luft im Nigerdelta.
Seit dort 1958 Ölvorräte entdeckt wurden, gab es Tausende Lecks in Pipelines. Die Lebenserwartung in der Region liegt mit nur 41 Jahren 10 Jahre unter dem Landesdurchschnitt. 2008 brachten vier nigerianische Bauern ihre Klage in den Niederlanden vor Gericht, unterstützt von der Umweltorganisation Milieudefensie, dem hiesigen Zweig von Friends of the Earth.
2022 – ein Durchbruch
Nach knapp zwei Jahren Verhandlungen willigte Shell Ende 2022 ein, 15 Millionen Euro Entschädigungen zu zahlen. Mit diesem Abschluss wurde der Fall zum Symbol einer Entwicklung, die sich in den letzten Jahren in Sachen Klimaschutz und seiner bewussten Verzögerung vollzogen hat: Standen Betroffene den Aktivitäten eines multinationalen Konzerns lange Zeit machtlos gegenüber, eröffnet die Justiz nun einen Weg, sich diesen zu widersetzen. Von einem möglichen Präzedenzfall war nach dem Urteil die Rede und von weltweiter Signalwirkung.
„Es scheint immer unmöglich, bis es getan wird“ – der Leitspruch an der Wand im Büro von Donald Pols trifft den Sachverhalt auf den Kopf, auch wenn er eigentlich aus einem anderen Kampf kommt. Er steht auf einem Plakat mit dem Konterfei Nelson Mandelas. Auch Pols, der Direktor von Milieudefensie, stammt aus Südafrika.
Im Amsterdamer Hauptquartier der Organisation blickt er zurück auf die Bedeutung des Nigeria-Urteils. „Es ist uns gelungen, einen Durchbruch zu erreichen. Bisher hatten multinationale Konzerne eine Ausnahmeposition, was die Folgen ihres Handelns in Ländern des Globalen Südens angeht. Sie konnten tun, was sie wollten, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken machen zu müssen.“
Den Kern des Problems analysiert Pols so: „Juristische Rahmen sind national, sodass es bislang keine Instanz gab, die multinationale Unternehmen dazu zwang, ihre Verantwortung zu übernehmen.“ Das Urteil von 2022 räumt mit diesem Zustand nun auf drei Ebenen auf: „Erstens musste Shell die Verschmutzung beenden, wofür inzwischen Maßnahmen ergriffen wurden. Dann mussten sie den Dreck aufräumen, den sie hinterließen. Auch das ist geschehen. Und schließlich gibt es eine finanzielle Entschädigung für Menschen, die unter anderem wegen der Verschmutzung in purer Armut lebten und nun eine Zukunft haben.“
Für die Möglichkeit, fossile multinationale Betriebe künftig juristisch zu belangen, sei dieses Urteil „historisch“, so Pols. Der 51jährige ist seit der Klimakonferenz in Den Haag im Jahr 2000 mit dem Thema beschäftigt. 2009, nach dem gescheiterten Gipfel von Kopenhagen, bei dem er als Unterhändler beteiligt war, wollte er sich eigentlich zurückziehen. Die Abschlusserklärung enthielt zwar ein vages Ziel, die Erderwärmung auf 2 Grad zu beschränken, diese wurde aber von der Versammlung nicht angenommen.
Donald Pols von Milieudefensie
Deutlich wurde: Die Politik hängt dem Stand der Wissenschaft meilenweit hinterher. Pols erinnert sich: „Ich fragte mich: ‚Wir haben jahrelang darauf hingearbeitet, wissenschaftlich ist die Erderwärmung eindeutig belegt, es gibt Unterstützung in der Bevölkerung für Klimaschutz, er ist bezahlbar – warum funktioniert es dann nicht, ambitionierter Absprachen zu treffen?‘ Irgendwann wurde mir klar: Wir müssen uns auf die großen Verschmutzer richten.“
So wie Kopenhagen der Tiefpunkt von Pols’ Laufbahn war, nennt er den Shell-Prozess den Höhepunkt. Gerade in den knapp anderthalb Jahrzehnten seiner Dauer, betont er, habe sich das gesellschaftliche Klima so verändert, dass Konzerne auch für Aktivitäten ihrer Tochterunternehmen vor Ort verantwortlich gemacht werden. „Dadurch hat dieser Entscheid einen mäßigenden Effekt. Können Mutterunternehmen haftbar gemacht werden, weil Opfer vor Gericht ziehen, wissen sie: Das kann uns Geld kosten. Daher werden sie nachhaltiger handeln.“
Wie dieser Wandel im Einzelnen eintrat, erklärt die Amsterdamer Anwältin Channa Samkalden, die die Kläger vor Gericht in Den Haag vertrat. „Es war eine Kombination: Die juristische Landschaft veränderte sich, man sah immer mehr, dass Unternehmen eine Verantwortung haben, auch für ihre Tochterbetriebe. Das Zwischenurteil 2015 legte fest, dass das niederländische Gericht befugt ist, diesen Fall zu behandeln, und zugleich verfügte es, dass Shell mehr Material liefern muss, um die Ursachen der Öllecks zu beweisen. Damals dachte ich, das könnte ein Wendepunkt sein.“
Samkalden, spezialisiert auf Menschenrechte bei der renommierten Kanzlei Prakken d’Oliveira, blickt mit gemischten Gefühlen auf den Fall zurück: zum einen mit Genugtuung, weil es gelungen ist Shell haftbar zu machen. „Andererseits sind die vier ursprünglichen Kläger, genau wie viele andere Opfer der Ölkatastrophe im Nigerdelta, nicht mehr am Leben. Zudem sind das Leid und der Schaden dort so enorm, dass es gar nicht wieder gutzumachen ist, und so sehe ich den Prozess auch nicht als ungeteilte Erfolgsgeschichte.“
Samkalden hat hier einen Punkt: Die Lecks, für die Shell verurteilt wurde, stellen nur einen Bruchteil der Gesamtverschmutzung im Nigerdelta dar. Das erste dokumentierte Leck datiert von 1970. Allein in den letzten zehn Jahren zählt die nigerianische Regierung 9.828. 2020 und 2021 floss der Inhalt von 28.003 Fässern in die Umgebung. Vor allem in der Region Ogoniland ist die Verseuchung von Boden, Luft und Grundwasser weiträumig, Farmland kann nicht bestellt, in Flüssen kann nicht gefischt werden.
Zentraler Punkt für die Anwältin ist und bleibt, dass ein multinationaler Konzern haftbar gemacht werden kann, für die eigenen Aktivitäten und die seiner Tochterunternehmen. Damit könne eine Unrechtmäßigkeit auch an eine Entschädigung gekoppelt werden, so Samkalden. „Das ist die Sprache, die Unternehmen sprechen. Dieses Risiko von Haftbarkeit müssen sie jetzt mit einbeziehen. Und obwohl sich dieser Fall nicht eins zu eins auf andere übertragen lässt, ist es klar, dass es neue Prozesse geben und die Rechtsprechung beim Klimaschutz eine wichtige Rolle spielen wird.“
Channa Samkalden, Anwältin
Im Shell-Hauptquartier im Norden Den Haags, durch die Berichte über mehrere Klimaproteste inzwischen im ganzen Land bekannt, herrscht unterdessen das gleiche geschäftige Treiben wie immer. Menschen mit Aktentaschen eilen die Treppenstufen in das braun geklinkerte Gebäude hoch und runter.
Shell verweigert die Verantwortung
Das Logo weht auf einer weißen Flagge im Wind, ganz oben ziehen sich sechs weitere goldene Muscheln über die Fassade. Kameras überwachen den Außenbereich. Im Foyer hinter dem Empfang erstreckt sich ein Reklamebildschirm mit der Botschaft „Providing energy around the clock“, Energielieferung rund um die Uhr.
Ein Gespräch zum Nigeria-Prozess will man im Hauptquartier nicht mehr führen. Stattdessen verweist ein Sprecher auf eine Mitteilung von Ende 2022. Darin wird die Übereinkunft vermeldet, das Tochterunternehmen Shell Petroleum Development Company of Nigeria Ltd werde den „Gemeinschaften in Oruma, Goi und Ikot Ada Udo in Nigeria, die zwischen 2004 und 2007 von vier Öllecks betroffen waren“, 15 Millionen Euro bezahlen.
Ausdrücklich heißt es, damit handele man lediglich die ausstehenden Forderungen des Gerichts ab, erkenne damit aber nicht die eigene Haftung an. Shell beugt sich so dem Urteil, verweigert aber weiterhin die Verantwortung für die Öllecks. Weiterhin habe man ein System zur Meldung von Lecks installiert und die Anlagen saniert.
„Im Prinzip haben wir dem nichts hinzuzufügen“, lässt der Sprecher ausrichten. Auf Nachfrage betont er freilich, der Greenpeace-Bericht „berücksichtigt die Problematik des Öldiebstahls nicht, die unter anderem mehrfach von den UN thematisiert wurde“. Lecks durch Explosionen, Brand und Zersetzung von Pipelines sind hinlänglich bekannt.
Neue Förderprojekte im Blick
Shell betont dennoch seit Jahren, Diebstahl und Sabotage seien für die meisten Lecks verantwortlich. Der Sprecher verweist auf „nigerianische Medien“, die den Umfang des Problems deutlich machten. 2022 etwa gingen rund 88 Prozent der großen Öllecks bei SPDC-Pipelines auf „illegale Aktivitäten dritter Parteien“ zurück. „Hierbei belassen wir es“, so der Sprecher. Das Gericht sah diese Ursache der Lecks allerdings nicht als ausreichend bewiesen an.
Channa Samkalden, Anwältin
Unbestritten ist derweil, dass die Nebenwirkungen fossiler Industrie, die vielen Europäer:innen vor allem aus den Nachrichten bekannt sind, wie die Fossile Fuel File Crime festhält: „Für Menschen in stark vom Klimawandel betroffenen Ländern im Globalen Süden dagegen sind diese eine kalte und harsche Realität.“
Just diese Feststellung bringt uns zurück nach Wien, zum Protest gegen die Europäische Gas-Konferenz. Und zu dem, was Lisa Göldner eine „neue fossile Infrastruktur“ nennt. Um die wird nämlich seit dem Ukrainekrieg mit aller Macht verhandelt, wobei mehrere Länder des Südens extraktivistische Begehrlichkeiten wecken.
Ein aktuelles Beispiel: die in Uganda geplante East African Crude Oil Pipeline, die das dort geförderte Öl an die Küste Tansanias transportieren soll, um es von dort zu verschiffen. Die Bohrrechte im Reservoir im Albertsee haben unter anderem Total sowie die China National Offshore Oil Corporation. Uganda erhofft sich einen Weg aus der Armut und Arbeitsplätze, Aktivist:innen vor Ort befürchten verheerende Umweltschäden.
Gerade weil die Politik noch immer langsam auf eine Publikation wie die Fossil Fuel Crime File reagiert, bedarf es Gerichten, die der Umsetzung von Klimaschutzvereinbarungen Nachdruck verleihen.
Lisa Göldner betont, dass sich der Diskurs bereits verschoben habe: „Wir beobachten, dass immer mehr andere Akteure über fossile Konzerne als Verbrecher oder Kriminelle sprechen, insbesondere in Kontexten, wo Klimaaktivist:innen kriminalisiert werden“. Ihre – vorsichtige – Bilanz: „Es lohnt sich, weiter zu recherchieren und insbesondere mit Jurist:innen und Betroffenen nach Wegen zu suchen, die Konzerne vor Gericht zur Rechenschaft zu ziehen.“
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