Forscher übers Energiesparen: „Heizperiode um vier Wochen kürzen“
Mit Energiesparen könnte Deutschland seinen Verbrauch um bis zu 15 Prozent senken, sagt Immanuel Stieß. Zum Beispiel mit W-Lan statt mobilen Daten.
taz: Die russische Regierung kürzt die Gaslieferungen. Wir haben deshalb mit Knappheit und hohen Preisen zu tun. Sie und weitere Expert:innen schreiben nun, Energiesparen sei „sofort umsetzbar und unschlagbar kostengünstig“, etwa in Büros, Supermärkten und Schulen. Können Sie das erklären?
Immanuel Stieß: Mehr als die Hälfte ihrer Endenergie verbrauchen Gewerbe und Handel für Heizung und warmes Wasser. Etwa 50 Prozent davon werden mit Gas erzeugt. Noch immer laufen viele Heizungsanlagen in Fabriken und Geschäften, selbst wenn niemand arbeitet. Das gilt oft auch für die Klimatisierung und Beleuchtung. Deshalb sollte man nachts beispielsweise die Temperatur in den Heizungen verringern und die Lampen ausschalten.
Die Heizungen in Schulen nachts auszustellen führt dazu, dass die Räume morgens kalt sind, wenn die Schüler und Schülerinnen ankommen.
Es geht darum, die Temperatur um einige Grad abzusenken. Am frühen Morgen ein paar Stunden vor Unterrichtsbeginn kann man sie wieder hochregeln. Aber das setzt die entsprechende Heiztechnik voraus, die in alten Gebäuden nicht überall vorhanden ist. Und jemand muss sich darum kümmern.
Sie plädieren auch dafür, die öffentliche Außenbeleuchtung in Städten und die Leuchtreklamen dort zeitweise zu reduzieren. Viele Leute fühlen sich im Dunkeln aber unsicher.
Wo Beleuchtung sicherheitsrelevant ist, soll man sie nicht reduzieren. Es gibt jedoch viele Orte, an denen sie keinen Sinn hat, weil sich dort nachts niemand aufhält, etwa Ausfallstraßen oder Parkplätze von Einkaufszentren. Einbrüchen kann man mit Bewegungsmeldern vorbeugen, die die Lichter kurzfristig einschalten. Ein gutes Beispiel für unnötigen Energieverbrauch sind auch die großen Leuchtdisplays für Werbung in U-Bahn-Stationen. Es hat keinen Sinn, dass sie laufen, wenn die Bahnhöfe nachts geschlossen sind. Nach unseren Berechnungen verbraucht ein großer U-Bahnhof damit in einem Jahr so viel Strom wie 16 Vier-Personen-Haushalte.
Den Privatleuten empfehlen Sie unter anderem „Download statt Streaming, WLAN statt mobiler Daten“. Macht das einen nennenswerten Unterschied?
Hier spielt nicht die kleine Einsparung zuhause die entscheidende Rolle, sondern der Energieverbrauch der Infrastruktur für die Datenübertragung. Mobilfunknetze benötigen etwa viermal so viel Energie wie das Festnetz, um die gleiche Menge Daten zu übertragen.
Ich habe gerade mein 15 Jahre altes Lexikon weggeworfen. War das ein Fehler – Sie raten zu „nachschlagen statt googeln“?
Wikipedia ist zwar unschlagbar aktuell, eine Seite aufzurufen setzt jedoch die ganze Infrastruktur der Rechenzentren in Gang. Bücherlesen erfordert keine zusätzliche Energie. Das sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, bevor wir die nächste Suchanfrage starten.
ist beim Institut für sozial-ökologische Forschung Experte für Energie und Klimaschutz im Alltag. Zusammen mit 40 Expert:innen hat er kürzlich das Papier „Energiesparen als Schlüssel zur Energiesicherheit“ veröffentlicht.
Unter anderem Klaus Müller, der Chef der Bundesnetzagentur, brachte ins Gespräch, dass Vermieter die Zentralheizungen runterregeln und nicht mehr verpflichtend mindestens 20 Grad Raumtemperatur anbieten müssen. Eine gute Idee?
Die Temperatur für alle Miethaushalte zwangsweise abzusenken, ist nicht sinnvoll. Sinnvoll ist vielmehr, die gesetzliche Möglichkeit für eine Absenkung zu schaffen. Vermieter sollten von dieser Möglichkeit jedoch mit Augenmaß Gebrauch machen. Schließlich ist das Wärmebedürfnis sehr individuell. Wichtig erscheint, dass die Wohnungswirtschaft die Mieterinnen und Mieter besser dabei unterstützt, ihren Energieverbrauch zu drücken, etwa durch den Einbau digitaler Thermostate. Gesetzlich könnte man auch darüber nachdenken, die offizielle Heizperiode, die jetzt von Oktober bis April dauert, vorne und hinten um jeweils zwei Wochen zu verkürzen.
„Das Potenzial für Energiesparen“ sei „bei weitem nicht ausgeschöpft“, schreiben Sie. Welcher Anteil unseres Energieverbrauchs lässt sich schnell und praktikabel einsparen?
In Gebäuden könnten wir den Verbrauch kurzfristig um 15 bis 20 Prozent verringern. Die Immobilienbesitzer müssten die Wärmeverteilung zwischen den Heizkörpern in mehreren Stockwerken optimal einstellen. In Absprache mit den Mietern könnten sie auch die Vorlauftemperatur reduzieren, auf die das Wasser aufgeheizt wird. Dort sind auch die Rohre und die Kellerdecken zu dämmen. Mit weiteren Maßnahmen in Gebäuden und im Verkehr lässt sich der Energieverbrauch in Deutschland insgesamt zügig um ungefähr zehn bis 15 Prozent drücken.
Was raten Sie der Regierung – wo sollte sie zuerst ansetzen?
Der Wirtschaftsminister könnte einen Aufruf zum Energiesparen verschicken und die wirkungsvollsten Maßnahmen zum Energiesparen erklären. Außerdem sollte er sich mit Handwerk und Baufachhandel zusammensetzen, um eine Heizungsoffensive zu starten. Ein wichtiger Punkt ist, dass ausreichend Fachkräfte und Dämmstoffe zur Verfügung stehen.
Dennoch plädieren Sie nicht nur für Empfehlungen und individuelle Verhaltensänderungen, sondern auch für Ordnungsrecht. Was verstehen Sie unter Energiesparquoten für Energieversorger und Netzbetreiber?
Großbritannien und Italien haben gute Erfahrungen mit sogenannten weißen Zertifikaten gemacht. In einem solchen Modell müssten alle Energieversorger den Verbrauch ihrer Kunden jährlich um einen bestimmten Prozentsatz reduzieren. Wenn sie diese Energieeinsparung bei ihren Abnehmern erreichen, bekommen die Versorger Zertifikate. Sparen sie mehr ein als die staatlich festgesetzte Quote, können sie die Zertifikate verkaufen. Es entsteht ein finanzieller Anreiz zur Verringerung des Verbrauchs. Dieser neue Handel mit Zertifikaten für Energiesparen stünde neben dem schon existierenden Emissionshandel für Kohlendioxid-Zertifikate.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid