Forensikerin über das Böse: „Radikalisierung macht alles einfach“
Nahlah Saimeh begutachtet die Schuldfähigkeit von Menschen, die Gewaltverbrechen begangen haben. Ein Gespräch über dämonisierendes Denken.
Das Interview mit Nahlah Saimeh findet in einer Hotellobby in Bremen statt. Immer wieder schwappen dabei die Worte „das Böse“ durch den Raum. Irritiert blicken Leute, die in der Nähe sitzen, dann auf.
taz am wochenende: Frau Saimeh, Sie beschäftigen sich mit dem Bösen. Setzt das voraus, dass man weiß, was das Gute ist?
Nahlah Saimeh: Ihre Frage ist eine philosophische. Ich bin aber forensische Psychiaterin und habe mich auf psychiatrische Fragen in der Kriminalität spezialisiert. Das berührt zwar das Thema des Bösen, liefert aber keine erschöpfende Antwort.
Sie werden in den Medien doch ständig zum Bösen befragt.
Aber mein Blick darauf ist kein moralisierender. Wenn Herr A Herrn B ersticht, braucht es keine moralische Bewertung von mir, dass man das nicht tut.
Was braucht es dann?
Eine Antwort auf die Frage, was den Betreffenden befähigt oder verleitet, so destruktiv zu handeln.
Welches ethische Gerüst liegt Ihrem Vorgehen dennoch zugrunde?
Was eine Straftat ist, steht im Strafgesetzbuch. Jeder Mensch hat ein Anrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit. Ich begutachte ja nur Leute, die vor dem Hintergrund der strafrechtlichen Norm Delikte begangen haben.
Aber steckt nicht in jedem von uns Gut und Böse?
Auf jeden Fall. Wir alle haben die Möglichkeit zum konstruktiven Handeln und wir haben auch alle die Befähigung zu destruktivem Handeln.
Und wie definieren Sie destruktives Handeln?
Das ist im Grunde alles, was den anderen in seinem So-Sein als Mensch missachtet und ihm psychisch oder physische Gewalt antut. Im Grunde gilt es für jede lebendige Kreatur.
Sind Sie da nicht auf Widersprüche gestoßen? Wenn ansonsten konstruktiv Handelnde eine Fliege erschlagen oder einen Waschbären vergiften?
Leben
Nahlah Saimeh wurde 1966 in Münster geboren. Ihr Vater ist palästinensischer Herkunft, die Mutter niederländisch-deutscher Abstammung. Saimehs Eltern trennten sich, als sie noch sehr klein war.
Arbeit
Nahlah Saimeh studierte Medizin und machte ihren Facharzt in Psychiatrie. Sie war 15 Jahre lang ärztliche Leiterin das LWL-Zentrums für Forensische Psychiatrie Lippstadt. Seit 2017 ist sie als forensische Gutachterin selbständig, zudem ist Saimeh Autorin diverser Bücher und arbeitet als Dozentin.
Wir leben doch alle ständig mit Widersprüchen. Eine Fliege zu erschlagen, ist nach dem Strafgesetzbuch nicht verboten, einen Waschbären zu vergiften schon. Fakt ist, wir geben uns unterschiedliche Maßstäbe, destruktiv zu handeln.
Was machen Sie als forensische Gutachterin genau?
Ich erstelle Gutachten zur Schuldfähigkeit und zur Gefährlichkeitsprognose. Gutachter wie ich kommen ins Spiel, wenn bei einem Angeschuldigten zu prüfen ist, ob er zum Tatzeitpunkt vermindert schuldfähig oder schuldunfähig war. Solche Verdachtsmomente ergeben sich etwa, wenn jemand bei seiner Festnahme oder Vernehmung wirre Ideen äußert, wie, er werde von Aliens bestrahlt oder er höre Stimmen.
Suchen Sie nach der Krankheit und nicht nach der Motivation?
Schuldfähigkeit hängt davon ab, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Das schreibt man jedem Erwachsenen zu. Nur im Falle schwerer psychischer Störungen gibt es Einschränkungen. Wenn es keine psychische Störung gibt, bleibt immer noch die Frage, warum hat jemand was getan? Denken Sie an eine Tötung bei einem Scheidungskonflikt. Wo man sich fragt, warum erschlägt der 55-jährige Studiendirektor seine Frau? Was macht diese Persönlichkeit so vulnerabel, dass es zu dieser Tat kommt? Das entscheidet dann nicht über Schuld oder Nichtschuld, erklärt aber ein Stück weit die Motivation.
Warum sind am Ende die meisten Leute doch keine Mörder?
Die meisten können sich bei uns einigermaßen ungestört entwickeln, haben tragfähige soziale Bindungen und eine hinreichend emotionale Kompetenz im Elternhaus gelernt. Wir leben in einer Gesellschaft, wo Gewalt zunehmend negativ besetzt ist. Gesellschaften, in denen Gewalt negativ konnotiert ist, entwickeln sich auch zu gewaltarmen Gesellschaften. Das Töten eines Menschen ist das größte Tabu.
Wobei die Geschichte viele Beispiele kennt, wo das Tabu nichts nutzte.
Auch da gilt: Wir geben uns die Legitimation zu töten. Menschen tun es aus Eifersucht, Neid, Rache, Konkurrenz. Länder aus geopolitischen und ökonomischen Interessen. Aber es ist trotzdem als Tabu verankert. Individuell spielt eine Rolle, wie schnell jemand kränkbar ist, wie impulsiv, wie reizbar, oder schlichtweg wie kaltblütig berechnend. Es sind halt nicht alle Leute nett. Aber jeder weiß, dass Töten ein ganz zentrales Tabu bricht.
Wenn Ihnen solche Fragen gestellt werden, verweisen Sie oft darauf, dass wir in einer extrem komplexen Welt leben, die bei manchen zu Überforderung führen kann. Wie meinen Sie das?
Ich verweise auf Komplexität vor allem dann, wenn es darum geht, Radikalisierung zu verstehen. Komplex ist unsere Gesellschaft, weil viele unterschiedliche Perspektiven, Realitäten und Wahrheiten nebeneinander existieren. Gesellschaften sind heute weniger normierend, als das früher der Fall war. Die daraus resultierenden Freiheiten erfordern ein hohes Maß an Eigenverantwortung und damit ein hohes Maß an Kompetenz, dem eigenen Leben eine Struktur zu geben.
Soll heißen: Man muss sich selbst das Korrektiv sein?
Genau. Je traditioneller eine Gesellschaft, desto geringer sind meine eigenen Freiheitsgrade. Wenn ich sehr individualistisch groß werde, darf ich viele Entscheidungen treffen – muss es aber auch tun, um mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Komplex wird unsere Welt noch dazu, weil unglaublich viel Information auf uns einstürmt, die wir ständig filtern müssen. Der Mensch hat ein Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Verlässlichkeit. Wir leben davon, dass wir uns die Welt jeden Tag einfacher machen, als sie ist. Das ist auch überlebenswichtig. Radikalisierung aber macht alles supereinfach, verknüpft die eigene Haltung mit moralischer und menschlicher Überlegenheit und lädt damit alles ideologisch auf.
Von der Komplexität des Lebens zur Radikalisierung. Das geht mir jetzt zu schnell.
Das Grundbedürfnis des Menschen ist doch Überschaubarkeit. Wir wollen uns in der Welt, in der wir leben, zurechtfinden und sie soll unseren Vorstellungen entsprechen. Das tut sie aber nicht. Und wir haben in modernen Gesellschaften das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit. Staat und Gesellschaft müssen Strukturen schaffen, in denen Menschen sich so entwickeln können, dass sie, gemessen an ihren individuellen Fähigkeiten, Selbstwirksamkeit erfahren, um ihr Leben zu gestalten. Das wollen die meisten, aber schaffen es nicht alle gleichermaßen.
Und wo läuft die Diskussion Ihrer Meinung nach da aus dem Ruder, sodass Rassismus und Ideologie mit ins Spiel kommen?
Auch diese Frage ist komplex. Ich bemerke schon seit sehr vielen Jahren einen Hang zur rhetorischen Zuspitzung und Vereinfachung. Einige dieser Narrative merken wir nicht mal mehr, weil wir uns so daran gewöhnt haben. Denken Sie mal an den ständigen Gegensatz zwischen „arm“ und „reich“. Darauf wird bei uns vieles verkürzt. Dass beispielsweise wenig Abiturienten aus sozial sehr schwachen Schichten kommen, kann man aber doch nicht auf einen reinen Euro-Betrag reduzieren, weil auch enorm viele soziokulturelle Aspekte in der Erziehung eine Rolle spielen. Es ist banal, aber bestimmte Jobs werden Sie nicht bekommen, weil Ihre Aussprache nicht klar ist, Gangbild nicht stimmt, wenn Sie bestimmte soziale Codes nicht beigebracht bekommen haben.
Ist das nicht alles erlernbar?
In der Tat, es ist kein Geheimwissen. Aber man muss es halt lernen. Ein Sozialstaat, der die Ressourcen seiner Bürger wirklich nutzen will, muss für den möglichen Ausgleich soziokultureller Erziehungsdefizite sorgen. Der Segen der Bürgergesellschaft ist ja nun, dass derjenige, der über ein Mindestmaß an sozialen Kompetenzen, Tagesstruktur und Selbstdisziplin verfügt, grundsätzlich sozial aufsteigen kann. Menschen wie Gerhard Schröder sind doch ein Beispiel dafür. Dass ich jetzt mit Ihnen dieses Gespräch führen darf, auch. Ich komme nicht aus einem Akademikerhaushalt. Meine Mutter war eine alleinerziehende Büroangestellte und keine Chefsekretärin. Da wird mir zu viel ideologisch an Dingen festgemacht.
Wie?
Vereinfachende Narrative führen zu einer Schwarz-Weiß-Einteilung und damit immer zu Feindbildern. Feindbilder definieren Menschen, die an irgendeinem Übel Schuld sind, allein aufgrund der Tatsache, dass es sie gibt. Unsere Realität ist aber „billion shades of grey“.
Meinen Sie, weil die Art, wie wichtige Gesellschaftsfragen gestellt werden, zu sehr in einem Schwarz-Weiß-Muster verharrt, wird das zum Einfallstor für Extremismus?
Ja, das denke ich. Nehmen Sie mal die aufgeladene Diskussion über Kriminalität und Flüchtlinge. Da kann man diese polarisierende Vereinfachungstendenz schön sehen. Weltweit, also auch in Deutschland, ist Gewaltkriminalität überwiegend ein Problem junger Männer zwischen 16 und 30 Jahren. Wenn also eine große Gruppe junger Männer im Hauptrisikoalter und dann noch unter sozial schwierigen Bedingungen zahlenmäßig ansteigt, wie es 2015 war, dann muss ich doch sagen können, dass das die Kriminalitätsstatistik eine Zeit lang verändern wird, ohne dass mir Ausländerfeindlichkeit vorgeworfen wird. Das sagt nichts über den individuellen Mann. Das ist ein gruppenstatistisches Phänomen.
Die eine Ideologie verknüpft das mit xenophoben Ansichten, die andere Ideologie deklariert diese Zusammenhänge per se als ausländerfeindlich. Nein, das ist nicht ausländerfeindlich. Ein Mann, der eine Frau vergewaltigt, ist ein Vergewaltiger und es ist völlig egal, ob der aus Schleswig-Holstein oder aus Libyen kommt. Außerdem ganz wichtig: Gegenläufige Ideologien beflügeln sich immer gegenseitig, weil nämlich der ideologische Gegenpart jeweils die Legitimation der eigenen Gruppe darstellt.
Behandeln Sie in Ihrem Beruf zunehmend Fälle, wo andere Kulturwahrnehmungen auf deutsche Vorstellungen treffen?
Es gibt natürlich Männer, die im Ruhrgebiet geboren sind, deren Eltern einen Migrationshintergrund haben und die sich auf die Herkunftskultur berufen, wo ich mir dann denke: Was willst du mir erzählen, du bist doch in Gelsenkirchen geboren? Was willst du mir jetzt sagen? Da werden Dinge auch instrumentalisiert.
Was unterschiedliche Kulturen angeht: Sie heißen nicht Erika Mustermann, sondern Nahlah Saimeh.
Väterlicherseits habe ich arabische Wurzeln. Ich bin aber im katholischen Münster geboren, Deutsch ist meine Muttersprache und ich bin Deutsche, auch von meiner ganzen Sozialisation, her. Das habe ich maßgeblich der Schule zu verdanken. Meine Mutter stammt aus Holland und ihre Generation erlebte mit dem Krieg das Deutsche negativ. Für mich aber, als Nachkriegsgeborene, ist dieses Land mit seiner Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren ungeheuer positiv besetzt. Durch die frühe Scheidung meiner Eltern bin ich mit der arabischen Kultur nicht in Kontakt gekommen. Als Kind musste ich mich immer rechtfertigen, warum ich noch nie in einem arabischen Land gewesen war, und ich dachte: Warum sollte ich?
Gibt Ihnen Ihr Name aber freie Hand, sich zu Gesellschaftsthemen radikal zu äußern.
Wenn Sie jetzt eine paradoxe Formulierung wollen: Ich bin radikal gegen jede Radikalisierung. Schon die Formulierung in Ihrer Frage zeigt, wie sehr es als radikal empfunden wird, wenn man nicht auf ein vorgefertigtes ideologisches Wägelchen aufspringt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Sie beschäftigen sich auch mit Hasskriminalität. Vor nicht allzu langer Zeit bewegte der Attentäter von Halle. Hat er mit einer Überzeugung gehandelt, die Sie „dämonisierendes Denken“ nennen?
Das dämonisierende Denken ist ein Instrument für all jene, die sich radikalisieren und extremistischem Gedankengut frönen. Das dämonisierende Denken geht davon aus, dass alle Unbill in der Welt einen singulären Verursacher hat. Unglück und Leid wird nicht als Bestandteil des Lebens verstanden, sondern es gibt immer einen Schuldigen. Auf den wird was als negativ angesehen wird projiziert. Und daraus wird die Utopie einer optimalen Gesellschaft entwickelt, in der alles sauber, bunt und rein ist – vorausgesetzt, die, die für das verantwortlich gemacht werden, was nicht gut läuft, sind weg.
Und dann?
Es gibt also diese Idee der absoluten Reinheit, Makellosigkeit, Homogenität. Das Leben an sich, das Prinzip des Lebendigen, ist aber immer inhomogen, ist Vielfalt. Das dämonisierende Denken geht davon aus, dass der andere im Grunde kein Mensch ist. Es führt zum Zusammenbruch des humanistischen Denkens, der Zuerkenntnis des anderen als Mensch. Er wird zur Fliege an der Wand, die ich totschlagen kann. Wer auf dieser Ebene ist, gibt sich schnell die Legitimation, andere Menschen auszulöschen.
Die Täter drehen alles um.
Die durchdenken nicht die Antihaltung, in der sie stecken. Bei Anders Behring Breivik kann man das gut sehen. Er war gegen den Islam, gegen Feminismus, gegen Marxismus, gegen den Sozialstaat. Wo man dann denkt, ja schon, aber wie hängt das zusammen – gegen Islam und gegen Frauenrechte? Der Herr aus Halle hatte auch viele verschiedene Überzeugungen, wobei auffällt, dass Antifeminismus immer dabei ist. Aber das ist alles nicht zu Ende durchdacht. Es werden narrative Schablonen aneinandergesetzt, in die nur Hass, auch der Hass auf sich selbst, reingegossen wird.
Warum Hass auf sich selbst?
Der Attentäter aus Halle hat sich vor seiner eigenen Kamera ständig als Loser bezeichnet, und niemand ist gerne einer. Wir alle wollen positive, soziale Resonanz. Das gehört zum Menschsein. Dann wurde er in seiner Losermentalität noch verstärkt: Die Tür zur Synagoge hat gehalten, die Waffe nicht funktioniert. Und da kommt dann diese Frau und fragt, was das soll. Dann wird der Vektor der Aggression neu ausgerichtet und die Frau wird hingerichtet. Bei der Dönerbude war der Erschossene ein deutscher Fußballfan.
Amok und Koma, die gleichen Buchstaben.
Oh, schön, das ist mir bisher nicht aufgefallen.
War er ein Amokläufer und innerlich tot?
Er war innerlich angefüllt von Hass und großer Verzweiflung. Aber dieser Hass ist nicht aushaltbar. Er braucht ein Ventil im Außen. Dafür gibt es im Netz diverse primitive Narrative und eines davon ist eben der Antisemitismus.
Der Mann war Gott.
Oh, das ist ein ernster Satz. Wir sagen das so, wenn jemand über den Tod anderer aus Anmaßung entscheidet. Aber das ist nicht gut. Gott ist doch ein Begriff für etwas sehr Tiefes, das größer ist als unser menschliches Erkenntnisvermögen. Insofern ist so ein Täter wohl kaum Gott. Und dann fällt einem der Theologe Meister Eckhart ein, der sagt, dass jedem Seelengrund das Göttliche selbst innewohne. Der Täter von Halle ist strafrechtlich ein Mörder und ohne Zweifel ein sehr, sehr unglücklicher Mensch.
Woher kommt Ihre Leidenschaft, sich mit derartigen Themen zu beschäftigen?
Mich interessiert die tiefere Dimension des Menschseins.
Und die suchen Sie über das Böse?
Wenn ich mich damit befasse, denke ich nicht in moralischen Kategorien. Ich liebe meine Arbeit und ich begreife mich nicht als grundlegend anders als der, der vor mir sitzt. Was mich von ihm trennt, ist minimal. Ich identifiziere mich nicht mit ihm, bagatellisiere nicht die Straftat, aber als Menschen sind wir gleich. Im Privaten finde ich Tiefe übrigens in der Kunst.
Wirklich keine Faszination für das Böse?
Nein. Sie werden mich auch nie in einem Grusel-, Horrorfilm oder Splattermovie gehen sehen. Gewalt heißt immer Scheitern.
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