Folgen der Klimakrise: Als die Tiere den Wald verließen
Getrieben vom Klimawandel wandern Arten in Richtung der Pole und die Berge hinauf. Die Menschen wollen ihnen dabei helfen. Aber wie geht das?
C amille Parmesan hatte einen ungeheuren Verdacht. Vier Tage hatte die Biologin von der Universität Texas hier in dieser verlassenen mexikanischen Wildnis nach einem Scheckenfalter gesucht, von dem sie dank Museumsarchiven wusste, dass er sich an jenen Orten einmal aufgehalten hatte. Sie fand in jenen Frühlingstagen 1993 die bevorzugte Wirtspflanze der Art, und noch nachts im Zelt träumte sie davon, wie sie Blatt für Blatt umbog, um auf der Unterseite nach Eiern und Raupen zu suchen – ohne Erfolg. Obwohl die Habitate einen intakten Eindruck machten, waren fast alle Populationen von Euphydryas editha verschwunden.
Mit ihrem alten Toyota-Bus fuhr die damals 31-Jährige die Westküste Nordamerikas über Monate hoch und runter. Und stellte fest, dass die Populationen des hitzesensitiven Scheckenfalters in Kanada meist erhalten geblieben waren, während sie im Süden der USA und in Mexiko vielerorts verschwunden waren.
Hatte sie die ersten Auswirkungen des Klimawandels beobachtet? War sie Zeugin geworden, wie eine Tierart ihr Ausbreitungsgebiet über einen ganzen Kontinent hinweg in kühlere Gefilde verlagert? „Es war so einfach und klar“, erinnert sie sich im Rückblick.
Bei dem Scheckenfalter blieb es nicht: Farne breiteten sich weiter oben auf den Alpengipfeln in Europa aus. Mexikanische Wühlmäuse verließen im Südwesten der USA ihre Habitate und kolonisierten Gebiete weiter im Norden. Und abseits der Küste Kaliforniens fand ein regelrechter Austausch der Fischgemeinschaften statt; während die Bestände der Kälte liebenden Arten abnahmen, nahmen jene der Wärme liebenden Arten aus dem Süden zu.
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In Großbritannien zogen Vogelarten dauerhaft nach Norden, ebenso in den USA. Und in Kolumbien wurden Gelbfiebermücken erstmals auf einer Höhe von 2.200 Metern gesichtet.
Ein Jahrmillionen altes Muster
Parmesan und ihre Kolleginnen und Kollegen fanden heraus, dass hinter diesem merkwürdigen Verhalten ein Muster steckte. Ein uraltes Phänomen hatte eingesetzt, das seit Jahrmillionen Tiere und Pflanzen rund um den Erdball in Bewegung bringt, je nachdem, ob sich das Klima erwärmt oder abkühlt. Etwa alle 100.000 Jahre setzt auf der Erde eine Warmzeit ein und treibt die Arten in Richtung der Pole und die Berge hinauf. Dort suchen sie nach Abkühlung. Kühlt sich die Erde hingegen wieder ab, strömen sie in die andere Richtung.
Dieser lange Marsch der Arten ist nicht neu. Neu aber sind die Bedingungen, unter denen er stattfinden würde: Die Welt wurde vom Menschen in einen Flickenteppich verwandelt, überzogen mit Siedlungen, Acker- und Weideflächen, zerschnitten durch Straßen und Kanäle. Aus der Perspektive der Tiere und Pflanzen sind das Wüsten und Schluchten, mit denen der Mensch die Wildnis in ihre letzten Refugien gedrängt hat.
Doch statt sich dort ohnmächtig ihrem Schicksal zu ergeben, wandern die Arten nun los. Ein uraltes Programm der Natur ist angelaufen – in Gang gesetzt durch den menschengemachten Klimawandel. Zehntausende Arten haben Biologinnen und Biologen inzwischen dabei beobachtet, wie sie sich auf den Weg gemacht haben. Von winzigen Kieselalgen bis hin zu Elefanten.
Landbewohner ziehen im Schnitt 17 Kilometer pro Jahrzehnt weiter, Meeresbewohner sogar 72 Kilometer. „Das Überraschende ist, dass wir das auf jedem Kontinent und in jedem Ozean sehen“, sagt Parmesan, die heute am Nationalen Forschungszentrum in Toulouse arbeitet. „Es gibt keine Gegend auf der Erde, wo das nicht passiert, und es gibt keine Gruppe von Organismen, die nicht betroffen ist.“
Die australische Biologin Greta Pecl vergleicht die Wanderungen mit einem „lebenden Tsunami“, der über die Welt schwappt, vom Äquator nach Norden in Richtung Nordpol und nach Süden in Richtung Südpol. Dieser stellt eine ernsthafte Herausforderung für die Ordnung des Menschen dar – insbesondere für die Europäerinnen und Europäer: Ein wandernder Makrelenschwarm hat zwischen Island und der EU einen Handelskrieg ausgelöst; die Asiatische Tigermücke hat es bis nach Berlin geschafft und dürfte mittelfristig die Gesundheitsbehörden vor ernsthafte Probleme stellen. Selbst unsere Wälder wandern infolge der steigenden Temperaturen und ordnen sich auf der Landkarte neu an.
Die meisten Hummelarten kommen nicht vom Fleck
Aber nicht alle Arten schaffen es, vor dem Klimawandel zu fliehen und sich in kühlere Gefilde abzusetzen. Viele sind zu langsam oder gelangen gar nicht über die Schluchten und Wüsten der Menschen. Stattdessen schrumpft ihr Habitat. Das gilt auch für mobile Arten, bei denen man es nicht erwartet, Hummeln zum Beispiel: In Europa und Nordamerika verlieren die pelzigen Brummer bereits ihre südlichen Lebensräume und haben sich im Schnitt schon 300 Kilometer nach Norden zurückgezogen, wie eine Science-Studie aus dem Jahr 2020 zeigt.
Am nördlichen Ausbreitungsrand kommen die meisten Hummelarten nicht vom Fleck, sie können also die kühleren Gebiete nicht besiedeln. Warum das so ist, weiß niemand. Ökologen vergleichen das mit einem Teppich, der sich von Süden nach Norden einrollt.
Wenn irgendwann die thermische Schwelle der Tiere und Pflanzen überschritten ist und sie keine Chance mehr haben, der Hitze durch das Wandern zu entkommen, gehen sie zugrunde. Hunderttausende von Arten drohen deshalb auszusterben, sollte die Erderwärmung nicht unter zwei Grad Celsius begrenzt werden.
Vernetzte Schutzgebiete statt Flickenteppich
Auch deshalb hat sich die Weltgemeinschaft auf dem Artenschutzgipfel in Montreal im Dezember 2022 auf ein Abkommen verständigt. Darin verpflichten sich die Länder, bis zum Ende des Jahrzehnts insgesamt 30 Prozent der Erdoberfläche mit Schutzgebieten zu bedecken – und damit die derzeitig geschützte Fläche fast zu verdoppeln. Die Schutzgebiete sollen miteinander vernetzt sein, ohne Hindernisse wie Betonwüsten oder Äcker, damit sich die Arten zwischen ihnen frei bewegen können. So könnten sie auf den Klimawandel reagieren – wie sie es seit Jahrmillionen tun. Bisher existiert das Vorhaben vor allem auf dem Papier, aber es gibt bereits Orte, die zeigen, dass das Konzept funktioniert.
Am Anfang ging es nur um ein paar Laufkäfer. Sie sollten aus ihrem von Straßen eingeengten Habitat befreit werden. Später wurde daraus der Plan, einen ökologischen Korridor für Wildtiere aller Art in Südbrandenburg zu errichten und diesen im Laufe der Zeit von Polen über Brandenburg bis nach Sachsen-Anhalt zu spannen. Und irgendwann vielleicht sogar über ganz Mitteleuropa.
Nach der Jahrtausendwende gründeten Naturschutzorganisationen und das Land Brandenburg die Stiftung Naturlandschaften Brandenburg. Diese kaufte nicht nur vier ehemalige Truppenübungsplätze in Brandenburg auf, sondern wollte diese auch untereinander und mit nahen Naturparks vernetzen, um den Genaustausch und die klimabedingten Wanderungen von Wildtieren zu unterstützen.
„Die meisten Arten können nicht isoliert bestehen, wie auf einer Insel“, erklärt Anika Niebrügge, Sprecherin und Koordinatorin des Projekts. „Wenn drumherum Barrieren sind, funktioniert es nicht auf Dauer.“ Denn wenn sich ihr Lebensraum erwärmt und ihre thermische Schwelle überschreitet, kann das Überleben der Art gefährdet sein. Ebenso durch fehlenden Austausch, der zu Inzucht führen kann.
Doch so einfach war die Vernetzung dann doch nicht. Zunächst mussten die Planer erstmal festlegen, wem sie überhaupt zur Wanderung verhelfen wollten. Sie entschieden sich für sogenannte Türöffnerarten: Landbewohner wie die Bechsteinfledermaus, für die Wälder vernetzt und so umgebaut werden müssen, dass sich genügend Totholz in ihnen befindet. „Davon profitieren viele andere Arten“, sagt Niebrügge. Und Wasserbewohner wie der Fischotter, der große, vernetzte Feuchtgebiete braucht. Das wiederum nützt auch Libellen oder Bibern.
In die Tiere hineinversetzen
Um die Routen auszuwählen, mussten die Planer sich in die Tiere hineinversetzen: Welchen Weg würden Rotwild, Wolf und Fledermaus nehmen? Förster und Jäger wurden befragt, Umweltbehörden werteten Jagdunfälle aus und Computermodelle berechneten den Weg des geringsten Widerstands für die Wildtiere. Daraus entstanden Karten mit potenziellen Routen sowie den Hindernissen, die es zu überbrücken galt: von Monokulturen geprägte Wälder und Felder, Siedlungen, vor allem aber Straßen und Schienen.
Jedes Jahr geraten unzählige Hasen, Rehe, Wildschweine, Igel und Füchse unter die Räder. Deshalb wurden seit dem Jahr 2007 an drei Orten Grünbrücken gebaut: Mit Wiese, Sträuchern und Bäumen bewachsene Querungen über Autobahnen. Dazu kommen hunderte Forstbrücken, Tunnel und Unterführungen.
In den monotonen Feldern und Wäldern entstanden Ruhezonen für die Arten, wie Moore, Mischwälder oder Sträucher an Waldrändern – sogenannte Trittsteine inmitten einer lebensfeindlichen Umgebung, über die Tiere von Schutzgebiet zu Schutzgebiet springen können. Sofern sie mobil genug sind wie Vögel, Fledermäuse oder Insekten.
Um herauszufinden, ob die Arten all das auch tatsächlich nutzen, startete die Stiftung ein großes Wildtiermonitoring mit Fotofallen. Die Fotos belegten, dass die Tiere die Unter- oder Überführungen nutzen, wenn auch auf höchst unterschiedliche Weise. Da gibt es die Generalisten wie Rehe und Wölfe, die sich durch fast nichts aufhalten lassen.
Da gibt es die Spezialisten wie den Rothirsch, der Autobahnen nur über bepflanzte Grünbrücken überquert. Und da gibt es die besonders Ängstlichen wie den Fischotter. „Eigentlich könnte er ja einfach unter Brücken hindurchschwimmen“, sagt Niebrügge. „Macht er aber nicht.“ Stattdessen geht er an Land und schlüpft hinter der Brücke zurück ins Wasser – angenommen, er schafft es heil über die Straße. Bekam er aber Uferstreifen unter den Brücken angelegt, etwa aus Steinen, dann tapste er dort entlang.
Vom großen Plan eines mitteleuropäischen Wildtierkorridors will heute in der Stiftung keiner mehr so recht reden – es fehlt an Geld, und die Flächen sind knapp. „In Deutschland muss man für jeden Quadratmeter Land, der noch nicht genutzt wird, argumentieren, warum man ihn der Natur überlassen will“, sagt Niebrügge. Deshalb kommt die Stiftung nur in Trippelschritten voran.
Die Tiere kommen trotzdem schon: Wölfe und Elche aus Polen. Zu bundesweiter Bekanntheit hat es Elch Bert gebracht, der sich bei Beelitz einer Kuhherde angeschlossen hat. Aus dem Süden wandern wärmeliebende Arten ein wie die italienische Schönschrecke, die Dornfingerspinne und der Goldschakal. Sogar die Wildkatze soll sich schon geblickt haben lassen.
Australien: Refugien für Ringbeutler
Stephen Williams hat sich den eigenwilligen Wesen im tropischen Regenwald an der australischen Ostküste verschrieben. Dort leben Tiere seit Millionen von Jahren perfekt angepasst an ihre Umgebung. Etwa der Herbert-River-Ringbeutler, ein Beuteltier mit langem Schwanz, braunschwarzem Rücken und weißem Bauchpelz, der sich tagsüber in Baumhöhlen verkriecht.
Sein „Lieblingskuscheltier“ nennt es Williams. Umso erschrockener war er über seine eigene Forschung: Er hatte berechnet, dass dessen bewohnbare Habitate nach und nach schrumpfen würden, sollte sich die Erde wie bisher erwärmen. Abgesehen von wenigen Berggipfeln wäre am Ende des Jahrhunderts kein Ort mehr übrig, an dem der Ringbeutler es aushalten könnte.
Entsprechende Berechnungen stellte Williams auch für andere Tiere an. „Wir kamen zum Ergebnis, dass ungefähr die Hälfte aller endemischen Arten, die es also nur an diesem Ort gibt, im tropischen Regenwald bis zum Ende des Jahrhunderts aussterben könnten“, sagt der Forscher. Selbst die Arten, die übrig blieben, würden das Tiefland verlassen und sich hoch in die kühleren Berge zurückziehen. Dadurch würden sie im Schnitt nur noch zehn Prozent ihres ursprünglichen Gebiets behalten. Auch die eigens für die Tiere eingerichteten Schutzgebiete hatten sich in der Simulation geleert. „Als ich das sah, kam mir die Welt auf einmal grau und deprimierend vor“, erzählt Williams.
Er überprüfte, welche Flächen noch ungeschützt waren und wo eine Aufforstung den größten Nutzen bringen würde. So kam er zum Beispiel auf Kälterefugien wie das Evelyn-Atherton-Hochplateau, das schon während der vergangenen 2,6 Millionen Jahre eine zentrale Rolle in der Bewahrung der Artenvielfalt gespielt hatte.
Im Jahr 2013 übergaben er und andere Wissenschaftler ihre Analyse der Regierung der Provinz Queensland. Und dann passierte, womit sie nicht gerechnet hatten: Der Plan, die letzten möglichen Zufluchtsorte der Arten zu schützen, wurde angenommen. Die Regierung kaufte einige der von den Wissenschaftlern als besonders wertvoll eingeschätzten Flächen, um dort neue Nationalparks zu errichten.
Allerdings nützt das beste Schutzgebiet nichts, wenn die zu schützende Art es nie erreicht. Also begann die Regierung von Queensland auf Empfehlung von Williams auch solche Flächen aufzuforsten, die den Arten als Waldkorridore einen Aufstieg zur nächsthöher gelegenen Station bieten. In ganz Australien läuft inzwischen mithilfe von Staatsgeldern die Suche nach geeigneten Klimarefugien samt Verbindungswegen. Der Herbert-River-Ringbeutler hat noch eine Chance.
Großbritannien: Pfade für Wildbienen
In Großbritannien arbeitet eine Naturschutzgruppe an einem blühenden Teppich. Die Umweltorganisation Buglife will ein Netzwerk aus Blühstreifen zum Schutz der Bestäuber über das ganze Land ziehen. Insgesamt 150.000 Hektar, eine Fläche ungefähr doppelt so groß wie Hamburg, soll mit Wildblumen bepflanzt werden.
Die drei Kilometer breiten Korridore sollen es den Wildbienen ermöglichen, zwischen ihren bislang isolierten Habitaten hin und her zu springen, um so auf den Klimawandel zu reagieren. „Es ist wichtig, dass die Tiere von Süden nach Norden wandern können“, sagt Catherine Jones, die Bestäuberbeauftragte von Buglife.
Wieder und wieder haben sich die Wildbienenschützer in ihrem Büro in Peterborough im Osten Englands um einen Tisch herum versammelt und auf eine riesige Landkarte geblickt. Darauf sahen sie Wälder, Wiesen und Heiden eingezeichnet, Flüsse, Teiche und Seen. Die Aktivistinnen und Aktivisten diskutierten, wie sich die Wildbienenhabitate am besten verbinden lassen und was die geeignetsten Routen für die Insektenpfade sind.
Vorschläge wurden in die Runde geworfen, Linien gezogen. Als Nächstes konsultierten sie Umweltbehörden, die Landesregierung, Gemeinde- und Stadträte, Naturschützer und Bauern. „Wir fragen sie, ob sie 10 Prozent ihres Landes in bestäuberfreundliche Habitate umwandeln können“, so Jones.
Inzwischen haben sie weite Teile Großbritanniens kartiert und die ersten 500 Hektar mit potenziellen Wildbienenpfaden versehen. Einige davon führen auch durch städtische Parks und Gärten. Dort soll der englische Rasen bunten Wildblumenwiesen weichen, herabfallende Äste wenn möglich liegen bleiben und Erdhöhlen nicht mehr zugeschüttet sowie Metallzäune durch Hecken ersetzt werden.
Das soll Hummeln oder Bienen dazu bewegen, dort zu nisten und nach Nahrung zu suchen. Wer in seinem Garten die Wiese wachsen lässt oder einen Apfelbaum oder Johannisbeerstrauch pflanzt, kann das auf einer Karte eintragen, die auf der Internetseite von Buglife zu finden ist. „Einige empfanden langes Gras als unordentlich oder fürchteten, dass sich darin Müll sammeln könnte“, erzählt Jones über ihre Arbeit in Leeds. „Die meisten wollten aber mitmachen.“
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