„Focus“ fällt auf „Titanic“-Satire herein: Linksradikale, die Feinstaub pumpen
Der Skandal, den der „Focus“ aufdeckte, war gar keiner: Eine Anleitung zur Manipulation von Abgasmessungen stammt vom Satiremagazin „Titanic“.
Es geschieht am hellichten Tag: Ein Vermummter bedient sich eines Blasebalgs, um die Abgase aus einem Autoauspuff zu sammeln. Dann erklimmt er die Abgasmessstation am Friedberger Platz in Frankfurt am Main und bläst Feinstaub und Stickoxide an die Sensoren der Station. Sein Ziel wird am Ende des Videos, das diese Tat dokumentiert, eingeblendet: „Autokonzerne bekämpfen. Diesellobby zerschlagen.“
Beim Focus wittert man einen Skandal, als man das gut einminütige Video zugespielt bekommt. Das Material stammt angeblich von einem aufmerksamen Bürger aus München, der zusätzlich einen Screenshot aus dem Internetportal Indymedia beifügt. Am Montagmorgen, 6:32 Uhr, stellt das Nachrichtenmagazin einen Bericht online: Linksradikale würden dazu aufrufen, Abgasmesswerte zu manipulieren, um Fahrverbote zu provozieren und die deutsche Automobilindustrie zu schädigen.
Die Junge Freiheit springt sofort auf und bringt ihrerseits einen Bericht, in dem sie sich auf den Focus bezieht: „Meßstationen manipulieren: Linksradikale veröffentlichen Anleitung.“ Der sächsische AfD-Landtagsabgeordnete Carsten Hütter teilt den Beitrag bei Twitter. Auch Die Achse des Guten schließt sich dem Sturm der Entrüstung an, der sich angesichts der Dreistigkeit autonomer Linker entfaltet.
Der Focus indes versucht, seine Leser zu beruhigen: Man habe sich mit Experten zusammengesetzt. Die hielten die im Video vorgestellte Methode für wenig effektiv, ihre Wirkung sei, so sie denn angewandt werde, zu vernachlässigen. Zwar heißt es im Titel des Berichts: „Autonome verbreiten Anleitung zur Manipulation von Feinstaub-Messstationen“, doch man versucht, abzuwägen. Eigentlich sähe das, was im Video angestellt werde, wie ein schlechter Scherz aus – jedoch scheine es den Machern durchaus ernst zu sein.
Video in wenigen Minuten gedreht und am Handy bearbeitet
Dabei gäbe es wesentlich einfachere Methoden, sagt ein Messexperte vom Karlsruher Institut für Technologie dem Magazin: Eine laufende Motorsäge oder eine brennende Kerze sei viel effektiver. Außerdem wären mehrfache, sprunghafte Anstiege der Messwerte zu auffällig, versichert man dem Focus beim Hessischen Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie.
Also alles falscher Alarm? In der Tat. Denn kurz darauf teilt das Satiremagazin Titanic mit: Das Video sei eine simple Täuschung, der vermummte Linksradikale und der aufmerksame Münchner seien ein und derselbe Titanic-Redakteur. Moritz Hürtgen habe mit seinem Kollegen Leonard Riegel innerhalb weniger Minuten das Video gedreht und am Handy bearbeitet.
Empfohlener externer Inhalt
Als eine Erwähnung des Films bei einem Vortrag nicht dazu geführt habe, dass das Video öffentliche Aufmerksamkeit erregt, verwandelte sich der Redakteur und Laien-Linksradikale Hürtgen kurzerhand in den fiktiven Münchner Michael Leitmayr. Mit einem ebenso kurzerhand gefälschten Screenshot sowie dem Video habe er sich an den Focus gewendet. Ein kurzes Telefonat genügte, um letzte Zweifel in der Redaktion des Focus auszuräumen.
„Mit großem Unbehagen“, erklärt Titanic in einer Pressemitteilung, „stellen wir bei Titanic fest, dass Focus online ohne zu zögern und exklusiv linksradikale Aufrufe teilt, die vorher nie online oder öffentlich einsehbar waren.“ Tatsächlich war das Video bis dahin zu keinem Zeitpunkt öffentlich im Internet zu finden.
Zaghafte Richtigstellung
Der Focus korrigiert sich auf seiner Website sofort. Anstelle des ursprünglichen Berichts findet man nun die Benachrichtigung, die Redaktion sei auf einen Scherz hereingefallen und bedauere das Missgeschick. Im neuen Artikel steht nun, zur Verteidigung, der Hinweis, die Vorgehensweise aus dem Video sei schließlich „rein theoretisch“ denkbar.
Der Bericht der Achse des Guten und der Tweet von Carsten Hütter sind weiterhin online. Die Junge Freiheit hat ihren Artikel zum linksautonomen Abgasskandal mit einem kurzen Hinweis versehen, es habe sich um eine Satireaktion gehandelt.
Zwar sorgt der Vorgang im Netz für Erheiterung, doch der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli von der Uni Bochum äußerte auf Twitter Skepsis: Zehntausende Menschen, die die Berichte gelesen hätten, würden nun vielleicht gar nicht erfahren, dass die ganze Geschichte eine Fälschung war.
Ob eine kurze Richtigstellung der Berichterstatter verhindern kann, dass jene, die ohnehin gerne gegen Linke polemisieren, sich in ihrem zementierten Glauben noch bestärkt fühlen, ist fraglich. Für den Rest der Gesellschaft könnte Titanic einen wertvollen Denkanstoß geliefert haben, dass auch vermeintliche Skandale zunächst einmal stets sorgfältig auf ihre Richtigkeit überprüft werden sollten.
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