Flutkatastrophe in Westdeutschland: Anblick der Zerstörung
Die Ministerpräsidenten Laschet und Dreyer zeigen sich tief betroffen von der Hochwasserkatastrophe. Knapp 50 Menschen sind bisher mindestens gestorben.
Dramen auch rund um das Aachener Dreiländereck: Im Wolkenstau vor Eifel und Hohem Venn regnete es über 200 Liter pro Quadratmeter binnen 48 Stunden, mehr als sonst den ganzen Sommer. Die Unterstadt des belgischen Eupen ist komplett geflutet, ein junger Mann ertrunken. In der belgischen Eifel harren Menschen auf Hausdächern aus, Orte sind nicht erreichbar. Auch in Pepinster stürzten mehrere Häuser ein. Mancherorts schießen die Wassermassen bis ins zweite Stockwerk.
Zwischen Lüttich und dem niederländischen Maastricht steht das Schienennetz entlang der Maas komplett unter Wasser. In der südniederländischen Provinz Limburg werden Campingplätze evakuiert, sofern Rettungskräfte vordringen. Vermisste gibt es auch hier. In Belgien ist seit Donnerstagmorgen das Militär im Einsatz.
Überall rund um Aachen erreichten kleine Flüsse historische Höchststände: Inde, Vicht, Our, Göhl oder Wurm sind zu reißenden Strömen geworden. In Stolberg nahe Aachen donnern die Wassermassen über einen Meter hoch durch die zentrale Rathausstraße, eine Person ist dort in ihrem Auto ertrunken, aber noch nicht evakuierbar. Ein städtischer Mitarbeiter sagte, man habe kürzlich eine maximal denkbare Jahrhundertflut in Szenarien durchgespielt – diese jetzt habe alle Fantasien weit übertroffen.
Straßenzüge unter Wasser, Brücken eingestürzt
Nach tagelangem starkem Dauerregen waren in der Nacht zum Donnerstag in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und den angrenzenden Regionen in Belgien und den Niederlanden Bäche zu reißenden Flüssen geworden. Sie verwüsteten etliche Ortschaften. Straßenzüge standen unter Wasser, Häuser wurden weggespült, Brücken stürzten ein, Stromausfälle legten ganze Regionen lahm.
Autobahn- und Eisenbahnstrecken mussten gesperrt werden. Die Deutsche Bahn rief alle Reisenden auf, Fahrten von und nach Nordrhein-Westfalen zu verschieben. In mehreren Städten wurde der Ausnahmezustand ausgerufen.
Im komplett gefluteten Eschweiler nahe Aachen gibt es keinen Strom mehr, eine Trinkwasserleitung brach, das Gas ist abgedreht. Im Krankenhaus der Stadt lief die Intensivstation voll, alle 400 Patient:innen werden jetzt mühsam weitgehend durch die Luft herausgeschafft.
In manchen Orten stellten Einsatzkräfte die Rettungsfahrten per Motorboot ein – zu gefährlich wurden entgegenschießende Baumstämme und halbe Hausstände. Am Braunkohletagebau Inden ist ein Damm gebrochen, das Wasser ergießt sich seitdem in die Tiefe.
Feuerwehrmann verstarb bei Rettungsversuch
In Hagen musste ein Altenheim evakuiert werden. In Leverkusen wurde nach einer hochwasserbedingten Störung der Stromversorgung eine Klinik mit 468 Patient:innen geräumt. In Solingen wurde der Ortsteil Unterburg wegen Überflutungen abgeriegelt, 600 Menschen wurden evakuiert.
Ein von Rettungskräften aus einem Kellerschacht befreiter 82-jähriger Solinger verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus. In Köln wurden zwei Menschen aus überfluteten Kellern tot geborgen. In Kamen kam ein 77-Jähriger in einem unter Wasser stehenden Keller seines Hauses ums Leben. Im Märkischen Kreis starb ein Feuerwehrmann bei dem Versuch, einen ins Wasser gestürzten Mann zu retten. Bis zum frühen Donnerstagnachmittag kamen nach offiziellen Angaben insgesamt mindestens 42 Menschen ums Leben.
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) fuhr am Donnerstagnachmittag nach Bad Neuenahr-Ahrweiler, um sich vor Ort einen unmittelbaren Eindruck von den Verwüstungen zu verschaffen. Zuvor hatte sie am Vormittag im Mainzer Landtag ein düsteres Bild gezeichnet. „Wir haben schon häufig Hochwasserkatastrophen in unserem Land erlebt“, sagte Dreyer. „Aber so eine Katastrophe haben wir noch nicht gesehen.“
Es sei „wirklich verheerend“, sagte die SPD-Politikerin in einer emotionalen Rede. „Es gibt Tote, es gibt Vermisste, es gibt viele, die noch in Gefahr sind.“ Die Situation sei vielerorts dramatisch. Ganze Orte seien überflutet, Menschen säßen auf Bäumen oder ihren Häusern und warteten auf ihre Rettung. Die aufgrund der Ereignisse stark verkürzte Plenarsitzung hatte begonnen mit einer Schweigeminute für die Todesopfer und die Menschen, die noch um ihr Leben ringen.
„Noch kein genaues Lagebild“
Bei seinem Besuch in der vom Hochwasser stark betroffenen Stadt Hagen zeigte sich auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sichtlich betroffen vom Ausmaß der Katastrophe. „Wir haben noch kein genaues Lagebild über die Opfer, die wir im ganzen Land zu beklagen haben“, sagte Laschet. Aber fest stehe, dass es an mehreren Orten Tote gegeben habe.
„Das Wichtigste ist, jetzt zu helfen, und vor allem denjenigen, die helfen, Rückendeckung zu geben“, sagte Laschet. Den betroffenen Kreisen und Städten sagte er die Unterstützung der Landesregierung zu. Am Freitagmorgen trifft sich das Kabinett zu einer Sondersitzung. „Wir werden die Kommunen und Betroffenen nicht allein lassen“, versprach er.
„Jeder Ministerpräsident, der sein Amt ernst nimmt, ist in einem solchen Moment bei den Menschen vor Ort, Wahlkampf hin oder her“, sagte Laschet. Einen für Donnerstag geplanten Besuch bei der Schwesterpartei CSU in Bayern hatte der Kanzlerkandidat der Union abgesagt und war stattdessen schon am Mittwochabend nach Hagen gereist.
Alle parteipolitischen Fragen müssten bei solch einer Krise zurückstehen. Als Konsequenz aus den zunehmenden Starkregen- und Hitzeereignissen forderte Laschet „mehr Dynamik für den Klimaschutz“. Das bedeute, „dass wir bei den Maßnahmen zum Klimaschutz mehr Tempo brauchen – europäisch, bundesweit, weltweit“.
Scholz und Baerbock brechen Urlaub ab
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz unterbrach seinen Urlaub, um sich gemeinsam mit Dreyer ein Bild von der Lage im rheinland-pfälzischen Katastrophengebiet zu machen. Den Betroffenen stellte der Bundesfinanzminister finanzielle Hilfen in Aussicht: „Da muss der Bund mit anpacken“, sagte Scholz.
Auch Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock kündigte an, vorzeitig aus dem Urlaub zurückzukehren. „Das zerstörerische Ausmaß der Überschwemmungen ist erschütternd“, teilte sie in einer am Donnerstag verbreiteten Erklärung mit. „Meine Gedanken und mein Mitgefühl sind bei den Menschen, die um Angehörige trauern, sich um Vermisste sorgen und um Verletzte kümmern.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel trat am Donnerstagnachmittag in Washington vor die Presse. „Ich bin erschüttert von den Berichten, die mich erreichen aus den Orten, die jetzt ganz unter Wasser stehen“, sagte sie und sprach von einer „Tragödie“. Sie trauere um die, die ihr Leben verloren haben. „Noch wissen wir die Zahl nicht, aber es werden viele sein“, sagte Merkel. Und es seien „so viele, um die wir noch bangen müssen“.
Sie habe sich von den Ministerpräsident:innen Dreyer und Laschet telefonisch über die Lage informieren lassen und stehe in engem Kontakt mit Bundesinnenminister Horst Seehofer und Finanzminister Olaf Scholz, teilte Merkel mit. „Alles, was getan werden kann, wo wir helfen können, werden wir tun“, sagte die Kanzlerin.
Söder ruft zu vorausschauendem Klimaschutz auf
„Sie können darauf vertrauen, dass alle Kräfte unseres Staates, von Bund, Ländern und Gemeinden, gemeinsam alles daran setzen werden, auch unter schwierigsten Bedingungen Leben zu retten, Gefahren abzuwenden und Not zu lindern.“
Er biete Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz „jedwede Hilfe an, um die Schäden des katastrophalen Unwetters zu beseitigen“, sagte der bayrische Ministerpräsident Markus Söder der dpa. „In dieser schlimmen Situation ist Solidarität gefragt.“ Zum Abschluss der CSU-Klausur im oberbayerischen Kloster Seeon rief Söder zu einem „vorausschauenden Klimaschutz“ auf. Die Hochwasser-Katastrophe zeige, dass der Klimawandel „uns weiter beschäftigen“ wird und Maßnahmen „ganz entscheidend“ seien.
Bayern ist dieses Mal von Starkregen und verheerenden Unwettern längst nicht so schlimm betroffen wie Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Allerdings ergießen sich die Wassermassen in diesem Sommer mit irritierender Regelmäßigkeit auf ganz unterschiedliche Teile des Freistaats – und zwar in Gegenden, wo man gar nicht damit gerechnet hätte.
Vor zwei Wochen war Landshut in Niederbayern dran, 70 Kilometer nordöstlich von München. In einer halben Stunde fielen dort 60 Liter Regen auf den Quadratmeter – eine unglaubliche Menge, das Wort „Jahrhundertereignis“ machte die Runde. Der parteilose Oberbürgermeister Alexander Putz sprach von „Wildbächen, wo normalerweise Straßen sind“.
Gegend eigentlich berüchtigt für Dürresommer
Eine gute Woche später erwischte es den Landkreis Neustadt an der Aisch/Bad Windsheim in der Nähe von Nürnberg. Auch hier entwickelte sich der Fluss zur Flutwelle, die Gebäude und Straßen überschwemmte. In einer Nacht rückte die Feuerwehr zu 700 Einsätzen aus. Die jüngsten Unwetter gingen in dieser Woche im Raum Hof in Oberfranken nieder.
Eigentlich ist diese Gegend berüchtigt für ihre Dürre-Sommer. Stattdessen: Katastrophenfall, vollgelaufene Keller, umgekrachte Bäume. Die Hofer Oberbürgermeisterin Eva Döhla (SPD) kann sich nicht erinnern, „dass unser Stadtgebiet schon einmal von solchen Wassermassen heimgesucht wurde“. Mittlerweile gibt es Entwarnung für Oberfranken, der Freitag soll trocken bleiben. Dafür stehen nun laut Vorhersagen womöglich heftige Regenfälle in Südbayern bevor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?