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Flüchtlingsrat über Krankenversorgung„Die Regelung ist ein Sündenfall“

Der Tod eines Säuglings in Hannover ist für Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachsen Ausdruck eines Fehlers im System. Die Ärzte zögern oft mit der Behandlung.

Ohne Gesundheitskarte bleibt eine Welt versperrt: Behandelt werden, wenn man krank ist Bild: dpa
Interview von Florian Lucks

taz: Herr Weber, letzten Donnerstag starb in der Hannoverschen Kinder- und Jugendklinik „Auf der Bult“ der Sohn einer Asylbewerberin. Wer trägt die Verantwortung?

Kai Weber: Die Klinik, denn sie hat dem Jungen die Notaufnahme verweigert und es versäumt, das Kind gründlich zu untersuchen. Nach der aktuellen Rechtslage ist also von einem Fehlverhalten der Klinik auszugehen, sollte sich bestätigen, dass die Mutter abgewiesen wurde.

Aber?

Man muss sich fragen, wie es dazu kommen konnte. Ich denke, es liegt daran, dass viele Ärzten nicht wissen, welche Behandlungskosten sie bei Flüchtlingen anrechnen können. Asylbewerber und Geduldete brauchen in den ersten vier Jahren ihres Aufenthalts einen Krankenschein, den sie in der Regel nur nach einem persönlichen Vorsprechen bei der Sozialbehörde erhalten. So kommt es zu Verzögerungen.

Ist der Tod des kleinen Jungen ein Einzelfall?

Es kommt zwar nur selten zu solch dramatischen Folgen, aber ein solcher Fall ist in den bestehenden Regelungen durchaus angelegt. Denn den Flüchtlingen werden nur die Behandlungen für akute Erkrankungen ermöglicht. Die Frage, was als akute Erkrankung gilt, kann bei den Ärzten Unsicherheiten auslösen.

Bild: privat
Im Interview: Kai Weber

52, ist als Geschäftsführer und auch Projektkoordinator im Niedersächsischen Flüchtlingsrat tätig. Er engagiert sich nun seit mehr als 20 Jahren in dem Verein.

Also ist das Problem systemimmanent?

In gewisser Weise ja, denn der Ausschluss von gewissen Leistungen für Flüchtlinge ist in den Gesetzen festgeschrieben. Die Ausstellung eines Krankenscheines zieht immer ein Prüfungsverfahren mit sich. Das sind diskriminierende Regelungen und in der Folge leiden die Flüchtlinge unter einer sehr schlechten medizinischen Situation. Wenn zum Beispiel einem Menschen mit kaputten Zähnen gesagt wird, ein Pürierstab reiche aus, statt ihm die Zahnbehandlung zu bezahlen, ist das definitiv eine Entwürdigung.

Wo liegen die Versäumnisse in der Vergangenheit?

Das Versäumnis liegt beim Gesetzgeber. Der hat 1993 das sogenannte Leistungsgesetz eingeführt, mit dem Ziel, die Migrationsprozesse zu beeinflussen. Dadurch erhielten die Flüchtlinge mindere Rechte. Wir als niedersächsischer Flüchtlingsrat haben schon damals die Regelungen als Sündenfall kritisiert. Mit ihnen wurde erst mal in der Geschichte der Bundesrepublik das Sozialstaatsprinzip ausgehebelt. Die neuen Gesetze ließen ein Existenzminimum zweiter Klasse entstehen und das war einer der schwerwiegenden Fehler in der deutschen Rechtsgeschichte.

Was hätte Niedersachen tun sollen?

Niedersachsen hätte viel früher auf Lösungsmodelle wie in Bremen umsteigen müssen. Dort werden standardmäßig Krankenkassenkarten an Flüchtlinge ausgegeben. Der Arzt kann diese Karte auslesen und weiß dann genau, welche Behandlungskosten er erstattet bekommt und welche nicht. So kommt es zumindest nicht zu Verzögerungen. Auch Hamburg hat dieses Modell aufgegriffen.

Gibt es Lösungsansätze jenseits der Bremer Methode?

Natürlich. Wir fordern etwa den Verzicht auf die Neuauflage eines Asylbewerberleistungsgesetzes. Dann hätten die Flüchtlinge deutlich bessere Integrationschancen. Das Gesetz wurde bereits vom Bundesverfassungsgericht kritisiert.

Was halten Sie davon, dass die Landesregierung eine Gesundheitskarte einführen will?

Ich halte das für glaubwürdig. In den vergangenen Tagen habe ich mit der Landesregierung gesprochen und mitbekommen, dass die Politiker von diesem Fall sehr erschüttert sind. Ich blicke deshalb optimistisch in die Zukunft.

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5 Kommentare

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  • Es gibt eine Stellungnahme der Klinik:

     

    http://www.weser-kurier.de/region/niedersachsen_artikel,-Klinik-weist-Vorwuerfe-zurueck-_arid,831135.html

     

    Wie ist es denn nun wirklich abgelaufen?

    • @Hanne Scholtun:

      Die Stellungnahme entlastet die Klinik nicht. In akut lebensbedrohlichen Fällen ist die Klärung der Formalitäten hintanzustellen, zumal es offensichtlich Verständigungsprobleme gab, die ein längeres Procedere erforderlich machten. Ärzte leisten zwar heute keinen Hippokrates-Eid mehr, aber wer Arzt wird, nur um korrekt abzurechnen, der ist im falschen Beruf.

  • "Die neuen Gesetze (Leistungsgesetz v. 1993) ließen ein Existenzminimum zweiter Klasse entstehen und das war einer der schwerwiegenden Fehler in der deutschen Rechtsgeschichte."

     

    Das ist zweifellos richtig und kann gar nicht oft genug angesprochen werden. Richtig ist aber auch, dass die Regierungen nach Kohl an diesem Fehler systematisch festhielten, anstatt ihn zu beheben. Seither ist es zutreffender, von einem Assozialstaat statt von einem Sozialstaat zu sprechen.

    In Cuba sind übrigens ganz selbstverständlich sogar Touristen krankenversichert. Das ist nun wirklich kein reiches Land, bricht aber an der vergleichsweise guten medizinischen Versorgung aller auch nicht zusammen.

  • A
    aurorua

    Seit krankhaft Gewinnsüchtige, nebst Aktionären Krankenhäuser immer mehr zu einer wachstumsorientierten Gesundheitsindustrie deformieren, sind Ärzte wie Politiker auch nur noch Handlanger der "allwissenden neoliberalen Ökonomie".

    Wieso wehren sich Ärzte nicht gegen die rigorose Bevormundung aus den Wirtschaftsabteilungen ihrer Kliniken. Wo bleibt der Humanismus, die Nächstenliebe das wirklich ärztliche Gewissen? Wird denn alles dem schnöden Mammon geopfert, ist der Tanz ums goldene Kalb die letzte Option?

    Gesundheit gehört in die öffentliche Hand, kostendeckend und gesteuert von Fachleuten, möglichst ohne Beamte.

    Nebenbei auch hier besteht längst Handlungsbedarf:

    https://www.openpetition.de/petition/online/buergerversicherung-altersversorgung-solidarisch-und-gerecht

  • 8G
    8545 (Profil gelöscht)

    Zeit für ne Grundgesetzänderung:

    "Die Würde des Deutschen ist unantastbar, ab 2500€ monatlichem Mindestverdienst"

    oder sowas.

     

    Wobei wir die Änderung eigentlich nicht brauchen, es wird ja bereits überall so gehandhabt.