Flüchtlingscamp im Gazastreifen: Leben am Limit
Die südliche Grenzstadt Rafah gilt für die Menschen in Gaza als einer der letzten Zufluchtsorte. Vier Geflüchtete erzählen von ihrem Leben vor Ort.
R und 1,3 Millionen Menschen leben mittlerweile in Rafah in behelfsmäßigen Zeltstädten. In einer Stadt, die vor dem Krieg knapp unter 300.000 Einwohner*innen zählte. Schon bevor Israel drohte, nach Rafah einzumarschieren, war die Lage kaum erträglich, wie vier Menschen aus Gaza dem palästinensisch-stämmigen Journalisten Sami Ziara schilderten. Hier sind ihre Protokolle:
Mahmoud Ahboul aus Jabalia: Alles ist doppelt so teuer
Ich bin hier seit über 60 Tagen. Unser Leben vor dem 7. Oktober war gut, jetzt ist es die Hölle, man kann das nicht vergleichen. Ich bin Ingenieur, bin zur Arbeit gegangen, hatte ein Leben.
Jetzt muss ich ganz früh aufwachen, um Brot aufzutreiben und den Kindern etwas zu essen zu machen. Ich übernachte gemeinsam mit meiner Familie in einem Zimmer in einer Schule. In jedem Zimmer sind etwa drei Familien untergebracht, jede mit etwa sechs Personen.
Als wir geflohen sind, hatten wir nur die Kleidung dabei, die wir am Leib trugen. Wir versuchen hier neue Kleidung zu kaufen, aber alles ist so teuer – alles kostet mindestens doppelt so viel. Alles in Rafah ist teuer, schon am 15. des Monats ist mein Gehalt aufgebraucht.
Auch auf die Toilette zu gehen, ist ein Kampf. Wir warten stundenlang in der Schlange. Genauso ist es, wenn wir duschen wollen. Ich habe drei Kinder, das eine geht in die 1. Klasse, das andere in die 6. Klasse. Wir schicken die beiden, um Wasser zu holen, damit wir wenigstens sauberes Wasser trinken können.
Ich bin 40 Jahre alt und möchte der Welt mitteilen: Wir wollen, dass der Krieg endet. Wir sind resilient, aber wir haben keinen Einfluss auf die Dinge, die gerade passieren. Wir beten, dass die Situation besser wird.
Wenn der Weg frei wäre, nach Hause zurückzukehren, und dort in einem Zelt leben, würde ich es tun – auch wenn unser Haus zerstört worden sein könnte. Dort war das Leben komfortabler, wir hatten Wasser, Essen, einfach alles war günstiger.
Ich bin nicht der Einzige hier in Rafah, der so denkt, allen hier geht es so. Wir alle wünschen uns, dass der Krieg endet. Wir können nicht mehr. Wir wünschen uns von der Welt, dass sie uns hilft, unsere Häuser wieder aufzubauen, sodass wir nach Hause zurückkehren können.
Hatem Medhat Ghoul aus Gaza-Stadt: Jeder Tag ist ein Albtraum
Ich bin von Gaza-Stadt nach Rimal, nach Chan Junis, nach Rafah geflohen. Über mein Haus weiß ich nichts, aber ich weiß, dass die ganze Umgebung rundherum zerstört ist. Keines der ehemaligen Häuser steht mehr. Wir sind insgesamt 70 Menschen in meiner Familie, darunter ich, meine Frau und unsere fünf Töchter. Ich bin seit 80 Tagen auf der Flucht.
Vor dem 7. Oktober gehörte ich zur Mittelschicht, ich konnte alles kaufen für meine Familie. Jetzt geht das nicht mehr.
Ich möchte zum Beispiel Windeln kaufen und kann sie mir nicht leisten. Wir müssen hier um alles kämpfen: um Wasser, Essen, sogar um ein Stück Brot. Wir sind es nicht gewohnt, um Essenzielles kämpfen zu müssen.
Wir müssen warten, um aufs Klo zu gehen, wir warten auf unser Gehalt, und alles ist überteuert. Die Preise sind vollkommen manipuliert, und niemand kontrolliert, für wie viel Geld die Händler ihre Waren anbieten. Es gibt nicht mal eine Überprüfung der Preise – auch nicht für essenzielle Güter, wie etwa Milch.
Wir haben so viele Menschen verloren in meiner Familie: Meine Schwester und ihre Kinder, meinen Onkel, insgesamt etwa 100 Menschen. Sie sind unschuldige Menschen, schliefen in ihren Häusern, als diese zerstört wurden.
Die Umgebung hier macht uns ganz krank: Wir haben Allergien wegen des Wassers, unsere Körper sind ausgetrocknet wegen der Unterernährung. Wir haben Glück momentan, weil es nicht mehr ganz so kalt ist. Wenn wir Decken haben, geben wir sie den Kindern, und wir Erwachsenen tragen zwei Hosen und versuchen uns mit unserer Kleidung warmzuhalten.
Ich bitte die Menschen von außerhalb: Schaut auf uns mit Augen der Barmherzigkeit. Wir verdienen es nicht zu sterben. Wir wollen in Gaza bleiben und nicht emigrieren, und dafür bezahlen wir nun den Preis. In der ganzen arabischen Welt sind wir die einzigen Menschen, die diesen Preis bezahlen müssen.
Für uns Palästinenser ist es das zweite oder sogar dritte Mal, dass wir dazu gezwungen sind: Zum ersten Mal während der Nakba, als wir geblieben sind und für unser Land gekämpft haben. Wenn wir zurückkönnten nach Hause, würden wir es tun, auch wenn unser Haus zerstört wäre.
Wir können mit den anderen Menschen hier nicht zusammenleben, es ist ein enger Raum mit schlechten Bedingungen: Das ist der zweite Krieg gegen uns. Wir träumen jeden Tag von unserer Misere: Finden wir Brot? Finden wir Holz? Finden wir Essen?
Wir denken an das Wetter, das Zimmer, in dem wir leben, und an die Schlangen, in die wir uns stellen müssen. Jeden Tag träumen wir diesen Albtraum. Wir wollen, dass er endet.
Abdel Majid aus Gaza-Stadt: Wasser zu bekommen ist schwierig
Seit über zwei Monaten lebe ich in Rafah. Mein Leben zuvor, in Gaza-Stadt, war viel besser, als es hier ist. Die Lage in Rafah ist schwierig. Was man für ein normales Leben braucht, gibt es hier nicht: etwa Essen und Wasser.
Mein Tag beginnt morgens um sechs Uhr, ich suche nach Essen, mache ein Feuer, um mich und meine Familie zu wärmen. Es gibt kein Gas und kaum Feuerholz, es dauert ewig, um das Feuer zum Lodern zu bekommen. Auch Wasser zu finden, ist schwierig. Eine Gallone zu füllen dauert beinahe acht Stunden – und so geht das schon seit Wochen.
Auch die Preise sind durch die Decke gegangen. Wir zahlen fünf- bis siebenmal so viel für dieselben Dinge, die wir vor dem Krieg auch schon gekauft haben. Die Kinder leiden am meisten darunter. Die Dinge, die sie wollen, können wir ihnen nicht kaufen, weil die Preise sich mindestens verdoppelt haben.
Und dann noch das Wetter: Mein Zelt haben der Regen und der Wind zerstört, es ist einfach weggeweht worden, weil es nicht richtig im Boden verankert werden konnte. Als wir unser Zuhause verlassen haben, haben wir nur T-Shirts mitgenommen. Ich wollte neulich eine Jacke kaufen. Früher hat sie 40 Schekel (etwa 10 Euro) gekostet, jetzt sind es 150 (etwa 38 Euro). Ich wünsche mir, dass die Welt uns unterstützt, an unserer Seite steht und unsere Situation und ihre Tragik erkennt. Ich habe genug vom Krieg, von den Schwierigkeiten, hier zu leben – es reicht! Ich danke allen Ländern, die daran arbeiten, den Krieg zu beenden.
Shadia, Hajja Um Mohammad, aus Beit Lahiya: 25 Personen in einem Zimmer
Ich wache morgens immer früh auf wegen der Stimmen der Kinder. Ich habe zwei Zwillinge, sie sind drei Monate alt. Ich habe außerdem drei Enkelkinder von meinem Sohn, das jüngste ist vier Monate alt und die anderen anderthalb und zwei Jahre. Meine Tochter hat auch drei Kinder. Wir alle leben hier zusammen in einem Zimmer – insgesamt 25 Personen!
Es ist kalt, es gibt keinen Strom und nicht genug Decken. Die Kinder weinen wegen der Kälte. Sie wollen warmes Wasser, aber wir müssen es auf dem Feuer erwärmen, und das ist kaum möglich, weil es so wenig Brennholz gibt. Wir verwenden mittlerweile Nylon statt Holz, obwohl die Dämpfe uns krank machen.
Wenn die Kinder aufwachen, wollen sie etwas essen, aber meistens ist es sogar schwierig, Brot zu finden. Der Mangel an Essen, das Wetter, kaum Wasser – wir beten zu Gott, dass er uns hilft und dass er uns in unsere Häuser zurückkehren lässt. In Beit Lahiya hatte ich fließendes Wasser, ein warmes Zuhause. Ich kann gerade kaum sprechen, wegen des Geruchs des brennenden Nylons.
Es gibt keinen sicheren Ort hier. Jeden Tag wache ich auf und bete zu Gott, dass er uns beschützt, dass er die Juden von uns fernhält und wir mit den Kindern sicher nach Hause zurückkehren können. Ich habe Zwillinge, sie wurden wenige Tage nach unserer Ankunft in Rafah geboren.
Unsere Umgebung hier ist so schmutzig, alles ist schmutzig hier: das Essen, die Straßen, die Toiletten. Wenn wir Wasser finden, kaufen wir es, wenn nicht, trinken wir schmutziges Wasser. Wir werden so durstig, wir müssen es trinken.
Von der Decke unseres Zimmers tropft Wasser auf uns herunter. Ich backe gerade Brot, sonst würde ich dir zeigen, in welchen fürchterlichen Bedingungen wir leben.
Die Zwillinge, die ich nun bekommen habe, waren seit sieben Jahren geplant. Wegen der Unterernährung sind sie noch immer ganz klein. Die Milch ist verkeimt wegen der schmutzigen Umgebung. Wir hungern, denn wir bekommen nur ganz wenig Essen und das, was wir haben, geben wir den Kindern.
All unsere Kleidung wurde zerstört, als unser Haus zerstört wurde. Wir haben neue gekauft, aber Ausschlag davon bekommen. Das Leben ist so teuer hier, die Verkäufer nutzen unsere Situation schamlos aus.
Ich hoffe, dass es bald besser wird. Ich will einfach nur Frieden, und dass Gott diesen Krieg bald beendet.
Wir haben einige Märtyrer in der Familie: Die Kinder meines Onkels sind gestorben. In unseren Träumen hätten wir uns diese Zerstörung nicht ausgemalt – was unserem Land und unseren Häusern geschieht. Wie können wir jemals zurückkehren?
Aus dem Arabischen Rayan Tannir und Lisa Schneider
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“