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Flucht übers MittelmeerSeenotrettung kein „Pull-Faktor“

Eine Studie zeigt, dass Gewalt und Krisen, nicht Rettungsmissionen, zu mehr Bootsgeflüchteten führen. Sea-Eye fordert ein Ende der Abschottung.

Mitglieder von SOS Mediterranee nähern sich im Juli 2021 einem Boot auf dem Mittelmeer Foto: Antonin Burat/imago

Berlin taz | Seenotrettung auf dem Mittelmeer führt nicht dazu, dass sich mehr Geflüchtete auf den gefährlichen Weg nach Europa begeben. Wie eine neue Studie zeigt, existiert kein sogenannter Pull-Effekt, weder durch private Seenotrettung noch durch staatliche Einsätze. Sehr wohl beeinflusst wird die Zahl der Bootsgeflüchteten aber durch militärische Konflikte, wirtschaftliche Krisen und durch Extremwetterereignisse infolge des Klimawandels.

Für die Studie untersuchten die Soziologin Alejandra Rodríguez Sánchez von der Universität Potsdam und ihre Kol­le­g*in­nen Ramona Rischke vom DeZIM-Institut, Julian Wucherpfennig von der Hertie School und Stefano Iacus von der Harvard University die Überfahrten von Nordafrika nach Italien zwischen 2011 und 2021. Ausgewertet wurden mögliche Zusammenhänge zwischen der Zahl der Flüchtenden, die sich auf die Seereise begaben, und zahlreichen anderen Faktoren, darunter etwa Wechselkurse, Preisentwicklungen, Arbeitslosenzahlen, militärische Konflikte, Gewalt, Luftverkehr, Wetter und die Intensität staatlicher und nichtstaatlicher Rettungsaktionen.

Ein Großteil dieser Faktoren spielte demnach tatsächlich eine Rolle dafür, wie viele Personen sich auf den Weg nach Italien machten. So gibt es etwa einen klaren Zusammenhang zwischen mehr Gewalt in Herkunftsländern und steigenden Zahlen von Personen, die die Überfahrt nach Italien wagen.

Seenotrettung hatte laut den Berechnungen der For­sche­r*in­nen dagegen keinen Einfluss darauf, wie viele Menschen sich auf den Weg machten. „Die Migrationszahlen wären ohne die Rettungsmissionen genauso hoch gewesen“, fasst Rodríguez Sánchez die Ergebnisse zusammen. Von einem „Pull-Faktor“, der mehr Menschen zur Überfahrt verleitet habe, könne keine Rede sein. Der Zusammenhang sei, wenn überhaupt, gegenteiliger Art: „Die Einsätze waren eine Reaktion auf die hohen Zahlen von Überfahrten.“

Menschenrechtsverletzungen in Libyen

Gorden Isler, der Vorsitzende der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye, sagte der taz, die Ergebnisse der Studie zeigten erneut, dass die Erzählung vom Pull-Faktor nur dazu diene, Menschen zu desorientieren und zu desinformieren: „Es ist wichtig, dass diese Erkenntnisse zu den politischen Verantwortlichen durchdringen, so dass die Politik der Abschreckung und der Abschottung endlich ein Ende findet.“

Mit Verweis auf einen behaupteten Pull-Effekt wurde etwa 2014 die italienische Rettungsmission Mare Nostrum im Mittelmeer beendet. Seitdem gibt es mit der Frontex-geführten Mission Triton von staatlicher Seite nur noch Grenzschutzbemühungen. Private See­not­ret­te­r*in­nen werden von den EU-Staaten systematisch behindert und kriminalisiert.

Einer anderen Strategie der EU gibt die Studie indes indirekt recht – auf makabere Weise. Die For­sche­r*in­nen wiesen nach, dass EU-Unterstützung für die sogenannte libysche Küstenwache seit 2017 viele Mi­gran­t*in­nen davon abhielt, die Überfahrt nach Europa zu wagen. In der Praxis bedeutet das, dass libysche Milizen dafür bezahlt und ausgerüstet werden, die Flüchtlingsboote abzufangen und zurückzuschleppen. Dabei wenden die Milizionäre oft Gewalt an, den Geflüchteten droht Misshandlung, Folter und Mord.

Isler von Sea-Eye sagte der taz dazu: „Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dass staatliche Akteure zivile Rettungsschiffe seit Jahren systematisch behindern und mit bewaffneten, libyschen Milizen zusammenarbeiten, um Menschen daran zu hindern Libyen zu verlassen.“ Es brauche stattdessen, „die Einrichtung von sicheren Fluchtwege für alle schutzsuchenden Menschen und ein Ende der Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und der sogenannten Libyschen Küstenwache.“

Aktualisiert am 07.08.2023 um 12:10. d.R.

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13 Kommentare

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  • 6G
    689073 (Profil gelöscht)

    "Finally, we are unable to determine, at the micro-level, whether an awareness of search-and-rescue operations could affect the decision making of migrants—in so far as it may affect their risk perception and mobility aspirations. However, various organizational aspects of irregular migration—the recruitment, the choice of point of departure, time of departure, type of boat, number of people per boat, who gets to be when and in which boat, etc.– are entirely determined by smugglers, and not by migrants themselves. Therefore, search-and-rescue operations are unlike to drive the individual decision making processes of migrants, though they may influence smugglers’ decisions, something which is left for further research."

    Die Studie hat methodische Schwächen, welche die Autorinnen kennen und einräumen. Eine belastbare Beantwortung der Forschungsfrage ist auf Basis von Aggregatdaten nicht möglich.

  • Niemand bestreitet die beschriebenen Push-Faktoren. Ungeachtet dessen sind die Rettungseinsätze jedoch auch ein nicht zu unterschätzender Pull-Faktor.

    Wenn es unmöglich wäre, in Italien mit einem Schlauchboot anzulanden, würde sich niemand in ein solches Boot settzen. Erst die Erfolgsgeschichten der Angekommenen lassen die Hoffnung auf eine Überfahrt überhaupt erst zu.

    Die von der Soziologin beschriebenen Probleme gibt es in Teilen Afrikas immer wieder. Erst der freie Zugang zum Mittelmeer über Libyen und die Möglichkeit des Ankommens in Afrika hat zur der großen Fluchtwelle geführt. Ohne die Hoffnung auf eine Ankunft in Europa würde sich niemand freiwillig in das Bürgerkriegsland Libyen begeben. Es ist also eine Mischung aus Push- und Pullfaktoren.

    • @DiMa:

      Seenotrettung ist sicher auch ein Pull-Faktor für umweltschädliche Kreuzfahrten und Notarztwägen sind ein Pull-Faktor für automobile Raserei. Auch ärztliche Versorgung ist ein Pull-Faktor für einen ungesunden Lebensstil. Wir sollten das alles insgesamt abschaffen.Eigentlich hat nur plastische Chirurgie eine Existenzberechtigung, denn dass diese jemanden zur Hässlichkeit verlockt entbehrt jede wissenschaftliche Grundlage.

      • @Jakob Bauer:

        Stellvertretend für die von Ihnen genannten Fälle schauen wir uns mal die Kreuzfahrten an.

        Kreuzfahrten von A nach B sind ohne Seenotrettung möglich. Überfahrten über das Mittelmeer in einem kleinen Schlauboot mit wenig Benzin dagegen ganz sich nicht. In Abgrenzung von den von Ihnen genannten Beispielen kann daher gut aufgezeigt werden, dass die Seenotrettung überhaupt erst die Möglichkeit einer Überfahrt eröffnet. Vor Mare Nostrum kamen lediglich Kähne zum Einsatz, die in der Zahl jedoch sehr begrenzt sind.

        In der Verhaltenlehre gibt es stets zwei Gründe für das Auslösen einer Handlung: Motiv und Möglichkeit. Es ist daher vollkommen sinnlos, Push- und Pullfaktoren nur nach der Motivlage zu berurteilen und die Frage der Möglichkeit außen vor zu lassen.

        Daher danke für die Benennung Ihrer sehr veranschaulichenden Beispiele!

    • @DiMa:

      Im Artikel wird dargelegt, wie die Wissenschaftlerin mit anerkannten statistischen Methoden keinen Pull-Effekt gefunden hat - und Sie widersprechen dem aus so einem Bauchgefühl oder worauf gründet Ihr so felsenfestes Wissen?



      Natürlich würde niemand aufbrechen, wenn es unmöglich wäre, Europa zu erreichen. Das wurde hier aber auch nicht untersucht noch im Artikel bezweifelt. Hier geht es um den Effekt der Seenotrettung und der ließ sich nicht feststellen (ist meines Wissens auch nicht die erste Studie mit diesem Ergebnis). Das muss auch gar nicht verwundern, denn selbst wenn man davon ausgeht, dass Flüchtlinge ihre Chancen gewissermaßen mathematisch abschätzen, dürfte die Existenz von Seenotrettungsmissionen die Flucht nur minimal weniger gefährlich machen. Die Missionen retten nur einen winzigen Teil der Geflüchteten. Andere ertrinken, bleiben noch vor der Küste stecken oder kehren um - oder schaffen es ohne Seenotrettung nach Europa.

      Das soll gar nicht heißen, dass es nicht sog. Pull-Faktoren geben mag. Wäre Europa nicht friedlich, reich und insgesamt ein recht angenehmer Ort, würde selbstverständlich kaum jemand hierher fliehen wollen. Aber vielleicht sollten wir das ändern, schließlich sind Frieden, Grundrechte, Wohlstand und Sozialstaat schlimme Pull-Faktoren.

      • @Fratercula:

        Da wird nicht dargelegt, sondern behauptet. Und mit der ungeheuer präzisen Quellenangabe "eine neue Studie" wird das auch so leicht keiner überprüfen können.



        Ich glaube, sie trotz dieser vorsätzlichen Verschleierung trotzdem gefunden zu haben. Kritisch lesen muß ich aber noch:



        DOI:10.1038/s41598-023-38119-4

      • @Fratercula:

        Es ist kein "Bauchgefühl" sondern Logik. 2013 kam eine vergleichsweise geringe Anzahl von Menschen in Kuttern, die die Überfahrt noch schaffen konnten. Erst nach Mare Nostrum haben die Schlepper auf billige chinesische Schlauchboote umgestellt.

        Wenn ich dann Geflüchtete nach ihren Fluchtgründen frage, dann werden diese natürlich nicht die Schlauchboote angeben. Eine Studie ist halt immer nur so gut wie ihre Datenlage.

  • Endlich eine Studie, die klar ausspricht, wo die Fluchtursachen liegen: militärische Konflikte, wirtschaftliche Krisen und Extremwetterereignisse infolge des Klimawandels.

    Im Widerspruch zu der Studie steht aber, dass die Geflüchteten in Deutschland dann fast alle eine politische Verfolgung als Fluchtgrund angeben.

    Wie kann das sein?

    Herr Isler fordert "die Einrichtung von sicheren Fluchtwegen für alle schutzsuchenden Menschen". Da ist ihm nur voll und ganz zuzustimmen.

    Die EU, aber auch Großbritannien als ehemalige Kolonialmacht, ist aufgefordert, aus jeder Hauptstadt eines jeden afrikanischen Landes regelmäßige und ausreichend dimensionierte Flugverbindungen nach Europa einzurichten, welche von den Schutzsuchenden kostenfrei wahrgenommen werden können. So kann den Schlepperbanden das blutige Handwerk gelegt werden und die Menschen müssen sich nicht mehr den Gefahren des langen Wegs nach Norden durch die Wüste und über das Meer aussetzen. Und Europa übernimmt endlich die Verantwortung für die Folgen der jahrhundertelangen Unterdrückung Afrikas.

    Natürlich müssen dann flankierend auch in Europas Aufnahmestaaten die entsprechenden Strukturmaßnahmen erfolgen: Unmittelbarer Zugang zum Arbeitsmarkt ggf. mit staatlich kontrollierten Quotenregelungen zur Beschäftigtenzahl von Migranten in den Unternehmen und der staatlichen Verwaltung, umfangreicher staatlich getragener Wohnungsbau, finanziert durch eine Sondersteuer für Kapitalgesellschaften, welche ja von den zugewanderten Arbeitskräften profitieren. Migrationsgerechter Ausbau des Schulsystems, der Universitäten und der Verwaltung, insbesondere unter Berücksichtigung der anfangs sicher noch vorhandenen Sprachbarrieren.

    Frage an die Community: was wäre noch wichtig, um Europa weiter zu entwickeln?



    Oder sind die Vorschläge zu radikal?

    • @EIN MANN:

      "Im Widerspruch zu der Studie steht aber, dass die Geflüchteten in Deutschland dann fast alle eine politische Verfolgung als Fluchtgrund angeben.

      Wie kann das sein?"

      Das kann sein, weil alle anderen Gründe der Flucht hier abgelehnt werden. Wir akzeptieren diese Lüge, weil wir genau wissen, dass wir die Leute hier brauchen können.



      Aber wir schaffen es einfach nicht, eine geregelte Migration ohne Lügen und Schlepper aufzubauen, weil wir uns im Klein Klein verlieren.

  • Das ist eine nette Studie aus Potsdam. Ich denke aber, die Regierungen der EU wissen genau, dass die Menschen von Syrien bis Guinea-Conakry aus Gewalt und Armut flüchten und nicht angelockt werden durch xy. Der Schlepperdiskurs ist gelogen. Jede Flucht braucht gute Schlepper bzw. sichere Fluchtwege.



    Es geht in den hiesigen Diskursen um die Erzeugung der Zustimmung zum Ertrinken lassen, zum Nicht retten oder Ermorden durch die Küstenwachen - seien es libysche oder griechische oder durch die Deportation in die Wüste durch Marokkos Polizei. Es ist genau dieser Tod, den die Rechtsradikalen fordern, den die Regierungen als Forderung erfüllen.

    • @Land of plenty:

      Danke für die klare Sicht!

  • 0G
    04332 (Profil gelöscht)

    Dann haben Springer und AfD wohl ein Thema weniger. Ein Glück, dass das vom Tisch ist. Kann man sich heute kaum noch vorstellen, dass damals "zur Abschreckung" hunderte von Asylunterkünften gebrannt haben -- wie meinen? Brennen weiterhin? Seerettung bleibt verpönt? Pull-Faktoren sind inzwischen breit akzeptierte Volksweisheit, die in Abrede zu stellen nur Oppositionspolitikern und Amtsmüden einfiele? Hoppla.

  • Eine Verbesserung gegenüber Seehofer. Damals war es (unsere) "letzte Patrone", jetzt sind's anderer Leute "letzte Patronen" (wenn auch wir für sie einkaufen gehen).

    Wir sollten uns was schämen.