Flucht aus Kiewer Vororten: Eine fast unmögliche Rettung

Im ukrainischen Irpin toben erbitterte Kämpfe, tausende Menschen versuchen sich in die Hauptstadt zu retten. Doch auch dort schlagen Raketen ein.

Ein großes Loch klafft in einer Autobahnbrücke. Darunter steht große Gruppe an Menschen.

Von der Brücke über den Fluss Irpin sind nur noch Trümmer übrig Foto: Emilio Morenatti/ap

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KIEW taz | Ein schrecklicher Lärm ist zu hören. Es tobt ein erbitterter Kampf. Eine riesige schwarze Rauchwolke steigt am Himmel auf. Gerade sind fünf oder sechs Geschosse in ein mehrstöckiges Wohnhaus eingeschlagen, das die ukrainischen und die russischen Kämpfer wie ein Schutzschild voneinander getrennt hatte. Wir sind in der Stadt Irpin, einem Vorort etwa 10 Kilometer von Kiew entfernt. Die Zufahrtsstraßen sind geschlossen, nur Kleinbusse fahren noch mit hoher Geschwindigkeit hin und her. Die Rettung der Einwohner, von denen noch einige zehntausend in der Stadt ausharren, hat begonnen.

Bis zu dem russischen Großangriff auf die Ukraine galt die kleine Stadt Irpin als besonders attraktiv für junge Familien. Ganz in der Nähe von Kiew, aber umgeben von Wäldern und herrlicher Natur, mit Wohnungspreisen deutlich niedriger als in der ukrainischen Hauptstadt. Darum sind hier in den letzten Jahren viele moderne Wohnkomplexe entstanden. Doch nach einer Woche Krieg sind davon jetzt nur noch Ruinen übrig.

Nikolai, der gerade seine Familie aus der Stadt herausholt, erzählt: „Wir haben sehr hart gearbeitet, um uns in Irpin eine Wohnung kaufen zu können. Eine eigene Wohnung war immer unser Traum. Und nun verlieren wir all das, wovon wir geträumt hatten. Außer dem, was wir jetzt mitnehmen konnten, besitzen wir nichts mehr.“ Und solche wie Nikolai gibt es zu Tausenden unter denen, die jetzt in einer endlosen Schlange auf ihre Evakuierung warten.

Kaum hatte die russische Offensive auf die Kiewer Vororte begonnen, sprengte das ukrainische Militär die Brücke über dem Fluss zwischen Kiew und Irpin. Das war eine taktische Überlegung, um die feindlichen Panzer am weiteren Vorrücken zu hindern. Aber damit wurde gleichzeitig auch die Evakuierung der Zivilbevölkerung erschwert. Tausende Menschen hatten versucht, in wilder Panik die Brücke zu erreichen und so die Stadt zu verlassen – während zur gleichen Zeit die Raketen über ihre Köpfe flogen. Jetzt bleiben ihnen nur die Brücken­trümmer, um den Fluss Irpin zu überqueren.

Nicht das Gefühl, in Sicherheit zu sein

Unter den fliehenden Menschen sind auch Kleinkinder, die pausenlos weinen, weil sie sich vor dem Lärm am Himmel erschrecken. Noch erschrockener sind die alten Menschen, die sich kaum noch bewegen können. Ukrainische Soldaten und Freiwillige tragen eine hochbetagte Frau auf einer Decke über den Fluss. Sie hält ihren Gehstock fest umklammert, die Augen geschlossen, ihr Gesicht ist völlig ausdruckslos. Einen Augenblick scheint es, als ob sie gar nicht mehr lebt.

Tausende Menschen suchen unter den Trümmern der zerstörten Brücke Schutz vor den Luftangriffen, während sie auf ihre Rettung warten. Auf der anderen Seite des Flusses werden die Menschen in kleine Busse verladen. Sie sind fensterlos, bis zum Krieg wurden darin Waren transportiert. Jetzt evakuieren die mutigen freiwilligen Fahrer unter Raketenbeschuss Menschen damit. Sobald der Transporter 500 Meter von der Brücke entfernt in Sicherheit ist, steigen die Menschen in Autobusse um und fahren weiter nach Kiew.

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Auf einem der Busse steht mit roter Schrift „Kinder. Menschen. Freiwillige“. Aus den stockdunklen Transportern steigen verstörte weinende Frauen, Kinder und alte Menschen aus. Das fortwährende Donnern der Raketen gibt ihnen nicht das Gefühl, schon in Sicherheit zu sein. Alle, die noch selber laufen können, rennen zu den bereitstehenden Autobussen. Menschen in Rollstühlen warten darauf, dass man sie dorthin trägt.

Ein älteres Ehepaar, das es nicht in so einen Kleintransporter geschafft hatte, geht zu Fuß von der Brücke zum nächsten Checkpoint, wo die Evakuierungsbusse stehen. Als die Frau nur noch sehr langsam laufen kann, verlassen den Mann die letzten Kräfte und er fällt mitten auf der Straße um. Ein Soldat und ein Freiwilliger rennen auf ihn zu, um den Mann von dem offenen Platz fortzubringen, wo in jedem Augenblick ein Geschoss einschlagen kann. Sie packen ihn unter den Armen und zerren ihn weg. Nach etwa 200 lebensrettenden Metern kniet sich der alte Mann einfach auf die Straße und versucht, ­wieder zu Kräften zu kommen. Er schweigt. Seine Frau steht unter Schock. Sie lehnt jede Hilfe ab.

Als bei Einbruch der Dämmerung die Kampfhandlungen zunehmen, geht die Rettung langsamer voran. Diejenigen, die es heute nicht mehr aus der Stadt heraus geschafft haben, werden es morgen wieder versuchen.

Dmitri, der ursprünglich von der Krim stammt, ist nach der russischen Annexion der Halbinsel 2014 mit seiner Familie nach Irpin gekommen. Als die Invasion begann, hatte er zunächst seine Frau und sein Kind in Sicherheit gebracht und dann selber eine Freiwilligengruppe in Irpin zusammengestellt. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen organisierten einige von ihnen Hilfe für diejenigen, die in der Stadt geblieben waren. Andere halfen bei der Evakuierung. Am Samstag wurde ein Transporter, der mit einem roten Kreuz gekennzeichnet war, angegriffen. Der Fahrer des Rettungsfahrzeuges wurde an der Hüfte verletzt. Alle blieben am Leben, aber die Hilfe für die Bevölkerung wurde erschwert.

Am Sonntag ging die Hilfe für die Menschen aus Irpin weiter, aber die Intensität der Gefechte nahm zu. Keine Waffenruhe, keine grünen Korridore zur Evakuierung der Bevölkerung, keine Zugeständnisse des russischen Militärs; es setzte die ­Angriffe auf Kiew fort. Vor den Augen von Journalisten schlug eine Rakete in einer der Hauptstraßen von Kiew ein, auf der Menschen zu einem Evakuierungspunkt rannten. Mehrere Menschen kamen dabei ums Leben.

„Sie vernichten uns“, sagt leise ein alter Mann, dem es gelang, aus der Stadt zu entkommen

Der Journalist Andrei Dubtschak, der dieses Ereignis filmte, sagte: „Die russische Armee greift gezielt die Zivilbevölkerung an, die versucht, aus Irpin fortzukommen. Das ist eine dokumentierte Tatsache. Vor meinen Augen starben eine Frau, ein Junge und ein Mädchen im Teenager-Alter. Offenbar handelte es sich um eine Familie.“ In seinem Video ist zu sehen, wie ihre Koffer in alle Richtungen fliegen und nur ein Käfig mit einem Haustier auf der Straße stehen bleibt.

„Sie vernichten uns“, sagt leise ein alter Mann, dem es gelungen ist, aus der beschossenen Stadt zu entkommen.

Die Menschen haben alles hinter sich gelassen, sie konnten nur ihr Leben retten. Sie wissen nicht, wohin die Evakuierungsbusse sie bringen und wo sie die kommende Nacht verbringen werden. Genauso wenig, wie sie wissen, wann sie nach Hause zurückkönnen und ob von diesem Zuhause überhaupt noch etwas vorhanden ist. Doch egal, was vor ihnen liegt, sie sind dem Tod entkommen, und das ist vielleicht das Einzige, worüber sie sich in diesem hoffnungs­losen Albtraum freuen können.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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