Film „Armand“ mit Renate Reinsve: Bereit, den Boden unter den Füßen zu verlieren
Der Regisseur Halfdan Ullmann Tøndel kreist in seinem Debütfilm „Armand“ um das Unaussprechliche. Er zeigt einen Elternabend der Entladungen.
So viel vorweg: Nur ein einziges Mal wird der sechsjährige Armand in Halfdan Ullmann Tøndels Film vor die Kamera treten – schlafend, unschuldig. Das Kind, um das es im Debütfilm des Enkels von Liv Ullmann und Ingmar Bergman geht, ist eine Leerstelle, ein Platzhalter, eine Projektionsfläche.
Dabei ist das Gewese um seine Person nicht gerade klein: Gleich in der ersten Szene von „Armand“ sieht man Mutter Elisabeth (Renate Reinsve) durch norwegische Wälder Richtung Schule rasen. Agilität und Stress sprechen aus den Bildern, Schweiß glänzt auf Elisabeths Stirn, der gemeinsam mit ihren riesigen Strassohringen um die Wette glitzert.
Wüsste man nicht, dass sich Tøndel gerade auf dem Weg in ein Kammerspiel befindet, könnte man glauben, man wäre in ein Actiondrama geraten. Oder in einen Horrorfilm: Denn kurz darauf baut sich schon jene Schule auf, in der es zum Vorfall um Armand gekommen sein soll. Ein imposant eingefangenes, Unheil verkündendes Gebäude, ein Spukschloss samt blutrot gefliester Bäder und einem Feueralarm, der sich andauernd von selbst anstellt.
Aber was ist eigentlich passiert? Das nach viel verdruckstem Geplänkel und mit hörbarem Unwohlsein vorgetragene Protokoll schildert Folgendes: Armand soll den gleichaltrigen Jon (auch er bleibt lediglich Name) auf einer Schultoilette sexuell bedrängt haben. Für derart junge Kinder untypische Wörter wie „ficken“ und „anal“ seien gefallen, im Anschluss habe Jon ein verkratztes Gesicht und blaue Flecken aufgewiesen. So weit, so beklemmend. Doch hat das Szenario wirklich stattgefunden?
„Armand“. Regie: Halfdan Ullmann Tøndel. Mit Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen u.a. Norwegen/Niederlande/Deutschland/Schweden 2024, 116 Min.
Davon gehen die Eltern des Opfers, Sarah (Ellen Dorrit Petersen) und Anders (Endre Hellestveit) jedenfalls aus. Teils bekümmert, teils kampfbereit hocken sie im Klassenzimmer und warten auf Elisabeth, Schauspielerin inmitten einer Lebenskrise, die von all dem erst jetzt erfährt. Pikant: Elisabeth und Sarah waren bis vor Kurzem Freundinnen, Jon verkehrte regelmäßig in Elisabeths und Armands Wohnung, einem Ort, den Sarah nun als „Hölle“ bezeichnet.
Wie Uneindeutiges umgedeutet wird
Und noch ein weiteres Phantom, quasi ein dritter Junge, setzt sich zwischen die aufgeriebenen Erwachsenen: Thomas. Sarahs Bruder und Elisabeths Mann, Vater von Armand, tot. Er starrt uns als Kindergesicht entgegen, eines von Hunderten, die, eingefasst in Bilderrahmen, im Schulflur hängen. Sein Geist ruft für alle Beteiligten andere Assoziationen, Erinnerungen hervor. Kurz: Es ist kompliziert. Und keineswegs ist Halfdan Ullmann Tøndel daran interessiert, es leichter zu machen, im Gegenteil.
Denn nicht nur wirft er die tatsächlich brisante Frage auf, wie mit Aussagen von Kindern zu verfahren sei („Die Jagd“ von Thomas Vinterberg illustrierte einst eine regelrechte Abwärtsspirale) – er will auch herausfinden, warum und wie Uneindeutiges für eigene Agenden missbraucht und umgedeutet wird. Als Instrument wählt er das Bild, den Affekt, und weniger, wie sonst üblich, das Wort. Man könnte sagen: „Armand“ steht unter dem Bann des inneren Furors.
Dafür geizt Tøndel nicht mit filmischen Gesten. Metaphorisches wird ausgereizt, Räume verschieden künstlich ausgeleuchtet, früher oder später verlieren hier alle die Fassung. Als norwegische Variante von „Das Lehrerzimmer“ gehandelt, baut Tøndel das Konstrukt Schule zur Bühne um. Eine, die sich drehen kann, wo auch Backstage die Kameras lauern, und, man glaubt es kaum, sogar getanzt wird.
Das psychische Auseinanderbrechen der Protagonisten
Analytisch und sachgebunden wie bei İlker Çatak ist es eigentlich nur, wenn Schulpersonal und Eltern sich selbst inszenieren – zur vernünftigen Aussprache unter Erwachsenen. Ein Setting, an das nicht einmal Schulleiter Jarle (Øystein Røger) zu glauben scheint. Nervös sitzen er, Nachwuchslehrerin Sunna (Thea Lambrechts Vaulen) und die unter ständigem Nasenbluten leidende Ajsa (Vera Veljovic) vor den Vormündern. Lange halten sie es nie miteinander aus, trotzdem wird jenes dunkle Klassenzimmer zum Anker eines Films, der das psychische Auseinanderbrechen seiner Protagonisten sichtbar machen will.
Letzteres geschieht vor allem in unabgeschlossenen Räumen und auf dämmrigen Fluren. Hier diffundieren die Emotionen, und Tøndel beobachtet sie gern. Sie gerinnen etwa zu Tänzen, die Elisabeth mit einer Putzkraft spontan vollführt, und die ein wenig an expressivere Momente ihrer Rolle der Julie in Joachim Triers „Der schlimmste Mensch der Welt“ erinnern. Sowieso labt sich Halfdan Ullmann Tøndel am körperlichen, blitzschnellen und trotzdem trägen Spiel Reinsves, inszeniert eine Fragilität, die doch gleichzeitig einen sehr festen Stand besitzt.
Andere lassen indes in bläulich schimmerndem Licht ihre Masken fallen, alte Wunden brechen auf, es gibt Geheimnisse, die man auch vor sich selbst bewahren möchte. „Armand“ spielt mit diesen tieferen Lagen, rückt sie ins Zentrum und ist sich auch nicht zu schade, sie gelegentlich etwas zu plakativ in Szene zu setzen. Bereits in Tøndels Kurzfilm „Fanny“ (2018) war eine junge Frau mit alten Traumata konfrontiert, wobei diese nie konkret benannt wurden. Im entscheidenden Moment verlor Fanny die Sprache, Wut machte sich stattdessen breit, Verzweiflung.
Ein Nachmittag, der kein Ende findet
Auch „Armand“ kreist ums Unaussprechliche, Unerträgliche. Wobei selten klar wird, wie schlimm es wirklich um den Einzelnen steht. Alle übersteuern, werden heimgesucht, auch wenn es sich dabei vielleicht nur um den eigenen professionellen Anspruch einer Konfliktlösung handelt, die sich mit Unvermögen paart.
Der Nachmittag in der Schule zumindest findet kein Ende. Immerfort müssen alle aufstehen, Pause machen, Heimlichkeiten austauschen, über die Flure gleiten. Dem beizuwohnen, bereitet durchaus Vergnügen – Tøndels verflochtene Melange aus Horror, Sozialdrama, Komödie und Satire steigert sich bisweilen aber auch ins Absurde.
Empfohlener externer Inhalt
Trailer „Armand“
Diese Regie möchte alles fasslich werden lassen und dabei trotzdem geheimnisvoll bleiben. Sie schenkt Aufklärung und gefällt sich gleichzeitig im Unklaren. Es ist ein künstlich-künstlerischer Zustand, für den Halfdan Ullmann Tøndel in Cannes mit der Caméra d’Or ausgezeichnet wurde, dem Preis für das beste Debüt. Und tatsächlich gelingt es ihm immer wieder, ein knallhartes Thema mit einer ästhetischen Ambition zu verbinden. „Armand“ möchte mehr sein als Schuldrama mit messerscharfem Dialog. Er ist bereit, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Das ist kein kleines Ansinnen, es kommt mit einer gewissen Fallhöhe. Wie Elisabeths zehnminütiger, unkontrollierbarer Lachanfall, während dem ihr irgendwann die Spucke in Fäden aus dem Mund läuft. Oder Sarahs bestialische Geste in Richtung ihres Gatten, bei der sich etwas Dämonisches offenbart, sodass einem wirklich für einen Moment angst und bange wird.
Es sind Entladungen, die Kameramann Pål Ulvik Rokseth nahezu schlafwandlerisch aufnimmt. Wie eine unsichtbare dritte Instanz bewegt sie sich selbstständig, passt sich Tempo und Energie aller an, die sie ins Visier nimmt. Eine Methode, die auch für die Willkür steht, um die es in „Armand“ ebenfalls geht: Je nachdem, worauf man seinen Fokus richtet, stellen sich die Dinge unterschiedlich dar, gelangt man zu anderen Schlüssen und Standpunkten. Oder wie Tøndel es selbst in einem Interview formuliert: „Jeder hat seine Geschichte. Wem wollen wir glauben?“
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